05.05.2001

Über Anziehung, Liebe und Freiheit

Zu dem folgenden Aufsatz wurde ich unmittelbar durch das Buch „Vom Ursprung der Sehnsucht“ von Henning Köhler angeregt, die Gedanken zum Urbild des Menschen verdankte ich außerdem dem Buch „Christus“ von Friedrich Rittelmeyer.


Das Phänomen des Verliebtseins und der Liebe ist eines der am schwierigsten zu verstehenden. Besonders stellt sich ja die Frage nach dem Egoismus. Für mich stand immer fest, daß wirkliche Liebe, wenn es sie gibt, ihrem Wesen nach vom Egoismus unberührt sein müßte. Ist denn der Egoismus eine solche "natürliche" Grundkraft des Menschen, daß er in alle seine Handlungen hereinspielt (um nicht zu sagen: sie bestimmt)? Immerhin verliebt man sich doch wohl sehr eigensinnig in die Menschen, von denen man sich eben angezogen fühlt. Und dann hofft man auf ihre Liebe, weil man sich diese eben für sich wünscht. Auch wenn man dann im übrigen noch so selbstlos ist, ist dies doch zumindest der Fall. Und es ist zum Beispiel schon sehr die Frage, ob man sich diese Liebe des anderen nicht sogar sehr viel mehr wünscht, als dann wirklich für ihn selbst Interesse aufzubringen. Ein entscheidendes Kriterium wäre also, ob man sich für den anderen sozusagen nur deshalb interessiert, weil man eigentlich sein Interesse haben möchte. 

Aber wäre das schon der abschließende Beweis gegen die Existenz wirklicher Liebe? Eine andere Frage und zugleich das wirkliche Rätsel ist doch, warum wir uns überhaupt in bestimmte Menschen verlieben. Ist es wirklich nur das irgendwie durch Außeneinflüsse entstandene individuelle Schönheitsideal? Die "äußere" Schönheit scheint meistens für Männer noch wichtiger zu sein als für Frauen. Die Bedeutung der äußeren Schönheit ist ein großes Mysterium. Es scheint ja ganz auf körperliche Anziehung hinzudeuten. Das muß nicht die Tatsache berühren, daß Liebe als Ideal bedeutet, in selbstloser Weise eine Beziehung mit einem anderen Menschen zu gestalten. Ver-lieben schließt durchaus die körperliche Anziehung mit ein. Die Liebe selbst muß in gewissem Maße auf diese Anziehung verzichten können, denn wenn auch in der Liebe ein Höchstmaß dieses körperlichen Aspekts nötig wäre, wäre sie eben egoistisch. Aber es kommt doch noch ein Einwand: Es kann ja durchaus sein, daß ein Mensch die körperliche Anziehung nicht braucht, um einen anderen Menschen wahrhaft lieben zu können, und dennoch die Beziehung eben ihre vollkommene (d.h. allseitige) Erfüllung findet, wenn diese Anziehung auch noch da ist. In jedem Fall gehören die körperliche und die seelische Seite beide zum Menschen, und es gibt weder einen Grund, den einen Aspekt auszuschließen (zumal er eben nicht zwangsläufig zum Egoismus führt), noch überhaupt beide Seiten ganz streng zu trennen. Sie gehen an ihrer Grenze unmerklich ineinander über. Eine schöne Seele macht einen Menschen auch äußerlich schöner, im subjektiven Eindruck des anderen sowieso, aber mit Sicherheit auch ganz objektiv.

Als Mann kann man sich durchaus in eine schöne Frau verlieben in dem Glauben, daß sie auch eine schöne Seele hat. Natürlich kann man sich fragen, ob der Mann sich das nicht einredet, weil sie eben äußerlich schön ist. Aber an dieser Stelle kann man eigentlich nicht mehr unterscheiden, was das für eine äußere Schönheit sein soll. Es gibt Frauen, bei denen man sich aufgrund ihrer äußerlichen „Schönheit“ vielleicht in gewisser Weise körperlich angezogen fühlt, ohne aber im Grunde berührt zu sein, weil man den Eindruck hat, daß sie nur äußerlich schön sind und keine "schöne Seele" haben. Als wirklich schön werden sie deshalb gar nicht erlebt. Wie gesagt ist es durchaus ein Mysterium, was wirklich als schön empfunden wird. Aber man kann sich doch nicht in beiden Fällen einreden, daß die eine Frau eine schöne Seele hat, die andere aber keine. Warum findet man nur die eine wirklich schön? Die andere ist äußerlich auch „schön“. Aber in ihrem Gesicht sieht man nichts Innerliches (oder - wenn man davon ausgeht, daß sich im Gesicht immer wenigstens im Ansatz die Seele spiegelt - "sieht" man es möglicherweise doch, weil eben im Innern leider wirklich nichts Tiefgehendes da ist).

Irgendwie zweifelt man an seelischen Erklärungen doch immer mehr und gründlicher als an den "normalen", die gleich von "Illusion" und "Sich-etwas-einreden" sprechen, selbst wenn alles, was man überhaupt als Entscheidungs-Kriterium nehmen kann, gegen diese zweite Erklärungsmethode spricht. Man ist heute in dieser Art von Denk- und Argumentationsweise einfach ganz stark befangen. Auch weil alles Seelische zu "unreal" wirkt, wenn man es mit den "handfesten Dingen" vergleicht. Aber das ganze psychologische Theoretisieren über "Projektion von Wunschvorstellungen nach außen" (Fachausdruck für "sich einreden") ist im Grunde das Unrealste von allem. Gerade die ganzen heutigen Theorien und dogmatischen Vorstellungen darüber, wie die menschliche Seele "funktioniert" (!) sind die allergrößte Illusion, die man zuerst durchschauen müßte, bevor man andere Leute analysiert. Der Mensch macht sich zwar viele Illusionen, aber gerade im Fall des Sichverliebens sollte man mit Theorien etwas vorsichtiger sein. Wenn man seine Wünsche angeblich nach außen projiziert, warum nicht auf jeden beliebigen Menschen, sondern (z.B. als Mann) auf diese oder jene bestimmte Frau? Wenn gerade sie dem eigenen Schönheitsideal entspricht, woher kommt dieses dann? Dieser Begriff hat gar keinen Erklärungswert, denn es ist eine reine Behauptung, daß er vollkommen von außen bestimmt wird. Natürlich prägen die Medien in hohem Ausmaß, was äußerlich als "schön" gilt. Aber für das, was bei einem Menschen von der Seele nach außen strahlt, gibt es bisher kein Schönheitsideal.

Das, was man als Seele zu sehen meint, ist zunächst entscheidend. Darüber hinaus kann durchaus auch das Äußerliche anziehend sein. Aber hier ist das eigentlich Anziehende das, was als weiblich empfunden werden kann, und das beruht im Grunde immer nur auf dem Gesamteindruck. Alles Einzelne hängt immer davon ab, wie es im Ganzen wirkt. Und das Körperliche ist auch nur der eine Teil, dazu kommt die Art zu sprechen, sich zu bewegen. Schon wenn man das alles überhaupt in Worten ausspricht, klingt es viel zu äußerlich. Ich meine den Eindruck, den man bekommt. Ich glaube auch hier wieder, daß es bei den Frauen einen viel größeren Spielraum gibt, was sie individuell als "männlich" erleben oder mögen. Da kommt z.B. die ganze Spannweite zwischen intelligent und kräftig (als polare Typen gemeint) in Frage. Und wahrscheinlich ist das "Männliche" überhaupt, eben gerade weil es nicht ganz so eindeutig ist, auch nicht ganz so entscheidend wie im umgekehrten Fall. Das heißt auch, vielleicht sieht ein Mann in einer Frau immer auch mehr die Frau als umgekehrt (vielleicht sieht eine Frau jeden Mann viel mehr für sich individuell). Das heißt keinesfalls, daß sich das gegenseitig beeinträchtigen muß. Ich bin überzeugt, daß man einen anderen Menschen vollkommen in seinem ganzen individuellen Wesen erleben und wahrnehmen kann und es dennoch genießen kann, daß er eben auch Frau oder Mann ist. Und auch das letztere ist doch wunderschön. Es fühlen sich nun einmal Männer und Frauen zueinander hingezogen, und es gibt für einen Mann kaum etwas Schöneres als einer wirklich weiblichen Frau zu begegnen, was auch immer das heißen mag.

Wenn man das nur rein biologisch verstehen kann, ist das äußerst traurig. Aber alles weist doch darauf hin, daß der Mensch nicht einfach nur ein biologisches Wesen ist. Die heutigen Theorien der Evolution, Psychologie und so weiter können weder erklären, woher Gefühle kommen, noch was sie sind (man kann sie eben nur erleben und nicht erklären). Und beim Denken, also beim geistigen Wesen des Menschen, ist es erst recht so. Man kann also durchaus einmal den Gedanken fassen, daß der Mensch nicht nur von seinem Wesen her ein geistiges Wesen ist, sondern daß er auch ursprünglich einmal ein rein geistiges Wesen war (wie dann z.B. die Evolution anders zu denken, aber eben durchaus weiterhin zu denken wäre, sogar mit größerer Plausibilität, was die beobachtbaren Phänomene z.B. im Verhältnis von Affen und Menschen angeht, wäre ein Thema für sich). Und man kann auch denken, daß er als solches ganz ursprünglich nicht in männlich und weiblich getrennt war, sondern einfach nur Mensch war. Es gibt ja das Wort Mensch, und was heißt das eigentlich? Wir wissen ja sehr gut, was Mensch eigentlich heißt oder bedeuten könnte, abgesehen von dem Aspekt der zwei Geschlechter. Diese Trennung ist für den Menschen eigentlich gar nicht so entscheidend. Heute sieht es natürlich so aus, aber auch heute noch will ja jeder Mensch als Mensch anerkannt und nicht nur als Mann oder als Frau behandelt werden (bzw. heute wieder, denn jahrhundertelang war es ja so; insbesondere die Frauen wurden nur als solche behandelt).

Wenn also die Trennung in zwei Geschlechter nicht der ursprüngliche Zustand ist, dann ist es unabhängig von allen biologischen Erklä­rungen äußerst begreiflich, daß sich beide voneinander angezogen fühlen, weil sie gewissermaßen jeweils nicht der ganze Mensch sind. Genauer sollte man vielleicht nicht von einer Trennung, sondern einer Polarität sprechen. Männer und Frauen haben nicht nur körperliche Unterschiede. Den Begriffen männlich und weiblich liegt viel mehr zugrunde. Die Männer haben bestimmte Seiten stärker ausgeprägt, die Frauen andere. Es gibt z.B. die Polaritäten intellektuell und intuitiv, Tendenz zu Konfrontation oder Harmonie, und so weiter. Ich finde, das liegt ganz objektiv in dem Wesen von Mann und Frau. Wenn jemand Eigenschaften entwickelt, die normalerweise für das andere Geschlecht typisch sind, ist das weder ein Gegenbeweis, noch schlecht, sondern an solchen Punkten wird ja gerade die Polarität überwunden. In gewisser Hinsicht wird dieser Mensch wieder menschlicher, das heißt er verbindet die Polarität in Richtung der ursprünglichen Ungetrenntheit. Nicht gut wäre es allerdings, wenn man sozusagen nur auf die andere Seite wechselt, also z.B. als Frau konfrontations-geübt ist und die Fähigkeit zur Harmonie vernachlässigt.

In gewisser Weise hat es auch sein Gutes, wenn man bestimmte Eigenarten seines Geschlechtes besonders pflegt. Jede Eigenart hat ihren positiven Aspekt, und gerade diesen gilt es immer mehr herauszugestalten, damit er eines Tages dann, wenn er wirklich voll entwickelt ist, wiederum dem Menschen insgesamt zugute kommen kann. Jede Fähigkeit hat ihren guten Aspekt da, wo die andere ihren schlechten hat, bzw. wo sie die andere ausgleicht. Die Intellektualität hat z.B. zweifellos ihre guten Aspekte, einseitige Intuition hilft fast nie weiter. Aber unsere heutige Zeit wird absolut von der Intellektualität bestimmt, wobei in dieser Dominanz immer mehr ihre negativen Aspekte wuchern. Gerade im Zuge der "Emanzipation" meinten viele Frauen, die spezifisch weiblichen Seiten ganz von sich weisen zu müssen, bzw. sie merkten oft gar nicht, daß sie sich eigentlich nur den Männern anpaßten, um in deren Welt mit ihnen zu konkurrieren. Was sie eigentlich wollten, war doch zunächst nur die Freiheit, so sein zu können, wie sie wollen. Weil diese Freiheit von den Männern offenbar nicht ganz anerkannt wurde, sah sich die Frauenbewegung gezwungen, sich die Freiheit zu nehmen, indem sie tatsächlich in die Welt der Männer eindrang, damit aber oft diesen ähnlich wurde und ihre eigenen Qualitäten oft notgedrungen verdrängte.

Diese ganzen Ausführungen können vielleicht begründen, warum es nicht nur wunderschön, sondern auch zutiefst menschlich ist, wenn sich ein Mann von einer weiblichen Frau angezogen fühlt (oder umgekehrt). Ein Mann sucht in einer Frau auch nach seiner Ergänzung, und er findet sie auch. Und dennoch kann er sie als individuellen Menschen wahrnehmen und anerkennen.

Man kann aber auch noch einen Schritt weitergehen. Wenn man sich noch einmal fragt, warum man sich gerade in ganz bestimmte Menschen verliebt - noch bevor man erkennt, welche besonderen Seiten (im Sinne einer möglichen Ergänzung des eigenen Wesens) sie haben. Man wird sich nicht vorstellen müssen, daß ein Mann wirklich unbewußt eine Frau letztlich nur dahingehend beurteilt, wie sehr sie ihn ergänzen würde. Damit würde man ja auch die Individualität und Andersheit des Anderen absolut miß-achten. Worauf ich hinaus will, wird verständlicher, wenn man sich kurz fragt, was Ideale sind. Auch diese werden ja im allgemeinen als tatsächlich sehr unreal angesehen. Daß sie zunächst un-real sind, liegt ja in ihrem Wesen (ideal-real ist nun einmal auch ein Gegensatz), nur darf man real nicht mit "allein existent" verwechseln. Was man eigentlich damit meint oder bezeichnen sollte, ist: "mit den Sinnen beobachtbar". Ist die Liebe real? Ist Gerechtigkeit real? Ein Ideal kann verwirklicht werden. Man ver-wirklicht es, indem man es innerhalb konkreter Taten und Gestaltungen in der sinnlichen Welt sozusagen anwesend sein läßt. Wenn man aber Ideale verwirklichen kann, dann ist es nur eine dogmatische Behauptung, wenn man sagt, "Ideale als solches" seien nicht-existent, weil sie nur im Kopf entstehen. Wer sagt das? Könnte überhaupt etwas Bezug zur realen Welt haben und ver-wirklicht werden, wenn es am Anfang eine vollkommene Illusion wäre? Kann etwas, was nicht existiert, eine Auswirkung auf die existierende Welt haben? Ideale sind sogar so real, daß sich viele Menschen ganz entscheidend in ihrem Handeln von ihnen bestimmen lassen. Sie denken sie sich nicht aus, sondern sie lassen sich in freiem Entschluß (das ist wichtig) von ihnen bestimmen.

Man kann sich Ideale geradezu als eigene Wesenheiten vorstellen, auch wenn das ein ungewohnter Gedanke ist. Aber auch, daß alle Menschen überall auf der Welt die großen Menschheitsideale unabhängig voneinander finden können, ist ein Hinweis darauf, daß man sie sich nicht ausdenkt. Ideale haben überhaupt ganz entscheidend mit dem Menschen zu tun. Ideen wie Freiheit, Gerechtigkeit, Mitleid und so weiter machen den Menschen erst menschlich. Das heißt, indem er sich von ihnen leiten läßt, findet er erst zu seinem eigentlichen Wesen. Der Mensch ist also seinem Wesen nach zutiefst mit dem verbunden, was wir als Ideale kennen. Man kann sogar zwei ganz bestimmte Grundimpulse finden, die allem übrigen, wonach der Mensch strebt, zugrunde liegen: Freiheit und Liebe. Diese beiden sind als Ur-Sehnsucht im Innersten eines jeden Menschen verborgen.

Freiheit meint die Möglichkeit, seine Handlungsziele selbst wählen und sie auch verfolgen zu können. Liebe meint hier die Sehnsucht nach Beziehungen mit anderen Wesen/Menschen, wobei ganz entscheidend der Aspekt des Gebens und Schenkens zu betonen ist. Wenn Liebe überhaupt real ist, dann liegt ihr Wesen im Schenken. Bereits das Schenken stiftet Beziehung. Das Bedürfnis nach Gegenseitigkeit tritt ja erst auf, wo die Gegenseitigkeit nicht vorhanden ist; eigentlich erst dort, wo eine wirkliche Beziehung gar nicht vorhanden ist, weil nicht einmal das Geschenk gewürdigt wird. Dem wahrhaft Schenkenden ist dies eben schon genug, eine weitere Gegenseitigkeit braucht er gar nicht. Oder anders gesagt: Gegenseitige Würdigung ist die einzige Gegenseitigkeit, die es gibt (aber schwer genug).

Der Mensch hat also den Ur-Impuls des Gebens. Aber auch den der Freiheit. Zunächst muß der Mensch frei werden. Der Begriff der Freiheit ist überhaupt einer der schwierigsten und unverstandendsten. Meistens meint man, Freiheit würde sich nur darauf beschränken, eben keinen Beschränkungen zu unterliegen. Gemeint ist aber nicht die Freiheit von allem, sondern eine Freiheit für alles. Wenn ich z.B. das Leben ausschließlich genießen will und zu nichts anderem bereit bin, bin ich eben gerade nicht frei, sondern ganz stark eingeengt (in meiner möglichen Entfaltung als Mensch). Was den Menschen zum Menschen macht, ist eben das Dasein füreinander (nicht nur ich für den anderen, sondern auch er für mich). Wer den Grundimpuls des Füreinander noch gar nicht in sich spüren kann, ist einfach noch nicht frei, weil er das volle Menschliche noch nicht erlebt, weil er noch in sich selbst gefangen ist und alles was er tut, primär auf sich beziehen muß. Manche Menschen meinen, es gäbe keine selbstlose Liebe bzw. wenn man selbstlos handeln würde, würde man sich selbst aufgeben. Es gibt natürlich durchaus ein Handeln, daß sich selbst aufgibt und sich - dem anderen sozusagen hörig - versklavt. Aber das hat nichts mit Selbstlosigkeit zu tun, sondern wer in eine solche Situation kommt, hatte und hat noch gar kein Selbst entwickelt. Um wahrhaft selbstlos handeln zu können, muß man erst einmal sein Selbst entwickelt haben. Dann kann man es erst hingeben und verschenken, indem man etwas voll und ganz für jemand anderen tut. Damit es volle Hingabe und ein wirkliches Geschenk ist, muß das bewußte und starke Selbst eben gerade dabei sein (nur eben nicht selbstbezogen, sondern auf den anderen gerichtet). Und in der Möglichkeit zu dieser wahren Selbstlosigkeit liegt die Freiheit.

Freiheit gibt es nur dort, wo es die Möglichkeit gibt, entweder für mich oder selbstlos zu handeln. Möglichkeit bedeutet aber nicht Vorschrift. Freiheit meint selbstverständlich, daß man auch nur für sich etwas tun darf. Doch der innerste Impuls im Menschen ist eben der in Richtung auf das Du. Wie man sieht, gehören Freiheit und Liebe in diesem Verständnis vollkommen zusammen. Aber wie gesagt, diese Freiheit muß erst gewonnen werden. Man muß sein Selbst erst ausbilden, und das kann man nur, wenn man sozusagen rücksichtslos das erprobt, was man zunächst unter Freiheit versteht. Indem man alles tut, was man will (und möglichst anderen nicht schadet...), erlebt man sich in seiner Persönlichkeit, und man erlebt eben seine Freiheit (zunächst von allem), was weiterhin Selbstvertrauen gibt und das Selbst ausbildet. Dazu gehört auch die Phase des Nehmens und nicht die des Gebens. Wenn man dann aber sich seines Selbstes absolut sicher ist, und das eigene Ich einem von niemandem mehr genommen werden kann, dann kann man allmählich dem eigenen Wesen auf den Grund gehen und schauen, was da für eigentliche, weltgestaltende Impulse ruhen. Und dann findet man eben den Impuls der Liebe als Ausrichtung auf das Du (das meint alles, was es eben außer dem Ich noch gibt und kann Menschen, Tiere oder sonst etwas, viele oder einzelne bedeuten).

Der Impuls der Freiheit beschränkt sich aber nicht darauf, daß ich selbstlos werden kann, also lieben kann. Sondern in der Freiheit "für jemanden/etwas" beginnen die Möglichkeiten der Freiheit ja erst. Freiheit meint auch das menschliche Grundbedürfnis nach Kreativität, nach freier Gestaltung. Auch hier wirkt sie mit der Liebe zusammen, denn alles was ich aus freiem Willen tue, liebe ich ja (als Handlung). Freiheit (gegenüber mir selbst) ist nötig, damit ich einen anderen Menschen wirklich lieben kann. Liebe (zu einer Handlung) ist nötig, damit es wirklich eine freie, nämlich von mir gewollte Handlung ist.

Das, was ich hier beschrieben habe, sind wunderschöne Ideale, aber eben auch Ideale, die fast nie voll ver­wirklicht werden. Die meisten Menschen scheitern schon am Begriff der Freiheit und haben wirkliche Freiheit und auch wahre Liebe nie kennengelernt (oder diese höchstens einmal kurz in der ersten Zeit ihrer "ersten Liebe"). Und dennoch machen diese Ideale das Wesen des Menschen aus, weil sie eben doch seine Ur-Sehnsucht sind. Man kann finden, daß alles andere, was die Menschen tun, diesem Streben nach Freiheit und Liebe entspricht, selbst wenn es bis ins völlige Gegenteil verkehrt zu sein scheint. Das beruht dann auf falschen Vorstellungen, die man sich von den in seinem Innersten wirkenden Impulsen macht. Auch wer z.B. materielle Sicherheiten anhäuft, strebt nach Freiheit (noch verstanden als Freiheit "von") und Liebe (noch verstanden als Anerkennung von ihm selbst, vor allem, weil er sein wahres Selbst noch nicht ausgebildet hat). Die Ideale sind also sogar so real, daß sie als Sehnsucht und Streben fortwährend im Menschen wirken (auch wenn sie ganz verschüttet sind, denn darauf beruhen ja die ständig zunehmenden Neurosen etc.).

Die also doch sehr konkrete Realität der Ideale ändert nichts daran, daß das Wesen der Ideale selbst äußerst geheimnisvoll ist. Wie kommt es, daß sie den Menschen geradezu bestimmen? Man kann dieses Wort im Sinne von `beherrschen´ verstehen, aber besser im Sinne von `ausmachen, sein Wesen bilden´. Dann kann man noch einen Schritt weiter gehen. Vorhin hatte ich den Gedanken dargestellt, daß der Mensch ursprünglich ein sozusagen rein geistiges Wesen gewesen sein könnte, das sozusagen rein menschlich und nicht männlich oder weiblich (höchstens männlich und weiblich, aber nicht als biologischer Zwitter, sondern wie gesagt rein geistig) wäre. Könnte es nicht sein, daß dies, jetzt als Urbild des Menschen verstanden, etwas ganz Reales ist? Also daß der Mensch nicht nur irgendwann einmal "wirklich nur Mensch" war, sondern daß das wunderbare Urbild des Menschen eine Realität ist? Dieses Urbild würde dann ohne die Unvollkommenheiten und Un-Realitäten (d.h. so vieles, was wir meistens unverwirklicht lassen) alle Ideale der Menschen wesenhaft in sich vereinen. Während alle Menschen im Grunde immer nur danach streben können, wirklich menschlich bzw. wirklich Mensch zu werden, könnte man dieses leuchtende Urbild mit Recht den Menschen nennen. Und man könnte sagen, daß die Ur-Sehnsucht der Menschen nach Liebe und Freiheit ihre Quelle in diesem Urbild hat. Es wäre dann so etwas wie die geistige Heimat der Menschheit.

Das alles bedeutet nicht, daß die Menschen alle gleich werden müßten, wenn sie sich diesem Urbild nähern. Und dennoch streben sie gerade nach dieser Nähe, weil es eben alles wesenhaft in sich trägt, was dem Menschen als wertvoll gelten kann. Aber jeder Mensch ist eine Individualität, auch das ist ein Mysterium in unserer Welt (so wirklich individuell wie jeder einzelne Mensch ist kein Tier). Wenn man aber unter Individualität das versteht, was den einzelnen Menschen wirklich seinem Wesen nach ausmacht, dann kann dieses unmöglich verloren gehen, wenn der Mensch sich dem annähert, was den Menschen ausmacht. Die Verbindung von Individualität und Urbild kann dann kein Widerspruch sein. Das Urbild ist für alle Menschen dasselbe, sozusagen das höhere Ich der ganzen Menschheit. Aber wenn sich ein Mensch diesem Urbild, also z.B. einem bestimmten Ideal annähert, dann bedeutet dies ja, daß er es hier in der Welt immer mehr verwirklichen kann. Und er wird es in einer ganz bestimmten Weise tun, weil er eben anders als andere Menschen ist. Ein Mensch kann zum Beispiel eine unnachahmliche Art von Gerechtigkeit haben, die seinem Wesen entspricht, oder die Fähigkeiten von Hoffnung und Vertrauen etwa werden ebenfalls ganz nach seiner persönlichen Eigenart bei ihm erscheinen. 

Das Urbild würde sozusagen das sein, was der Mensch als Mensch auch sein könnte, wenn er die höchste Stufe der Menschlichkeit (allgemein verstanden) erreicht. Außerdem aber ist jeder Mensch ein Individuum und hat als solches die Möglichkeit und die Aufgabe, seine Individualität (immer mehr) auszuprägen im Sinne von zunehmender Freiheit. Denn wo ich noch nicht ich selbst bin, bin ich auch noch nicht frei. Ich-Werdung und Frei-Werden sind dasselbe. Auch deshalb kann die Individualität kein Widerspruch zum Urbild sein, denn jenes Urbild trägt auch das Ideal der Freiheit in sich. Das heißt, indem man sich dem Urbild nähert, kann dies zugleich nur dazu führen, daß man auch immer mehr sein eigenes Ich findet.

Aber ist das alles nicht nur Theorie? Ich habe das alles aufgeschrieben, weil ich nun noch einmal auf die Frage zurückkommen möchte, warum wir (Menschen) uns ineinander verlieben. Das Rätsel war, was ein Mann bei einer Frau schön findet. Oder auch: warum sich der eine Mann in diese Frau, die andere Frau in jenen Mann verliebt und nicht alle in den gleichen Menschen. Jeder Mensch hat natürlich einen individuellen Blick und wird etwas sehen, was andere wieder nicht sehen, aber das ist nicht entscheidend. Im Sinne der vorangegangenen Ausführungen ist nun ein großartiger Gedanke denkbar: Wenn man sich in einen Menschen verliebt, dann sieht man an und in ihm etwas von jenem wunderbaren Urbild...

Man würde durch den geliebten Menschen direkt vom Urbild des Menschen berührt werden. – Wenn man über diesen Gedanken einmal mit wirklicher Empfindung nachdenkt, kann er dem Zauber des Verliebtseins schlichtweg nichts nehmen. Er kann höchstens umgekehrt im Ansatz etwas vom Wesen des Urbildes empfinden lassen, was alle Worte nicht ausdrücken können.