30.01.2001

Die Vorträge an der Berliner „Urania“ – einseitig und dilettantisch!

Den folgenden Brief schrieb ich am 29.1.2001 an den Vorstand der „Urania“, die regelmäßig zu verschiedensten Themen gut besuchte Vorträge veranstaltet – deren Qualität und „weltanschauliche“ Ausgewogenheit jedoch sehr zu wünschen lässt.


Sehr geehrte Frau Semler, sehr geehrte Herren,

ich möchte mich mit der Frage an Sie wenden, unter welchen Bedingungen und Umständen Rednern Gelegenheit zum Vortrag in der Urania gegeben wird. Ich würde sehr gerne einmal in der Urania sprechen, möchte Ihnen aber zunächst meine Eindrücke schildern. Ich besuche des öfteren Vorträge zu Themen, die Bereiche behandeln, welche die Grenzen der reinen Naturwissenschaft überschreiten (Fragen des Christentums, Gehirn und Bewußtsein, Reinkarnationsvor­stel­lungen etc.). Dabei fallen mir mehrere Dinge auf, die ich Ihnen ehrlich mitteilen möchte.

1. Viele Redner sind aus ihrem speziellen Arbeitsfeld heraus inhaltlich natürlich gut vorbereitet, aber kön­nen in keiner Weise einen frei gesprochenen Vortrag halten. Da bekommen Vertreter eines bestimmten Lebens- und Forschungsbe­rei­ches Gelegenheit, in der Urania zu sprechen, und müssen ihr Referat oft zu einem Drittel, zur Hälfte oder manchmal offensichtlich fast zur Gänze ihren Notizen entnehmen!

2. Die o.g. Themen sind ja solche, bei denen es letztlich um die Frage nach dem Wesen des Menschen geht. Der aller­größte Teil der Redner behandelt nur die sinnlich-wissenschaftliche, vermeintlich gesicherte Sei­te (kaum jemand deutet wenigstens wie Herr Dehn am 29.1. an, daß auch die sogenannte materialisti­sche Weltanschau­ung in genau gleicher Weise zunächst Glaubensfrage ist, wie andere). Insbesondere weil eben gerade diese Fragen das Wesen des Menschen, sein Selbstverständnis und damit auch sein ganzes Weltverhältnis und Welt­verhalten betreffen, wäre es doch entscheidend wichtig, diese Fragen ausgewogen von allen sich bietenden Blickwinkeln aus anzugehen.

Die philosophisch-geistige (und auch eine wahrhaft-spirituelle) Seite ist im Programm der Urania selten einmal ganz am Rande (bzw. gar nicht) vertreten. Bestimmte Fragen fallen aber gar nicht mehr in die Kom­pe­tenz der Naturwis­senschaft. Das reine Denken kann dagegen, ebenfalls von den Phänomenen ausgehend, mit möglichen Antworten sehr weit kommen. Es muß zunächst nur alles auch für möglich halten. Man sollte nicht das, was das Denken hervorbringt, wenn es sich in gewisse Richtungen bewegt, sogleich für irreale Spekulationen halten. Es ist das gleiche Denken, das auch Naturwissenschaftler gebrau­chen. Und viel zu oft sind sie es, die es für unkon­trollierte Spekulationen mißbrau­chen. In der Natur­wissenschaft gibt es zuviel Unerklärtes und Widersprüch­liches (je mehr man sich unbefangen damit be­faßt, um so mehr entdeckt man solches), als daß es gerechtfertigt ist, ihre de facto absolutistische Vorherrschaft nur noch zu untermauern.

3. Gerade die Redner zu o.g. Themen stellen oft die verschiedenen Theorien dar, die es gibt (oder auch nur solche, die sie bevorzugen), machen aber letztlich aus ihrer materialistischen Anschauung oder zumindest aus ihrem ausgeprägten Skeptizismus gegenüber allen anderen Sichtweisen kein Hehl und tun oft genug diese anderen Anschauungen als vor­wissenschaftliche Projektionen etc. ab.

4. Im Grunde fast noch schlimmer ist es, wenn viele Redner ihre Vorträge zu den genannten Fragen ohne jede innere Beteiligung halten. Es erscheint deutlich so, als hätten sie sich in ihrem Skeptizismus und "Ignorabimus" eingerichtet, als wäre ihnen aber gleichzeitig damit die Kraft verlorengegangen, diese Fragen überhaupt noch mit irgendwelchem Interesse zu verfolgen. Immer wieder läuft ein Vortrag auf das "Ergebnis" hinaus, dies oder jenes "gibt es nicht", und auf alle Zeiten, die mit den gleichen Fragen wirklich gerungen haben, sieht man gleichsam wie auf eine schöne Erinnerung an die verträumte, zwar lebensvolle, aber naive Kindheit des menschlichen Bewußtseins. Ich kann immer wieder nur staunen, wie selbst­verständlich und unhinterfragt die Theorien der Naturwissenschaft als ein zunächst möglicher von vielen verschie­de­nen Weltzugängen mit der Wirklichkeit gleichgesetzt werden.

Ich kann nur hoffen, daß Sie mein Anliegen und die angedeutete Problematik überhaupt in gewissem Maße teilen können.

Ich möchte meinen Wunsch und mein Angebot ausdrücken, über verschiedene Fragen von einem anderen Gesichtspunkt aus vorzutragen - von dem angedeuteten Gesichtspunkt aus, den das reine Denken annimmt, wenn es 1. völlig unbefangen an die Phänomene herangeht, 2. das geistige Wesen des Menschen (und damit auch sich selbst) ebenso ernst nimmt wie das sinnlich Wahrnehmbare und 3. alles Denkmögliche auch real für möglich hält, solange die Erfahrung nicht tatsächlich widerspricht.

Ich möchte gleich dazu sagen, daß für mich die Anregungen durch das Lebenswerk Rudolf Steiners von zen­traler Bedeutung sind. Was er in seinen Vorträgen und Büchern zu sagen hat, ist meiner Meinung nach mit den genannten drei Aspekten genau charakterisiert. Hinzu kommt nun ja noch - wie wahrscheinlich bekannt -, daß Steiner seiner Schilderung nach Ergebnisse der eigenen übersinnlichen Forschung wiedergibt. Man mag sich dazu stellen, wie man will. Den meisten Menschen, die dies von vornherein als unmöglich abtun, ist, glaube ich, vor allem die Vorstellung unbequem, daß es dies (die Tatsache und das, was Steiner schildert) geben könnte. In jedem Fall ist das, was Steiner schildert, so ausführlich, detailliert, auch erhebend, plausibel, ernsthaft und in der Lebenspraxis fruchtbar (Medizin, Landwirtschaft, Pädagogik, Soziales, Religion und viele andere Gebiete), daß es ganz objektiv - erstaunlich ist.

Mit der Anthroposophie beschäftige ich mich seit vier Jahren intensiv. Ich bin vielseitig interessiert und abgesehen von meiner naturwissen­schaft­lichen Vorbildung (Biologiestudium) verfolge ich ebenso interessiert den aktuellen Verlauf der Forschung, insbesondere in der Biologie.

Ich möchte von mir aus einige mögliche Themen vorschlagen, die sich für Vorträge anbieten könnten:

- Was ist Wirklichkeit? Wie erkennen wir? Eine voraussetzungslose Erkenntnistheorie
(Anmerkung: Steiners Erkenntnistheorie ist wirklich voraussetzungslos! Man lese die beeindruckenden Ausführungen hierzu in Wahrheit und Wissenschaft und Philosophie der Freiheit).
- Das Gehirn und das Ich. Das Leib-Seele-Problem und die Antworten einer voraussetzungslosen Erkenntnis­theorie (oder: eines sich selbst verstehenden Denkens)
- Was ist Anthroposophie? Einführung in eine wahrhaft menschliche Weise des Welt- und Selbst-Verstehens
- Was ist der Mensch? Rudolf Steiner und sein Kampf gegen den Reduktionismus der Gegenwart
oder: Das Menschenbild bei Rudolf Steiner und in der modernen Naturwissenschaft.
- Die Genetik als moderne Heilslehre oder: Was versteht die heutige Biologie wirklich vom Wesen des Lebendigen?
- Stammt der Affe vom Menschen ab? (humorvoll-provokativ formuliert!). Die Evolution des Menschen vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft (Anthroposophie)
- Gibt es Reinkarnation? Die Darstellungen Rudolf Steiners zum Wesen des Menschen und über die Zeit zwischen Tod und neuer Geburt
- Das Wesen des Christus und das Zukünftige eines wahren Christentums in der Schilderung Rudolf Steiners
- Was sind Engel? Die Schilderung der göttlichen Welten bei Rudolf Steiner
- Urknall und Wärmetod - Projektionen eines materialistischen Denkens? Alternative Kosmologien von Giordano Bruno bis Rudolf Steiner
- Die ganze Welt ist moralisch - die Verbindung von Natur- und Geisteswissenschaft bei Rudolf Steiner
- Was heißt moralisch handeln wirklich? Das Problem der Willensfreiheit 

Sollten Sie für diese Themenstellungen Interesse finden und es ernsthaft für möglich halten, dazu einen entsprechenden Redner einzuladen, bin ich zum einen sehr gerne bereit, eine detaillierte Ausarbeitung des jeweiligen Themas zu machen und Ihnen zur Verfügung zu stellen, damit Sie sich vom Niveau des Vortrags überzeugen können (natürlich zunächst nur inhaltlich). Andererseits bin ich auch gerne bereit, andere Menschen zu fragen, ob sie über bestimmte Themen vortragen könnten.

Es kann ja gut sein, daß Sie wirk­lich ausschließlich Menschen einladen, die über Themen reden, mit denen sie sich jahrelang berufsweise beschäftigt haben, so daß dies gewissermaßen äußerlich nachprüfbar ist und sich möglichst auch in einem akademischen Titel zeigt. Es kommt mir nicht darauf an, daß ich selbst vortragen könnte (bei mir weiß ich aber auch, daß ich den - gerade in ihrer Seltenheit an der Urania doch so wichtigen - Themen und Sicht­wei­sen gerecht werden könnte). Von Bedeutung erscheint mir vor allem, wenn die angedeuteten Ansätze über­haupt aufgegriffen werden könnten, insofern Sie dies nicht kategorisch ausschließen.

Zum Schluß möchte ich noch kurz darstellen, was ich in den an die Vorträge anschließenden Diskussionen erleben konnte. In fast jedem Vortrag melde ich mich anschließend zu Wort und versuche, das Dargestellte durch die Sichtweisen zu ergänzen, die sich mir eröffnet haben - bzw. Kritikpunkte da aufzuzeigen, wo un­hinterfragt grobe Einseitigkeiten und reine Hypothesen als Wirklichkeit dargestellt werden. Sie können sich vorstellen, welche Möglichkeiten man mit kaum etwa einer Minute Zeit und ohne Mikrofon hat, dies zu tun. Und dennoch erlebe ich immer wieder, wie nach der Veranstaltung Menschen zu mir kommen und sich bei mir bedanken (!), eine große Bereicherung des Vortrages in meinen wenigen Sätzen sahen oder erstaunt und tief interessiert fragten, was ich studiere oder ähnliches. Viele sagen sinngemäß auch, ich hätte ihnen mit der Richtung des Gesagten aus der Seele gesprochen (aber noch detaillierter, als sie selbst sich bisher über die jeweiligen Fragen Gedanken machen konnten). Dies wollte ich nur als Hinweis dazu anfügen, daß ich durch­aus sprechen kann und vor allem, daß die mehrheitliche Tendenz der Vorträge durchaus nicht dem entge­gen­kommt, was die Menschen bewegt und was sie auch ganz real innerlich erleben.

Ich verbleibe nun in Erwartung Ihrer Antwort und mit herzlichen Grüssen.
 

In der Antwort vom 13.2.2001 hieß es,
man werde meine Hinweise und Anregungen auswerten und auch mit den Referenten diskutieren. Fast alle von mir angebotenen Vortragsthemen seien in den letzten Jahren im Programm enthalten gewesen und der Wissenschaftliche Beirat der Urania sei „auch auf diesem Gebiet kompetent besetzt“...