18.12.2012

Sehnsucht nach Wahrheit – ein erschütterndes Schüler-Projekt

Buchbesprechung: Christa Maria Bauermeister (Hg.): Sehnsucht nach Wahrheit. 55 Interviews der Alfelder Initiative „Geld und Leben“. Leinebergland Druck GmbH, 2012. | ausführliche Übersicht zu den Interviews | versandkostenfrei bestellen. | Kurzfassung dieser Besprechung


Inhalt

Ein erschütterndes Projekt
Die menschliche Not
Am bitteren unteren Ende
Die kalte Logik unseres Systems und die Liebe zur Erde
Das „Demokratie“-Märchen, Desintegration und Gewalt
Von der notwendigen Selbstverwaltung des Bildungswesens
Die Essenz einer menschlichen Gesellschaft


Ein erschütterndes Projekt

Als ich auf einer Tagung für solidarische Ökonomie miterlebte, wie die Lehrerin Christa Bauermeister ein durch ein Schülerprojekt entstandenes Buch vorstellte, wusste ich unmittelbar: Dieses Buch musst du lesen.

Der Titel des Buches war „Sehnsucht nach Wahrheit“. Das Projekt, das die Schülerinnen und Schüler in dem Jahr vor ihrem Abitur mit großem Enthusiasmus durchgeführt hatten, waren Interviews – Gespräche mit Menschen aus allen Berufsgruppen unserer Gesellschaft: Krankenschwestern, Landwirte...

Was aber nun das tief Berührende daran war – und was diese engagierte Lehrerin voller Begeisterung schilderte –, das war die Tatsache, dass die befragten Menschen den Schülern ihr Herz öffneten. Unter der Zusicherung, dass die Gespräche auf Wunsch anonym bleiben würden, sprachen die Menschen über die wirkliche Realität: Sie erzählten von den seelischen Verletzungen der heutigen Berufswelt, von der tiefen Menschenfeindlichkeit dieser Welt unter der Herrschaft von Kostendruck und Zeitmangel.

Eine Krankenschwester erzählte, dass sie manchmal denkt: „Den Patienten sprech ich lieber nicht an. Der hat Tränen in den Augen, und das kostet mich dann wieder zehn bis fünfzehn Minuten, und die habe ich ja einfach nicht.“ (S. 90) Und abends sitzt man dann auf dem Sofa und fragt sich: Was habe ich heute nur getan?

Die heutige Arbeitswelt treibt dem Menschen mit Gewalt die Seele aus. Sie verhindert mit aller Macht, dass sich diese Seele in der Arbeit geltend machen kann. Sie verhindert Begegnung zwischen den Menschen. Was für eine erschütternde Realität dadurch entsteht – ein reales Vakuum an Menschlichkeit –, das macht dieser Sammelband in seinem ersten Teil so deutlich, dass man wirklich nur sagen kann: Was für ein Monstrum haben wir als heutige „kapitalistische Gesellschaft“ geschaffen? Die ganze Menschheit müsste doch innehalten, sich besinnen, für einige Zeit wirklich in eine Art „inneres Kloster“ gehen und noch einmal ganz neu überlegen, in welcher Welt wir alle – ohne jede Ausnahme – eigentlich leben wollen.

Diese tiefe Erschütterung und Sehnsucht nach Besinnung anzuregen, ist das große, gar nicht zu überschätzende Verdienst dieses Buches.

Es bleibt nur zu hoffen, dass die jungen Menschen, die diese Gespräche führen konnten, nun erst recht mit einem brennenden Impuls ins Leben gehen, der machtvollen, kaum fasslichen Herrschaft des Rendite- und Zeitdrucks entgegenzutreten... Und es ist diesem Buch zu wünschen, dass es viele, viele, viele Leser und Herzen gewinnt!

Erschütternd ist jedoch noch eine andere Realität. Christa Baumeister wurde an ihrer Schule in keiner Weise unterstützt. Der Schuldirektor distanzierte sich in aller Form von dem Projekt und betonte, dass es sich nicht um eine Schulveranstaltung handelte – die Schüler investierten kurz vor ihrem Abitur ihre Freizeit in dieses Projekt! Es gab innerhalb der Schule massive Widerstände gegen Christa Baumeister.

Hätte das Projekt nicht schließlich die Unterstützung des Bürgermeisters von Alfeld erhalten, hätte es vielleicht ein trauriges Ende nehmen können. Christa Baumeister hatte das Glück, nach dem Projekt (auf eigenen Antrag) an eine andere Schule versetzt zu werden. Man kann ihr nur wünschen, dass ihre neue Schule eine so mutige, begeisternde Pädagogin mehr zu schätzen weiß! Unsere Welt braucht dringend solche Menschen wie Christa Baumeister und ihre Schülerinnen und Schüler. Und dieses Projekt braucht viele Menschen, die es bekannt machen und seinem Vorbild folgen wollen. Sehnsucht nach Wahrheit...

Die menschliche Not 

Wie ein Urbild stößt man auf Seite 87 des Buches auf eine Zeichnung einer Schülerin, die eine ungeheure innere Ausstrahlung hat. Wenn man dann den Untertitel des Bildes liest, kann es wie ein Schock über einen kommen. Das Bild zeigt eine Engelsgestalt, sitzend, behutsam eine Kugel haltend, die ihr anvertraut scheint. Leuchtend hebt sich die Gestalt mit ihren mächtigen Flügeln und ihrem bis auf den Boden reichenden Kleid von dem dunklen Hintergrund ab. Majestätische Ruhe und Zuwendung, aber zugleich Trauer ist es, was dieser Engel ausstrahlt. Auf sein Kleid und seine Flügel sind Worte geschrieben. „Mitgefühl“, immer wiederkehrend. Und dann liest man den Untertitel: Krankenhausengel unter Renditedruck...!

Wir könnten von unserem Wahn geheilt werden, wenn wir ein solches Bild tief und lange in unsere Seele durchdringen lassen würden! Selbst die Engel weinen, weil wir sogar in Krankenhäusern und Kliniken statt Mitgefühl das Gegenteil finden: Zeit- und Renditedruck, der Patient ist nicht Mensch, sondern Kostenpauschale...

Eine ehemalige Krankenpflegehelferin, die häuslich-ambulant tätig war, erzählt von Vorgaben, dass ein Patient in acht Minuten angezogen zu sein habe. Die Zeit für eine Injektion war so knapp bemessen, „dass ich noch nicht einmal den Mantel ausziehen konnte, keine Zeit für ein gutes Wort, Zuhören.“ (S. 77).

Eine Ärztin berichtet über die allgemeine Situation in den Kliniken: „Das Krankenhaus funktioniert schon seit langem nur noch durch Selbstausbeutung der Pflege und Ärzte, die die Patienten nicht unversorgt im Stich lassen können. Das weiß und nutzt jeder Arbeitgeber.“ (S. 81).

Wo lernt man dies? Nicht in der Schule! Fast jeder Mensch geht doch zunächst davon aus, dass ihm im Krankenhaus wirklich geholfen wird, dass man Zeit für ihn haben wird, in der Situation der größten Hilfsbedürftigkeit. Wer selbst schon einmal im Krankenhaus war, hat dann oft ganz andere Erfahrungen machen können – und es gibt wahre Schauergeschichten. Viele Menschen geben ihr Bestes, aber sie können gegen den Stress, die Abstumpfung, den Renditedruck, den Zeitmangel und vieles andere auch nicht dauerhaft besiegen...

Nach einem Herzinfarkt gab es früher drei Wochen strikte Bettruhe, heute wird man schon nach einer Woche „in die Häuslichkeit“ entlassen! Man kann sich nicht mehr ans Bett des Patienten setzen, man kann sich nicht einmal mehr um Kollegen kümmern. Wenn Patienten – erwachsen oder noch sehr jung – gestorben sind, hat man keine Zeit, dies zu verarbeiten, die nächsten Aufgaben warten schon, im Minutentakt...

Am bitteren unteren Ende

Ein ALG-II-Empfänger („Hartz IV“) erzählt von entwürdigenden „Qualifizierungsmaßnahmen“, für die die jeweiligen „Maßnahmenträger“ von der „Agentur für Arbeit“ monatlich 1.000 Euro pro Teilnehmer kassieren. Im Grunde sollte er dort – trotz sehr guter PC-Kenntnisse – lernen, wie man einen PC bedient:

„Das waren unmotivierte Dozenten, die selbst keine Lust auf ihre Tätigkeit hatten. Hier und dort wurde mal eine kleine Excel-Tabelle per Beamer an die Wand gestrahlt, dann mal ein kleiner Serienbrief in Word, das war eigentlich schon das höchste aller Gefühle. Der Rest war sinnfreies Herumsitzen oder entwürdigende Intelligenztests für die Teilnehmer, die aus allen Berufen, aus jedem Alter und mit unterschiedlichsten Qualifikationen willkürlich zusammengewürfelt waren.“ (S. 99).


Was für eine Vernichtung von Menschenwürde und individuellem Potential im tiefsten Sinne!

Ein anderer Mensch in der gleichen Notlage erzählt, wie eigentlich nicht einmal mehr das Geld für ein Haustier bleibt, wie man Freunde verliert, weil diese nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen (!) und so weiter:

„Soll ich meine Katzen einschläfern (...)? Das sind die Wesen, die mich die letzten Jahre begleitet haben. Ich kann die nicht einfach weggeben, aber das wird so einfach von oben gesagt. Wie ungerecht es in diesem Bereich zugeht, kann nur jemand verstehen, der Hartz IV bekommen hat. Ich habe es vorher selbst nicht verstanden.“ (S. 109).


Dieser Mann hat sich bei 380 Stellen beworben – ohne jeden Erfolg. Aus nahezu jeder gesellschaftlichen Teilhabe ausgestoßen, kommen solche Menschen zu einer tiefen Bescheidenheit. Nachdem dieser Mann letztendlich eine menschenunwürdig bezahlte Arbeit gefunden hatte (7,26 Euro pro Stunde brutto), sagt er:

„Ich kann mir jetzt Kleinigkeiten erlauben. Ich kann mal in die Stadt gehen und einen Kaffee trinken. Und allein das zu können, ist für mich schon beglückend. (...) Jetzt weiß ich, wie wichtig es ist, wenn man einfach ein paar Euro über hat, um sich mal eine Scheibe Brot oder Ähnliches zu gönnen, man also wirklich das Wesentliche bekommt.“ (S. 115f).


Reißt nicht schon diese eine einzige Aussage unserem kapitalistischen System mit seinen ganzen Versprechungen jeden Lügenschleier herunter? Wo ist der Wohlstand dieses Systems, wenn er auf einer solchen Ausbeutung ungezählter Menschen basiert!? Dieser Mann muss fast 60 Stunden in der Woche arbeiten, um im Monat auf 1.000 Euro zu kommen!

Unglaublich wirklichkeitsfremd und menschlich absolut blind wirken dann wieder die phrasenhaften Worte einer interviewten Politikerin, der CDU-Stadtverbandsvorsitzenden: „Jeder, der in Hartz IV lebt, sollte sich darüber im Klaren sein, dass es wirklich nur eine Brücke sein kann und dass alles getan werden muss, um wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen.“ (S. 197). 

Die kalte Logik unseres Systems und die Liebe zur Erde

Die Schüler fanden weitere Menschen, die von einer Bank unwissentlich in riskante Geldgeschäfte gedrängt wurden, obwohl sie nichts anderes als eine sichere Anlage suchten, bzw. die als Bankangestellte „von der anderen Seite“ anonym über solche Praktiken berichteten. Diese Angestellte erlebte von innen, wie „Beratung“ nicht neutral ist, sondern bankinterne Quoten zu erfüllen hat. Sie selbst blieb lieber Sachbearbeiterin: „ich möchte nachts noch ruhig schlafen können.“ (S. 161).

Ein ebenfalls anonymer Mitarbeiter eines Konzerns entlarvt die ganze Logik der „Globalisierung“, als er schildert, dass es Vorgaben gibt, jährlich mehr zu leisten und zugleich Personal abzubauen. Dies ist nicht allein auf den Druck der „Billigarbeit“ im Ausland zurückzuführen, sondern: „Wenn ich mit meinen Kollegen in Indien rede, dann erzählen die mir, dass sie dem gleichen Druck standhalten müssen.“ (S. 291).

Wo ist das Ende dieses „rat race“, dieses Rattenrennen, dieses Wettrennens um immer mehr Leistung bei immer weniger Lohn? Wir leben jetzt schon in einer wirklichen Sklaverei, die sich, bis auf verbesserte Hygieneverhältnisse und etwas mehr „Wohlstand“, oft in Nichts von frühkapitalistischen Verhältnissen unterscheidet – und der Druck wächst noch immer weiter. Heute soll ein Konzernmitarbeiter 175.000 Euro im Jahr erwirtschaften. Welchen Bruchteil erhält er selbst davon? Früher, so berichtet dieser Mann, hatte man auch mal „danke“ gesagt und ein Lob bekommen – heute sind „sehr gute Leistungen“ der erwartete Normalfall. Dieses Interview schließt mit zwei sehr existentiell-menschheitlich zu verstehenden Sätzen:

„Doch irgendwann haben wir einen Punkt erreicht, wo es einfach nicht mehr weiter geht. Was wir tun, geht eigentlich nur noch rückwärts.“ (S. 300).


Ein gewerkschaftlich sehr aktiver Mensch, Henry Kirch, eines der „Gesichter“ Alfelds, erzählt im Interview, dass er den Bundeskanzler Gerhard Schröder persönlich sehr gut kannte und mit ihm „auf Du“ war. Als dieser jedoch mit seiner „Basta-Politik“ die Agenda 2010 und Hartz IV zur Realität machte, schrieb Henry Kirch ihm einen offenen Brief, der in allen regionalen Zeitungen veröffentlicht wurde:

„Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ich würde Ihnen empfehlen, die parlamentarische Demokratie abzuschaffen und die Monarchie wieder einzuführen.“ (S. 326).


Die Schüler interviewen Landwirte, die die Nöte eines Kleinbetriebes schildern: Ist man in Not, verweigern einem die Banken einen 30.000-Euro-Kredit, während große Agrarunternehmen in derselben Situation neue 300.000-Euro-Kredite bekommen. Hier hofft die Bank, größere (eigene) Verluste durch neue Großkredite doch noch irgendwie verhindern zu können, während sie bei den normalen, richtigen Landwirten knallhart ist (S. 379). Auf die Frage, warum man in solcher Situation überhaupt Landwirt wird, antwortet dieser Mann:

„Man überlegt sich nicht, jetzt bin ich alt genug, ich will jetzt Bauer werden. Das geht so nicht. Man wächst da rein, von klein auf, mit der Liebe zur Landwirtschaft, das Herz wächst daran.“ (S. 383).


Hätten mehr Menschen diese Liebe zu ihrer Arbeit, die als einzige zu einer echten Verantwortung für das Anvertraute führt, gäbe es auf allen Gebieten – nicht nur in der Arbeit an der Erde, nicht nur in Krankenhäusern – wirkliche Menschlichkeit und nicht Renditedruck... Doch das Schicksal unserer heutigen Gesellschaft ist, dass eine zu große und zu mächtige Anzahl von Menschen diesen Renditedruck täglich zur Realität macht, weil sie diese Liebe und damit die Menschlichkeit nicht kennengelernt oder nicht bewahrt hat. Renditedruck ist aber der unmittelbare Feind und Gegner von Verantwortung und von Liebe...

Das „Demokratie“-Märchen, Desintegration und Gewalt

Unsere Gesellschaft ist inzwischen innerlich so krank, dass die ungeheuren Krisensymptome weit in den Bildungsbereich und in das Familienleben hineinschlagen: Die Handelskammer Niedersachsen hat 2010 festgestellt dass über die Hälfte der Jugendlichen nicht ausbildungsfähig sind, wobei der Hauptgrund ein ungeheurer Mangel an sozialem Verhalten und Verantwortungsfähigkeit ist! (S. 397).

Die Schüler interviewten auch Christian Pfeiffer, den Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (Hannover ist nur 20 km von Alfeld entfernt), der neben dem Neurologen Manfred Spitzer die negativen Folgen starken Fernseh- und Computer-Konsums durch zahlreiche Studien erhärtet hat. Ebenso scharf äußert sich Pfeiffer aber auch in anderer Hinsicht – ein freier Denker, dessen klare Sicht auf die Dinge ein wohltuendes Licht in dem Sammelband wirft. Wenn doch mehr einflussreiche Menschen so klar sähen und auch handelten wie er!

„Die politische Kultur ist eine Oligarchie geworden, in den USA am deutlichsten. Die USA sind schon längst keine Demokratie mehr, wenn Sie das in der Schule lernen sollten. Das ist alles ein Märchen.“ (S. 491).


Aber auch hierzulande steht die Demokratie in vielerlei Hinsicht am Rande des Abgrundes. In den wichtigsten Fragen wissen die Abgeordneten überhaupt nicht, worüber genau sie abstimmen, die Konsequenzen der einzelnen Gesetzesvorlagen werden gar nicht erfasst:

„Ich bin mit vielen Abgeordneten aus unterschiedlichen Parteien befreundet. Was die mir über das Bundestagsgeschehen rund um die Eurokrise erzählen, ist nur zum Davonlaufen.“ (S. 492).


Und er berichtet von spannenden Details aus seinem Berufsalltag. Seit langem kämpft er darum, Gewalt an Kindern zu verhindern. 1992 hatte er mit Kollegen nach einer großen Bevölkerungsbefragung gezeigt, wie destruktiv das elterliche „Züchtigungsrecht“ wirkt. Er erhielt die Gelegenheit, im Bundestag zu sprechen, und schilderte, wie Gewalt wieder Gewalt hervorbringt. Die Politiker der CDU/FDP-Mehrheit zweifelten... Erst als Pfeiffer dann von einer anderen Studie berichtete, wonach unzählige alte Menschen von ihren Kindern geschlagen, erpresst usw. wurden, hatten die Politiker mit diesen Mitleid. Nun aber zeigte Pfeiffer, dass gerade diese Menschen ihre Kinder geschlagen hatten, und sagte: „Wenn Sie das elterliche Züchtigungsrecht abschaffen, öffnen Sie die Tür zu einem glücklicheren Leben für alte Menschen.“ Dies hat die Politiker dann überzeugt... (S. 497f).

Andere Forschungen Pfeiffers belegen, dass harte Richter die höchsten Rückfallquoten verursachen und die Gesellschaft einen hohen Preis kosten, während milde Richter deutlich mehr Erfolg hatten. (S. 502). Und weitere, in ihrem klaren Zusammenhang absolut staunenswerte Forschungen zeigen die ungeheure Bedeutung der Integration: In verschiedenen Städten wurden 10-jährige türkische Kinder befragt, ob sie schon mal von einem deutschen Kind zum Geburtstag eingeladen wurden. Die Spanne lag zwischen 90% in Oldenburg und 27% in Dortmund. Gleichzeitig hatte Dortmund die höchste Kinder- und Jugendkriminalität, die ausgeprägteste Machokultur türkischer Jugendlicher, während Oldenburg hier überall am besten abschnitt! (S. 507).

Von der notwendigen Selbstverwaltung des Bildungswesens

Pfeiffer sagt in klaren Worten, dass unser Schulsystem viel zu wenig Raum für Persönlichkeitsentwicklung, Bewegung und Kreativität gibt und „dass die einzige Rettung in einer radikalen Schulreform läge“ (S. 555). Er erzählt den Schülern, dass in Neuseeland, wo sein Sohn eine Auslandszeit hatte, die Lehrer ebenso viele Stunden wie hier unterrichten, dass sie davon aber bis zu sechs Stunden ihre Hobbys in die Schule hineintragen dürfen!

„Das Nachmittagsangebot war einfach traumhaft. Unser Sohn hat dort kostenlos Gitarre gelernt und eine Leidenschaft für Volleyball und für Theaterspielen entwickelt. Das wurde alles an dieser Schule angeboten. Als er zurückkam, hat er keine Minute mehr mit Computerspielen verbracht.“ (S. 565).


Wie kann eine solche radikale Schulreform verwirklicht werden? Nicht nur dieser eine Aspekt neuseeländischer Schulen, sondern viel mehr – was Schule erstmals zu einer Stätte wirklicher Menschenbildung werden ließe? Mit dieser Frage schließt der große Sammelband in gewisser Weise – ein Sammelband, der aus einer Schule hervorging, aber nicht aus dem Unterrichtsgeschehen (worauf der Schuldirektor distanziert ausdrücklich hinwies), sondern aus einer freien Initiative einer Lehrerin und ihrer SchülerInnen.

Die Antwort auf diese Frage gibt im Grunde Sören Rekel, Mitglied der Alfelder Jungsozialisten und Mitbegründer der Initiative „Geld und Leben“, aus der heraus das Buchprojekt entstand. Sören Rekel, der 2009 sein Abitur gemacht hat, sagt, auf die Frage, was er als Kanzler tun würde, unter anderem:

„Ich würde eine Selbstverwaltung für das Bildungssystem schaffen, die dann in allgemeinen Wahlen von Lehrern, Schülern und Eltern gemeinsam gewählt werden würde und über Lehrpläne und andere konkrete Dinge entscheidet (...)“


Die Selbstverwaltung des Bildungswesens würde den Ausweg aus der Katastrophe auf diesem Gebiet eröffnen. Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie und der Waldorfpädagogik, der biologisch-dynamischen Landwirtschaft, der anthroposophischen Medizin und vieler anderer Kulturimpulse, forderte schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts ein solches freies Geistesleben in völliger Selbstverwaltung. Die Waldorfschulen versuchen, diesen Impuls seit fast 100 Jahren zu verwirklichen – und waren in dieser Zeit Vorreiter einer Pädagogik, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Aus einer solchen in Selbstverwaltung gestalteten Pädagogik können Menschen hervorgehen, die durch ihre Kreativität und ihr frei ausgebildetes Menschentum heilende Impulse in unsere Gesellschaft hineintragen können. Gemeinsam können sie Antworten auf jene Fragen finden, die durch die in dem Band „Sehnsucht nach Wahrheit“ versammelten Interviews im Grunde gestellt werden – und die in der einen Frage kulminieren: Wie kommen wir zu einer wahrhaft menschlichen Welt?

Die Essenz einer menschlichen Gesellschaft

Rudolf Steiner gab Anregungen, die über seine bis heute revolutionären Gedanken einer Selbstverwaltung des Bildungswesens noch weit hinausgehen. Er zeigte, wie das Geistesleben (Kultur- und Bildungswesen), der Staat und das Wirtschaftsleben sich grundlegend entflechten müssten, um gerade dadurch wahrhaft heilsam zusammenwirken zu können. So, wie das Geistesleben der gesellschaftliche Bereich ist, in dem die volle Freiheit gelten müsste, so hätte sich der Staat auf das reine Rechtsgebiet zu konzentrieren, auf dem die Gleichheit gilt.

Wenn der Staat diesen zentralen Bereich ernst nähme, dann würde der Mittelpunkt aller Rechtssetzungen die Menschenwürde sein. Vor allen anderen Rechtsfragen wäre das Recht auf ein menschenwürdiges Leben substantiell zu füllen und zu sichern. Nähme der Staat diese Aufgabe ernst, würde er sich nicht in das Bildungswesen einmischen und ebenso wenig mit der Wirtschaft kokettieren („Bildungspolitik“ und „Wirtschaftspolitik“ wären Unworte, die eine Verirrung des Staatlichen bezeichnen), sondern er würde dafür sorgen, dass es keine menschenunwürdigen Hartz-IV-Sätze und keine menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen mehr gibt!

Warum kann der Souverän, das Volk, nicht entscheiden, was ein menschenwürdiges Einkommen und eine in unserer heutigen Zeit menschenwürdige Arbeitszeit wäre? Dies wäre dann der Rechtsrahmen, der vom Wirtschaftsleben zwingend zu erfüllen wäre. Zuerst die Menschenwürde, dann die Rendite – oder aber statt der Rendite: partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, zwischen Produzenten, Händlern und Konsumenten. Es geht nicht um die Rendite, sondern um das Ein- und Auskommen jedes Einzelnen. Das Wirtschaftsleben dient der materiellen Grundlage unseres Lebens! Arbeitet man hier nicht mehr Gegeneinander, sondern immer mehr Miteinander, kann sich mehr und mehr das verwirklichen, was das wahre Wesen eines dem Menschen dienenden Wirtschaftsleben ausmacht: die Brüderlichkeit.

In die Welt kommen kann das Neue nur durch Menschen, die das Neue wirklich denken können – und dies auch wagen. Diese Menschen brauchen die Freiheit, die wirklich notwendigen Bildungsprozesse zu entfalten und zu gestalten.

Es ist absolut not-wendig, Bildung im umfassenden Sinne noch einmal völlig neu, losgelöst von allen Vorgaben, zu besinnen, zu denken – und dann zu gestalten! Was macht Menschlichkeit aus? Diese Frage muss im Zentrum aller Überlegungen zu einer wahren Menschenbildung stehen. Wenn Menschen wirklich ihr wahres Menschentum voll ausbilden können, dann werden sie die gesellschaftlichen Strukturen „nach ihrem Bilde“ gestalten – und die Gesellschaft wird menschlich werden.

Ohne ein befreites, auf sich selbst gestelltes Bildungswesen wird man nie zu einer menschlichen Welt kommen. Die Lehrerin Christa Maria Bauermeister musste schon dieses eine einzige bewundernswerte Projekt gegen den Widerstand einer auf staatlichen Vorgaben und Angst basierenden Schulbürokratie durchsetzen. Die Schulleitung distanzierte sich, kaum ein Kollege unterstütze sie öffentlich, sie wurde sogar als „Kommunistin“ beschimpft und bat am Ende um ihre eigene Versetzung! Und dies in einem System, das angeblich der „Bildung“ dient! Ihre Schüler haben in diesem Projekt mit Sicherheit mehr vom Leben, über das Leben und für das Leben gelernt als in allen Schuljahren zuvor...

Möge das von Alfelder Schülern und ihrer Lehrerin zusammengestellte Buch „Sehnsucht nach Wahrheit“ ein starker Impuls zu vielen weiteren solcher Projekte und zu einer Befreiung der Schule zu ihrer wahren Aufgabe sein!