21.03.2001

Zeichen, Sprache und Bedeutung

Brief an Prof. Günter Abel (TU Berlin, Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes) nach dessen Vortrag in der Berliner „Urania“.


Sehr geehrter Herr Abel,

im Anschluß an Ihren Vortrag in der Urania möchte ich mit Ihnen gerne noch in eine weitere Diskussion treten, um Ihnen meine Überlegungen vorzustellen.

Wenn ich Sie richtig verstehe, ist eine Ihrer Hauptfragen ja, wie man sich dem Verständnis von Sprache bzw. der menschlichen Fähigkeit, Bedeutungen zu verstehen und zu schaffen, annähern kann. Dies ist ja vielleicht die Hauptfrage bei der größeren Frage nach dem Geist, denn die men­ta­len Erlebnisse knüpfen sich ja ganz weitgehend bis ausschließlich an die individuell erlebten Bedeutungen an.

Nun verstehe ich immer noch nicht, wie man durch die zeichenhafte Beschreibung - oder Be­schreibung der Zeichenhaftigkeit - von Bedeutungsträgern (z.B. Gesten, Situationen, Sinnes­wahrnehmungen allgemein) sich den Antworten auf diese Fragen annähern können soll. Der Versuch, zeichenhaft zu beschreiben, was ein bestimmtes Erlebnis für Bedeutungen (für mich oder auch für andere) beinhaltet, kann doch höchstens meine Aufmerksamkeit steigern und als solches ein Übungsmittel für eine verstärkte Selbstbeobachtung sein. Beschreiben kann ich immer nur das, was ich verstehe, auch wenn mir in der Tätigkeit des Beschreibens vielleicht neue Erkenntnisse kommen - aber dies dann nur, weil in der Tätigkeit meine Selbstbeobachtung intensiviert war. Das fertige Ergebnis der Beschreibung ist dann in dieser Hinsicht wieder ziemlich wertlos.

Ich kann doch auch durch die Beschreibung der einzelnen Buchstaben, Worte und Sätze ei­nes Buches als Bedeutungsträger seines Inhaltes nichts über diesen Inhalt erfahren. Und dies läßt sich meiner Meinung nach folgendermaßen auf alle anderen Bedeutungsträger übertragen: Bedeutung ist etwas Geistiges und wird von mir geistig erfaßt. In den meisten Fällen, in denen es überhaupt um Bedeutung geht, gibt es nun aber Bedeutungsträger - nämlich in allen, wo irgend­welche Sinneswahrnehmungen beteiligt sind. Aber eine Geste, ein bestimmter Blick usw. ist als Bedeutungsträger eben nur die sinnliche, wahrnehm-bare Einkleidung der (rein geistigen) Bedeu­tung selbst. Durch unsere Erziehung lernen wir zunächst von vielen Bedeutungen die möglichen For­men ihrer Einkleidung kennen. Dadurch lernen wir: Diese Geste kann dies und jenes bedeu­ten usw.; wir können uns selbst Rechenschaft ablegen, was wir gelernt haben und wo wir bei der "Interpretation" eines Bedeutungsträgers irren könnten, weil wir mehrere Möglichkeiten seines Ver­ständ­nisses kennen (oder weil eine Geste einfach nicht eindeutig war etc.). Wir verstehen alle Zeichen zunächst einmal vor unserem gewohnten, erlernten (aber sich auch ständig wandelnden) Hintergrund. Dennoch können wir oft auch Zeichen verstehen, die wir so oder ähnlich noch nie ge­sehen haben. Wie kommt das? Hierher gehört natürlich die noch größere Frage: Wie lernt man (insbesondere als Kind) überhaupt die Bedeutung von Zeichen, da man zunächst kein einziges kennt?

Diese Frage ist überhaupt nur befriedigend zu beantworten, wenn man sich nicht vorstellt, daß es beim Verständnis von Zeichen um eine Art "Dekodierung" geht. Sondern die Bedeutung wird im­mer unmittelbar verstanden. Nur um überhaupt wahrgenommen zu werden, bedarf es der jeweili­gen Bedeutungsträger. Bei hochformalen Bedeutungsträgern muß ich natürlich stur gelernt ha­ben, daß dieser Träger für jene Bedeutung steht (z.B. dieser Wortklang mit dieser Schreibwei­se für jenen Sinn). Doch die Bedeutung erschließt sich mir dennoch am Ende unmittelbar. Ich muß weder die einzelnen Worte analysieren, noch in einem Satz oder einer Rede formal auf die ein­zel­nen Worte achten. Der Sinn und die Bedeutung liegt als untrennbare Einheit in dem Gesamt der Bedeutungsträger. Nur weil wir als auch sinnlich-leibliche Wesen in einer auch physisch-ma­teriellen Welt leben, erscheinen die Bedeutungsträger äußerlich mehrzählig, z.B. als einzelne Sätze, Worte, Buchstaben, Laute. Der Sinn ist aber jeweils ein Ganzes und kann nicht durch Differen­tiation und Integration erhalten werden. Dies gilt für den, der den Sinn aufnimmt, wie für den, der ihn mitteilt. Wenn ich etwas sagen will, hat dies einen einheitlichen Gesamtinhalt. Erst dadurch, daß ich diesen Inhalt (so wie wir Menschen im Moment befähigt sind) nicht auch ein­heitlich (etwa rein geistig) an andere Menschen weitergeben kann, muß ich mir überlegen, wie ich ihn in Sätze und Worte bringe, d.h. durch die Zusammenstellung vieler mir bekannter Bedeu­tungs­träger ausdrücken kann.

Wenn ich selber Bedeutungen verstehen soll, dann geht dies nur, weil ich sie unmittelbar erfasse. Die sinnlich wahrnehmbaren (z.B. sicht-, hörbaren) Bedeutungsträger sind nur das sinnliche Me­dium und nichts Eigenständiges, was erst dekodiert werden müßte. Wenn z.B. jemand in einem Satz eine winzige Pause macht und dadurch der Satz eine ganz andere Bedeutung erhält, als wenn er ohne Pau­se gesprochen worden wäre, - so ist das von mir überhaupt nur verstehbar, weil ich seine Intention unmittelbar verstehe. Genauso ist es mit einer Geste, die z.B. Zuneigung ausdrückt. Es gibt mehr mögliche Gesten, als ich je erlernen könnte. Aber ich erlebe die Intention des anderen Menschen unmittelbar und erkenne gleichzeitig, daß die Geste eine der unendlichen Mög­lichkeiten des Ausdrucks dieser Intention ist. Ich kann z.B. sogar erstaunt feststellen: So also kann man Zuneigung auch ausdrücken! Dies aber geht nur deshalb, weil ich die Zuneigung als sol­che (in diesem Fall eigentlich fast "trotz" der mir geradezu befremdlichen Form ihres Aus­drucks) erkannt habe. Gerade weil Intentionen und allgemein Bedeutungen nicht erst durch for­ma­le Dekodierung der sinnlich wahrnehmbaren Bedeutungsträger erkannt werden, ist es den Menschen möglich, ständig neue Bedeutungsträger zu schöpfen und dennoch sicher zu sein, daß diese auch verstanden werden.

Wie ist es mit der Frage, warum das Wort "Hochschulstrukturreform" nicht Onkel Paul im rosa Wagen in der Hardenbergstraße meint? Die reine Lautgestalt der Wort (also die Tonfolge, die z.B. im Wort Hochschule liegt) ist wie die Schreibweise einfach erlernt, und zwar rein formal und auswendig. Um aber das Wort Hochschule (oder englisch high school bzw. natürlich university) verstehen zu können, muß ich in mir selbst einen Begriff von Hochschule ausgebildet haben. Ich muß mir generell für jedes Verständnis irgendeiner Bedeutung einen Begriff gebildet haben. Damit ist nichts Abstrahiertes gemeint, sondern etwas völlig Reales. Der Begriff Hochschule (in seinem ganzen Umfang) wäre das geistige Gegenstück zu allem, was sinnlich als Hochschule aufgetreten ist, auftritt und auftreten wird. - Niemand kann mir den Begriff des Kreises äußer­lich beibringen. Der Lehrer kann mich darauf hin-weisen. Ich muß aber den Begriff des Kreises irgend­wann in mir selbst bilden bzw. besser: finden. Die Begriffe sind eine Realität, zu der der menschliche Geist Zugang hat (wie Sie ja - Jackson? - zitierten: Es müßte heißen, we are in thoughts, wir haben Teil an der Welt der Begriffe). Das erste, was das Kind lernt, ist noch nicht die Bildung eines Begriffs. Zunächst kann es einen vorhandenen Kreis (oder auch: Baum) als solchen erkennen; dann kann es selbst Kreise zeichnen. Der wirkliche Begriff als Allgemeines, was alle besonderen Erscheinungsformen umfaßt, wird erst später - wenn überhaupt - gebildet. Sobald der Begriff gefunden ist, ist das eigentliche Wesen des Kreises erkannt. Nun kann auch der wirklich schöpferische Schritt erfolgen, daß alle möglichen Definitionen eines Kreises selb­ständig gefunden werden (also: eine Linie, die überall die gleiche Krümmung hat; eine Linie, die von einem Punkt stets den gleichen Abstand hat; der Umfang eines Kegelschnitts, der parallel zur ebenen Grundfläche verläuft etc.).

Woran erkenne ich einen Tisch? (Daß das Wort in Deutschland so lautet und geschrieben wird, ist klar, um diese "Übereinkunft" geht es nicht). Die erste Vorstellung ist eine viereckige Holzplatte mit vier Beinen. Aber ein Tisch kann auch andere Formen und eine andere Zahl von Beinen ha­ben. Versuche ich ernsthaft, mir einen wirklichen Begriff des Tisches zu bilden, muß ich schritt­weise von jeder besonderen sinnlichen Erscheinungsform absehen. Was ist wesentlich? Worin unterscheidet sich ein Tisch von einem Stuhl? Als Wesentliches bleibt letztlich nur die Funktion des Tisches zurück. Auf einem Picknick kann ich auch eine einfache Decke als Tisch benutzen. "Tisch" ist - als erste Annäherung - alles, worauf etwas angeboten und dargebracht werden kann, bzw. alles, was sich in bestimmter Weise als Tragfläche anbietet. Man merkt hier schon, daß ein Begriff nie isoliert steht, sondern mit anderen Begriffen in gesetzmäßiger Weise verknüpft ist (z.B. Fläche, anbieten, Arbeits-Platz usw.). Ich kann die Begriffe in mir auffinden, aber die Art ihrer Ver­bindung untereinander liegt in ihnen selbst begründet.

Der Mensch hat also als geistiges Wesen Anteil an der Welt der Begriffe und der Bedeutungen, und zwar unmittelbar und intuitiv. Es braucht keine sinnliche Vermittlung zwischen Geist und Geistigem durch das Sinnliche. Das Sinnliche ist in dieser Hinsicht nur deshalb "von Bedeutung", weil wir Bedeutung in der Regel nur in sinnlicher Form wahrnehmen können (in dieser Form aber wiederum unmittelbar). Ist auch das Erleben von Bedeutung ohne jeden sinnlichen Träger denk­bar? Zum einen meine eigenen (?) Gedan­ken und dann alles, was man als Inspirationen bezeich­nen kann.

Daß die Begriffe und Bedeutungen eine eigenständige Realität haben, kann man auch daran erkennen, daß ja jedes einzelne Ding der Sinneswelt eine Bedeutung hat. Ein Baum ist nicht einfach ein Baum, sondern ich muß als Kind erst lernen, daß bestimmte "Dinge" Bäume "sind". Fortan haben diese "Dinge" für mich eine bestimmte Bedeutung. Aber erst, wenn ich mir von etwas ansatzweise einen Begriff oder zumindest eine Vorstellung gebildet habe, kann ich es überhaupt als eigenständiges Ding in der Welt erkennen. Unsere Wahrnehmung ist nicht a priori sinnvoll und in unzählige "Objekte" gegliedert. Aber wir spinnen diese Objekte auch nicht einfach aus uns heraus. Wir finden zu unseren Wahrnehmungen die entsprechenden Begriffe, beides ist keineswegs (nur) subjektiv, sondern hat eine über uns als Individuum hinausgehende, eigen­stän­dige Realität.

Die Frage "was ist Geist?" wird ja nicht von einem unbeteiligten Dritten, sondern vom Geist selbst gestellt, von uns als geistigem Wesen. Daß wir diese Frage stellen, zeigt, daß wir unser geistiges Wesen im Sinne einer wahren und vollen Selbsterkenntnis noch nicht erfassen, sondern höch­stens erahnen. Der wesentliche Grund ist, daß wir (als Geistwesen) uns unserer eigenen Tätig­keit in aller Regel gar nicht wirklich bewußt werden, höchstens im nachhinein in abstrakter Selbst­reflexion. Wirklich bewußt sind uns z.B. nur unsere Gedankeninhalte, in ihnen leben wir ja mental  gesehen. Sehr unbewußt ist uns dabei unsere eigene Denk-tätigkeit als solche. Diese aber, die eigene Tätigkeit, gälte es zu erfassen. Es wird ja allzuoft die Welt für fertig gehalten, wie wir sie letztlich wahrnehmen. Und doch ist es ja klar, daß wir selbst an dem Kontext, an der Bedeutung einer Situation mitschaffend beteiligt sind. Ich habe oben angedeutet, daß sogar für jede einzelne Erkenntnis eines Dinges unsere Tätigkeit notwendig ist, indem wir zu jeder Wahrnehmung erst den Begriff in uns finden müssen. Wir sind zutiefst an der Entstehung der Welt, wie wir sie wahr­nehmen, beteiligt. Die Frage nach dem Geist ist auch die nach dem Wesen der Erkenntnis (v.a. von Bedeutungen). Beide werden sich nur beantworten lassen, wenn der Forscher als geistiges Wesen die Selbstbeobachtung übt. Das wäre wahre Geistes-Wissenschaft in der ersten Person.

Alle Versuche, Bedeutungen zeichenhaft zu beschreiben, dienen nur der Kommunikation mit an­deren Menschen. Der Forscher, der sich der Erkenntnis des Geistes (bzw. der Selbsterkenntnis) nähern will, darf sich den Blick nicht sogleich wieder ablenken lassen, sondern muß unmittelbar beim Geist, bei seiner eigenen Tätigkeit, zu bleiben suchen. Geistes-Wissenschaft ist zunächst also ganz und gar meditativ in dem Sinne, daß es keine äußerliche Geschäftigkeit oder fertige Fakten und Ergebnisse gibt. Hinterher kann die eigene Forschungstätigkeit darin münden, daß man versucht, auf das Tätigsein des Geistes mit Worten hinzuweisen; auf das, was bei der Erkenntnis und Erzeugung (sie kennen sicher die ethymologische Verwandtschaft beider Worte) der Wirklichkeit geschieht. Jede versuchte zeichen­hafte Beschrei­bung von Bedeutungen lenkt bereits von dem eigentlichen Geschehen ab und sug­geriert, daß es sich nur um Algorithmen handelt, nach denen der "Verstand" Bedeutungen deko­diert. Bedeutungen müssen erlebt wer­den, wie sie in ihrem Beispiel von "Mary" ja selbst zeigten. Sie können niemals durch eine Beschreibung (zeichenhaft oder sonstwie) wiedergegeben wer­den, weil sie sich jeder formalen Wiedergabe widersetzen.

Ich beende meine Ausführungen nun und hoffe, daß Sie die von mir gemeinten Gesichtspunkte in ihrem Ansatz verstehen konnten. Vielleicht finden Sie ja die Zeit, mir Ihre Gedanken zu dem Gesagten als Antwort zu schicken.