08.07.2001

Erkennet es: Euch ist der Erdensinn erstanden!

Das Wesen von Freiheit und Liebe

Der Titel sind Worte, die in der Menschenweihehandlung zu Ostern gesprochen werden. Als wir uns in einem Gesprächskreis versuchten, uns ihrem Verständnis zu nähern, schrieb ich die folgenden Gedanken nieder.


Überall, wo von Sinn gesprochen wird, geht es um Zusammenhang. Die Existenz ist nur sinnvoll, wenn ihre Frucht letztlich Liebe ist, die Zusammenhänge stiftet, weil sie sich mit allem verbunden fühlt. Sowohl die Kraft der Liebe als auch der reale Zusammenhang des Ganzen liegen im Wesen des Christus begründet. Der Mensch ist aber dazu beru­fen, beides auf Erden zu verwirklichen (damit schafft er mit an der Neuen Erde, d.h. zugleich am Leib des Christus). Die Quelle der Liebe im Menschen ist das höhere Ich. Die eigentliche Kraft der Liebe ist dabei mit dem Christus ver­bunden und wird vom höheren Ich aufgenommen, das ebenfalls einen geheimnisvollen, ganz engen Zusammenhang mit dem Christus hat. Liebe schaut auf "den anderen"; sie ist in dem Sinne selbstlos, als das gewöhnliche Ich nicht mehr im Zentrum steht bzw. sogar im entsprechenden Maß verschwindet. Daher setzen viele Selbstlosigkeit mit Ichlo­sigkeit gleich. Hier spricht das gewöhnliche Ich, das in selbstlosen Taten nur eine Beraubung seines "Mittelpunkts-An­spru­chs" erlebt. Das höhere oder wahre Ich aber findet und gründet sich überhaupt erst in freien Taten der Liebe. - Man wird schon vorchristlichen Geistern wie Sokrates selbstlose Taten zusprechen können. Er sprach aber von einem Daimon, dessen Stimme er folgte, d.h. er empfand sein höheres Ich noch nicht als zu seinem Wesen gehörig. Erst seitdem Christus Mensch geworden ist, kann auch in anderen Menschen das höhere Ich "Mensch werden" - kann das höhere Ich als das eigene innerste Wesen, können selbstlose Taten als den innersten, freien Impulsen entsprechend erlebt werden. 

Taten des niederen Ich beziehen sich immer primär auf dieses selbst. Dies kann aber nie befriedigen, weil das höhere Ich nicht beachtet wird. Das wahre Ich will sein Wesen verwirklichen, im niederen Ich wird dies – weil es nicht geschieht – als Leere erlebt, als ein ständig unbefriedigt bleibender Rest. Wird aber das wahre Ich tätig, beziehen sich seine Taten immer auf die Welt außerhalb. Mit jeder Tat entstehen reale und darum erfüllende Zusammenhänge. Die Liebe verbindet das wahre Ich der Möglichkeit nach mit der ganzen Welt. Es arbeitet mit an der Weltentwicklung und bleibt mit ihr auf ewig ver­bunden. Die Liebe fragt nicht, wann ihre Aufgabe erfüllt ist, denn sie hat kein Ende. Christus ist die Quelle der Liebe und des höheren Ich jedes Menschen. Jeder Sinn, der vom Menschen überhaupt empfunden werden kann, ist in ihm begründet.

Dabei ist zugleich die volle Freiheit möglich. Jede konkrete Aufgabe, jedes einzelne Ziel für seine freien Taten, wählt sich das höhere Ich selbst. Der "Erdensinn" ist nicht als vorgegebene Aufgabe zu verstehen, sondern als Ermöglichung und Grundlegung für jede denkbare oder wünschbare konkrete Entwicklung. Wenn man außerhalb des Menschen von Sinn spricht, meint man "sinnvolle", "zweckmäßige" Einrichtungen, die etwa im Pflanzen- oder Tierreich dem Erhalt der Art und der aufeinander abgestimmten Harmonie der Natur insgesamt dienen. Die Kreatur fragt nicht und kann es auch nicht ändern, wie sie dem Ganzen dient. - Der Mensch aber ist frei und muß erst beginnen, dem Ganzen wirklich zu dienen. In das Ganze kann er sich erst dadurch am besten einbringen, daß er aus Freiheit das tut, was er in seiner ganz besonderen Weise eben tun kann.

Entscheidend ist aber nicht der reine Inhalt der Tat, sondern die Liebe, mit der sie erfolgt. Man kann zu dem Gedanken kommen, daß die Liebe jeden Sinn erst begründet. Der eigentliche, der höch­ste für den Menschen faßbare Sinn ist es doch wohl, wenn die Welt zu einem Kosmos der Liebe wird. Welche Taten die Menschen auf diesem Wege tun, das wird sich aus der Sache selbst ergeben. Das Sinngebende jeder dieser Taten ist aber letztlich die Liebe, die sie trägt und der sie auch verpflichtet sind (indem es Taten der Liebe sind und sein wol­len). Weil der Sinn und das Sinngebende die Liebe ist, kann hier nie eine vorgegebene Aufgabe gemeint sein, denn die Liebe ist nur in absoluter Freiheit möglich und existierend.

Es geht aber auch nicht um die Liebe als Selbstzweck, das wäre ein Widerspruch in sich. Die Liebe ist immer auf etwas gerichtet und zwar ganz real und völlig. Wirkliche Liebe hat immer ein Ziel, in dem sie jeweils ihren Sinn ganz findet. So ist also die Liebe einerseits das Sinngebende, sie selbst richtet sich aber auf etwas, das nun zum eigentlichen Sinn wird. Damit wird für mich alles, worauf ich meine Liebe richte, zum Sinn. Hier hört alles Fragen nach dem Sinn (transzendent und teleologisch verstan­den) zunächst auf, denn alles was ist, stiftet mir Sinn, sobald es von meiner Liebe erfaßt wird.

Die Taten der Liebe werden darauf gerichtet sein, zu helfen, wirkliche Verbindungen zu schaffen und das Reich der Liebe zu erweitern. Diese Aufgaben sind nie zuende, denn jede Verbindung ist immer unendlich zu vertiefen, viele Verbindungen sind überhaupt schwer zu erreichen. Es geht um die wesenhafte Verbindung aller Menschen unterein­ander, und schließlich auch um die wesenhafte Verbindung zu einem Tier, einer Pflanze, einem Stein, zu den Ver­storbenen, zu den Engeln, zu den noch höheren Wesenheiten und zu Gott selbst. Wenn einst in dieser Weise wieder alles miteinander verbunden sein wird, dann ist Weiteres möglich, was jetzt jenseits alles Vorstellbaren liegt. Wer aber stets nach einem teleologischen Sinn des Kosmos fragt, der hat einfach die Liebe noch überhaupt nicht verwirk­licht oder kennengelernt. Jedes endlos beharrende Fragen nach einem Sinn entspricht noch dem niederen Ich, das nur tätig wird, wenn es weiß, daß das Ergebnis der Handlung wieder auf es selbst zentriert ist. Das höhere Ich handelt, weil es weiß, daß seine Handlung jetzt sinnvoll und notwendig ist, und es braucht nicht zu wissen, ob die Welt mit ei­nem "letzten" Sinn verbunden oder absolut unendlicher Entwicklung (womit das Fragen auch aufhören würde) fähig ist.