30.09.2012

Ein lebenslanges Ringen um die Freiheit

Buchbesprechung: Silvia Gordan: „Zu wem so laut das Schicksal spricht...“ Books on Demand, 2012 (300 S. 19,90 €). | Bestellen.

Veröffentlicht im Goetheanum Nr. 48/2012 vom 1.12.2012.


„Von jetzt an war für mich deutlich zu spüren, dass bei mir alles ‚anders’ und ‚besonders’ war.“

In diesen Worten liegt ein zentrales, sehr frühes Kindheitserlebnis einer tief bewegenden Biographie: Aufgewachsen in der DDR, aber nicht nur in räumlicher oder weltanschaulicher Unfreiheit, sondern auch gefesselt an einen nahezu völlig gelähmten Körper ... und bis auf kurze Unterbrechungen an ein Leben in verschiedenen Heimen. – Was all dies bedeutete, welche Erlebnisse mit einem solchen Schicksal durchgemacht wurden, das wird in sehr berührender Unmittelbarkeit erlebbar, wenn man in dieses Buch eintaucht.

Es ist, als säße man neben Silvia Gordan und lausche ihren Worten. Ihre Erinnerungen werden gleichsam Gegenwart, wenn sie mit feiner Beobachtungsgabe aus ihrem Leben erzählt – von der Atmosphäre und dem Alltag im „Roten Haus“, mitten in einem einsamen Waldgebiet, wo „solche Kinder“ vor der übrigen Zivilisation versteckt wurden; von der Art, wie sie von den Erzieherinnen behandelt wurde; den Erlebnissen der Fremdbestimmung, der Ohnmacht, der Verzweiflung; ihrem Kampf um ein selbstbestimmtes Leben...

Diese außergewöhnliche Biographie ist ein bedeutsames Zeitzeugnis. Wir können uns kaum noch eine Vorstellung davon machen, wie wenig behinderte Menschen noch in den 60er Jahren (zumal in der DDR) wahrhaft in ihrer Individualität gesehen wurden, wie sehr allzu oft jedes Freiheitsstreben nur als störend und unangemessen galt. – Aber auch nach 1989 hatte Silvia Gordan noch einen sehr langen Weg mit mehreren Rückschlägen und menschlichen Enttäuschungen durchzumachen, bis ihr dasjenige selbstbestimmte, menschenwürdige Leben möglich wurde, das sie von Kindheit an ersehnt hatte.

Diese Biographie ist auch das Dokument eines geistigen Ringens. Letztlich ist die Biographie jedes Menschen ein spirituelles Zeugnis eines ringenden, individuellen Geistes. Doch deutlicher als sonst offenbaren sich in dieser Biographie die massiven Beschränkungen und Prüfungen des Schicksals, deutlicher aber auch das Ringen der menschlichen Individualität um die Freiheit, um Erkenntnis und innere Entwicklung. Auf ihrem Lebensweg kommt Silvia Gordan auch zu unmittelbar spirituellen Fragen – und dieser Weg führt sie auch zu Antworten.

Individuelles Schicksal, tiefste allgemein menschliche Fragen, die Geschichte des Umgangs mit behinderten Menschen und die allgemeine Zeitgeschichte (ihre Großeltern und ihr Vater führten das sehr bekannte Dürer-Haus in Potsdam, die Schwester der Großmutter hatte mit dem Sozialreformer Silvio Gesell zwei Töchter) – all dies fließt in Silvia Gordans Buch zusammen und verdient viele Leser, die an einem außergewöhnlichen Schicksal Anteil nehmen dürfen.