02.09.2001

Die ganz andere Partei - wie ist sie möglich?

In der Zeit, als ich das Buch „Der Terror der Ökonomie“ von Viviane Forrester las (aber auch „Die Globalisierungsfalle“ und andere), erlebte ich mit großer Intensität, wie in der Politik ein „Schwarzes Loch“ klafft. Wie es nirgendwo eine Partei gibt, deren Mitglieder sich von unerschütterlichen Idealen leiten lassen und zu all den großen gesellschaftlichen Fragen der heutigen Zeit einen wahrhaft menschlichen Standpunkt entwickeln. Anfang September 2001, also eine gute Woche vor dem 11. September, formulierte ich meine Gedanken folgendermaßen:

Die heutige Situation der Menschheit

Heute stehen die Menschen inmitten eines Kampfes, der um den Menschen und die Menschlichkeit ent­brannt ist, auch wenn dies oft noch nicht voll erkannt wird. Wir leben in einer Zeit, in der das direkte Emp­finden dessen, was Menschsein bedeutet, drastisch abnimmt und gleichzeitig die gesamte wissen­schaft­liche, technische und wirtschaftliche Entwicklung sich von ethischen Normen immer weiter abkoppelt. Diese Prozesse verstärken sich gegenseitig und bedrohen das menschliche Zusammenleben.

Die wirkliche Menschwerdung ereignet sich in unserer Zeit. Es ist heute notwendig, daß der Mensch sich und sein soziales Wesen neu erkennt und verwirklicht.

In der Vergangenheit wuchs der Mensch in kleinere und größere Gemeinschaften (Familie, Stadt, Volk) mehr oder weniger selbstverständlich hinein und fühlte sich ihnen un­mittelbar zugehörig. Immer stärker trat jedoch daneben das Erleben der eigenen Individualität auf (man denke etwa an den histori­schen Zerfall der Groß­familie und die Abnahme des krassen Nationalismus).

Dieses Erlebnis der Individualität wird sich weiterhin verstärken und alle traditionellen Bindungen weitest­ge­hend auslöschen. Diese geschichtliche Bewußtseins-Entwicklung war und ist die Voraussetzung für das moderne Freiheits-Erlebnis des Menschen. Aus Monarchien und Diktaturen wurden Demokratien, weil sich dieser Impuls geltend machte. Die Verwirklichung des bewußten, freien Individuums ist ein allergrößter Schritt auf dem Wege der Mensch­­werdung. Die Individualisierung des Bewußtseins ist eine unaufhebbare Errungen­schaft der Menschen.

Die wirkliche Freiheit ist aber noch nicht erreicht. Gerade deshalb ist die bisher erreichte Freiheit heute äu­ßerst bedroht. Durch den fortschreitenden Individualismus wird die Demokratie von zwei Seiten seit langem ausge­höhlt. Politiker begeben sich ihres wahren Mandates, handeln zunehmend im Sinne wirtschaftlicher Interessen­grup­pen bzw. Ideologien und geben sich ihren Bedürfnissen nach Geld und Entscheidungsmacht hin. Die übrigen Men­schen tun vielfach das Gleiche, wo sie können. So ist aus der Demokratie eigentlich schon lange eine bloße Ansammlung von Menschen geworden, unter denen der Egoismus unaufhaltsam zunimmt.

Freiheit ist aber immer auch Freiheit des Andersdenkenden (Rosa Luxemburg). Wahre Freiheit ist mit Egois­mus ganz unvereinbar, denn in Wahrheit ist der Mensch innerhalb der Grenzen seines Egoismus eben seinen Begierden und Wünschen unterworfen - also gerade unfrei! Das Geheimnis der Freiheit ist die Liebe. Überall dort, wo der Mensch über sich hinausblicken kann, macht diese Fähigkeit ihn frei von dem, was ihn in sich selbst festhalten will. Erst dann beginnt er, wirklich frei zu werden. Liebe meint jedes echte Interesse für etwas anderes um dieses anderen selbst willen. Liebe ist nicht Selbstver­leug­nung, sondern Selbst-Findung. Der liebende Mensch erlebt in sich eine wahrhaft wunderbare Fähigkeit und erkennt, daß alles, was ihn zum Egoismus treibt, seine wahre Menschwerdung verhindert. Das Geheimnis der Liebe aber ist - die Freiheit. Gerade darum kann wahre Liebe nie Selbstverleugnung sein, denn sie kann nur vom innersten Wesen her aktiv gewollt und getan werden.

Die Aufgabe der Politik

Heute geht es nicht darum, menschliche Gesellschaften politisch mehr oder weniger gut zu verwalten. Es wäre angesichts aller Versuchungen unserer Zeit heute unbedingt notwendig, daß nur solche Menschen von der Gemeinschaft ein Mandat, d.h. eine Aufgabe, bekommen, die in jedem Moment empfinden können, daß sie aus Liebe zu dieser Gemeinschaft handeln. Darüber hinaus müßten sie ein Bewußtsein dafür haben, was dieser Gemeinschaft wahrhaft dient. - Ein Mandatträger muß immer die ganze Gemeinschaft im Bewußt­sein haben und darf sich nicht Sonderinteressen hingeben. Er muß aber in besonderem Maße die Schwäch­sten im Be­wußtsein haben, denn diese befinden sich immer in akuter Gefahr, aus der Gemeinschaft heraus­zufallen (heute sind leider viele faktisch von der Gemeinschaft ausgeschlossen).

Das eigentliche Aufgabengebiet der Politik ist der Bereich derjenigen Entscheidungen, die das direkte mensch­li­che Zusammenleben betreffen. Die Politik muß allgemeine Rechte und Pflichten formulieren - Rechte im Hin­blick auf die Freiheit jedes Individuums, Pflichten im Hinblick auf das Wohl der Gesamtheit.

Die Politik muß sich aus dem Bereich der Wirtschaft und dem Bereich des Geistesleben (Kultur, Religion, Er­ziehung, Forschung etc.) unmittelbar heraushalten. Sie hat jedoch z.B. zu bestimmen, wie die Lebens­grund­lagen und die Menschenwürde zu schützen sind (Stichworte: Ökosteuern, Sozial- und Arbeits­gesetz­gebung). Dabei muß über die Ländergrenzen hinausgedacht und -gehandelt werden (etwa Zölle bzw. direkte Einfuhr­beschränkungen gegen andere Länder bei Ausbeutung von Lebensgrundlagen oder Menschen). Im Bereich des Geisteslebens müssen Lösungen gegen jegliche Diskriminierung gefunden werden. Die Politik darf weder be­stimmte Schulformen, noch bestimmte Forschungsrichtungen etc. auch nur bevorzugt fördern. Jede staatliche Bevorzugung der Amtskirchen (mehrere Milliarden Mark Subventionen jährlich!) muß aufgehoben werden.

Politik und Gemeinschaft

Zu allen großen gesellschaftlichen Fragen muß eine gesamtgesellschaftliche Diskussion geführt werden. Hier stehen die Medien in der Verantwortung, tatsächlich Medium zu sein. Die Politik muß mithelfen, daß die Su­che nach dem, was der Gemeinschaft wirklich dient, nicht von Wirtschaftsinteressen, Technologie­gläu­bigkeit, Fortschrittsideologie (als Zweck an sich) und anderem verdrängt wird. - Es ist Aufgabe der Politik, die Dis­kus­sion in die Gemeinschaft zu tragen, indem sie kritische Punkte und Fragen immer wieder öffentlich macht. Sie muß auch zeigen, daß es oft gerade auf die Artikulation der Menschen ankommt, damit mächtigen Sonder­interessen entgegengetreten werden kann. Sie muß zeigen, daß es immer wichtiger wird, daß sich jeder einzelne (nicht nur Small-Talk-Meinungen, sondern) begründete Urteile und Über­zeugungen erarbeitet und - dann - auch mitspricht.

Die Politik braucht das Engagement und das Wissen der Gemeinschaft. Sie muß mit denjenigen Menschen und Menschengruppen zusammenarbeiten, die im jeweils in Frage kommenden Bereich fundiertes Wissen haben und nicht von Sonderinteressen geleitet sind. Es wird sich also in der Regel um solche Menschen­(gruppen) handeln, die nicht direkt im Wirtschaftsleben stehen (solche nur als zusätzliche Berater oder wenn in Ausnah­me­fällen niemand anders zu finden ist, oder aber wenn sicher von ihrem ungetrübten Interesse am Wohl der ganzen Gemeinschaft auszugehen ist). Die Zivilgesellschaft und das hier mögliche Engagement sind von größter Wichtigkeit für die Gestaltung des sozialen Zusammenlebens.

Eine menschliche Gemeinschaft

In bezug auf die menschliche Gestaltung der Gesellschaft muß begonnen werden, über Geld und Arbeit anders zu denken. Wenn wirklich der Mensch in seiner ganzen Würde erkannt und anerkannt werden soll, dann muß sich der Begriff Arbeit völlig wandeln. Es müßte zunächst die Idee gefaßt werden, daß es absolut unmenschlich ist, wenn ein Mensch gezwungen ist, "sich auf dem Arbeitsmarkt anzubieten". Heute wird der Mensch in die­ser Hinsicht tatsächlich noch wie eine Sache behandelt. Es besteht die menschliche Notwen­digkeit, den Begriff der Arbeit völlig von einem etwaigen Lohn abzukoppeln. Die Garantie eines menschen­würdigen Lebens darf nicht davon abhängen, ob jemand eine Arbeit hat. Die Realität heute ist, daß die meisten Menschen etwas tun, was sie nicht wollen und ihnen verwehrt ist, das zu tun, was sie wollen (man meine nicht, daß viele am liebsten gar nichts tun würden; da projiziert man höchstens seine eigene antiso­ziale, hedonistische Einstellung nach außen). Realität ist, daß jemand, der seine Arbeit verloren hat, ge­­zwun­­gen wird, Tag für Tag irgendeine Arbeit zu suchen. Dabei wird er zumeist auch noch mehr oder weni­ger verachtet. Dabei ist offensichtlich, daß Arbeit im herkömmlichen Sinne immer weniger existiert. Die Entwicklung geht hin zu einer Wirtschaft, die schließlich nur noch 20% der "Arbeitskräfte" brauchen und wollen wird.

In Zukunft, wenn diese menschlich sein soll, muß es eine Grundsicherung für jeden einzelnen geben, der sich dann völlig frei mit seinen Fähigkeiten in die Gemeinschaft einbringen kann. Auch die gesellschaftliche Bewertung der Berufe muß sich entsprechend deren wahrer Bedeutung wandeln. Die aufopfernde Arbeit der kleinen Bauern muß etwa geachtet werden, ebenso die der Müllmänner, Putzfrauen, Bauarbeiter... Ihre Arbeit ist ebenso notwendig wie die eines Arztes, Piloten oder Lehrers. Die über die Grundsicherung hinaus beibe­haltenen Zahlungen müssen den wirklichen Wert des Getanen wiederspiegeln. Und wenn keiner mehr Müll­mann sein wollte, dann müßte es eben weniger Müll geben. Oder man bietet besondere "Löhne" dafür, daß sich dennoch Menschen dafür finden. - Das Thema Arbeit wirft viele Fragen auf (so sollte es aber auch sein!). Es gibt aber auch viele Möglichkeiten. Entscheidend ist die Frage, ob wir die Menschlichkeit in den Mittelpunkt unseres Fragens stellen, oder nicht.

In bezug auf moderne Technologien ist sicherzustellen, daß wirtschaftliche oder andere Sonderinteressen sich nicht über die Menschlichkeit stellen können. Dazu müssen mit Hilfe der ganzen Gemeinschaft gesetz­liche Regelungen gefunden werden. So wäre etwa die Patentierung von Genen zu verbieten. In bezug auf das Klonen muß die Gemeinschaft entscheiden, ob Menschenwesen geschaffen werden dürfen, die nur dem egoistischen Wunsch nach perfekten Kindern oder dem Bedürfnis nach transplantierbaren Organen ent­springen. Ebenso muß die ganze Gemeinschaft diskutieren und entscheiden, ob und wie sie den Gebrauch der Atomkraft, die Tierquälerei aus verschiedensten Gründen, die Beeinträchtigung der Lebensgrundlagen etc. einschränken oder ganz verhindern will.

Dieses Feld, auf dem es um das Selbstverständnis dessen geht, was menschlich ist und was die wahren Ziele menschlicher Gemeinschaft und menschlichen Daseins sind, das ist der Aufgabenbereich der "Politik". Auf­gabe der Politiker ist es, die wahren Entwicklungstendenzen des werdenden Menschen zu ahnen bzw. aufzu­greifen und durch Ausarbeitung entsprechender verbindlicher Regeln das Zusammenleben der Gemeinschaft zu ermöglichen. Die Politiker haben das Mandat der Gemein­schaft (die sie dabei unterstützt), dem immer wieder und heute immer mehr bekämpften Menschentum den Weg zu bereiten.

Eine neue Partei?

Man muß diese Aussagen und Ziele zunächst in ihrem vollen Gehalt und ihren Konsequenzen begreifen. Es ist erkennbar, daß nicht nur die existierenden Parteien größtenteils sehr weit entfernt davon sind, sondern daß es überhaupt äußerst schwer sein dürfte, innerhalb der Organisationsform einer Partei diese Aussagen und Ziele mit Realität zu füllen und in der Realität durchzutragen. Eine entsprechende neue Partei hätte voraus­sichtlich (zunächst...?) auch wenig Chancen, einen bedeutenden Anteil der Stimmen bei einer Wahl zu bekommen. Sie wäre aber ein Faktor in der Parteienlandschaft, der vielen Menschen erstmals die Möglichkeit gäbe, wirklich ehrlich zu stimmen. Gemeint sind die Menschen, die erstmals einer Partei ihre Stimme geben können, von der sie wirklich empfinden, daß sie ihre innersten Überzeugungen vertritt. - Diese Partei hätte nicht das Bestreben, an der Regierung teilzunehmen, weil sie weiß, daß sie stets Kompromisse schließen müßte, wo es für sie keine Kompromisse gibt. Die hauptsächliche Bestrebung dieser Partei - neben der ganzen inhaltlichen Arbeit, etwa der kontinuierlichen Erarbeitung von Gesetzesvorschlägen und den Kontakten mit verschiedensten gesell­schaft­lichen Gruppen - wäre es, einfach dazusein und in ihrer Existenz zu zeigen, daß sie wirkliche Überzeu­gun­gen wirklicher Menschen repräsentiert.

Fragen

Gibt es genug Menschen, die ein derart selbstloses Interesse am Ganzen haben und ihre Aufgabe darin sehen, das Wohl des Ganzen auf dem undankbaren und korrupten Feld der Politik zu vertreten? Wie finden sie sich?

Wie ist es möglich, eine solche Partei vor aktiven Mitgliedern zu schützen, die die geschilderten Ziele und Überzeugungen gar nicht vertreten und leben können oder wollen?

Wie kann in einer solchen Partei gemeinsam gearbeitet werden? Wie können die nötigen Aufgaben sinnvoll und im Konsens verteilt werden? Wie kann man das (begründete) Vertrauen und auch die Toleranzfähigkeit errei­chen, die es braucht, damit verschie­dene Menschen sehr selbständig arbeiten können?

Wie bilden sich innerhalb dieser Partei die Urteile bei der Frage, was in bezug auf die verschiedensten Lebens­bereiche wahrem Menschsein entspricht?

 

Ergänzungen

Ich hatte meine Gedanken einem Menschen geschickt, der gerade einen Aufsatz veröffentlicht hatte, welcher mir aus der Seele zu sprechen schien. Als ich seine Antwort bekam, enthielt diese verschie­dene Einwände gegen eine „neue Partei“. Einige dieser Einwände hatte ich mir auch schon selbst gemacht und innerlich beantwortet. Aber nun faßte ich meinen Standpunkt zu diesen Einwänden noch einmal zusammen und erweiterte die Dar­stellung meiner Gedanken.


Seit einigen Monaten erlebe ich sehr stark ein (natürlich schon vorher existierendes) „Schwarzes Loch“ auf der politischen Ebene.
Die ganze Welt, so scheint es, läuft freudig entschlossen der perfekten Globalisierung, d.h. einer per Gesetz (GATS etc.) von jeder Möglichkeit der Regulierung befreiten Konkurrenz-Wirtschaft entgegen. Was hier auf dem Spiel steht an völligem Verlust jeder Möglichkeit menschlicher Regelungen, die das reine Sich-Ausleben von Profitstreben begrenzen oder sogar verwandeln könnte, kann man sich ja kaum klarmachen. In welchem Ausmaße dies den Abgrund zwischen Erster und Dritter Welt und innerhalb dieser beiden zwischen Arm und Reich zementieren und stetig vergrößern würde, ist geradezu unglaublich. Man fragt sich doch, wie Menschen überhaupt denken können, die globale Deregulierung würde für das Ganze positiv sein! Was ist das für eine Zeit, in der der italienische Ministerpräsident, verantwortlich für den menschenverachtenden Polizeieinsatz in Genua, im Hinblick auf die Ereignisse in den USA beiläufig sagen kann, es gebe auffällige Ähnlichkeiten zwischen Globalisierungsgegnern und Terroristen (BZ vom 27.9.)? Dazu kommt dann die Gentechnik, die stillschweigend ihren Gang gehen wird, und so weiter. Das „Schwarze Loch“, was ich nun geradezu als brennenden Mangel empfinde, ist eben das Fehlen einer in sich geschlossenen, authentisch-menschlichen Alternative – und zwar auf dem politischen Parkett, d.h. als Partei. Innerhalb jeder Partei wird es Menschen geben, die frei von jeder Blendung durch „Sachzwänge“ rein menschlich denken und klar sehen, aber diese werden innerhalb fast ohne Einfluß sein und außerhalb von den Wählern nicht bemerkt (und selbst wenn sie be­merkt würden, was dann?).

Es gibt Menschen, die wahrhaft menschlich denken und handeln (wollen), d.h. denen es wahrhaft um das Wohl des Ganzen (d.h. der Menschheit und der Erde mit allen Wesen) geht und nicht in erster Linie um sich selbst. Natürlich ist die Zahl derer, die dies von sich behaupten würden, noch viel größer, denn gerade bei der Selbstlosigkeit oder auch nur bei der Verwandlung des Egoismus kann die Illusion oft leicht ihr Werk tun. Ich meine aber jetzt die Menschen, die ganz ehrlich wahre soziale Impulse in sich tragen und wirklich für das Heil des Ganzen etwas tun wollen. Dazu kommen dann als zweites die Menschen, die erkennen oder fühlen, daß dies nötig wäre, also daß die Welt nicht so weiterlaufen kann wie jetzt, die aber selbst nicht die Impulse haben, dabei mitzutun.

Aber alle diese Menschen, die mit dem jetzigen „Entwurf“ nicht übereinstimmen, weil er im Gegensatz zu ihren tiefsten Überzeugungen steht, müßten in unserem repräsentativen politisch-gesellschaftlichen System auch repräsentiert sein können. Schon die reine Signalwirkung, die es hätte, wenn auf politischer Ebene wirklich auch erscheinen würde, was unter den Menschen an Überzeugung lebt, wäre absolut wichtig. Eine Partei, die Menschlichkeit und ihre Konsequenz in allen Lebensbereichen (hinsichtlich rechtlicher Regelungen, aber auch in Form konkreter Leitbilder) verfolgen würde, würde vielleicht nur von einem geringen Teil der Menschen wirklich gewählt werden. Aber dieser Teil der Menschen hat ein Recht darauf, daß seine Interessen auch in unserem jetzigen politischen System wahrgenommen werden. Und wenn eine solche Partei auch nur 10% der Stimmen bekäme, kämen in der Folge, wenn sie konkret politisch zu arbeiten beginnt, weitere Menschen hinzu, die die Richtigkeit ihrer Vorschläge erkennen und die Tatsache, daß es sich nicht um eine unmögliche Utopie handelt.

Meine Vorstellung ist nicht, von oben eine ideale Gesellschaft zu schaffen, sondern nur die Lücke zu füllen, die es auf politischem Felde gibt - hinsichtlich der Repräsentanz menschlicher Überzeugungen. Die institutionalisierte Politik, heute also die Parteien, soll ja die von den Menschen kommenden Impulse aufnehmen. Und da klafft doch heute in der politischen Landschaft ein riesiges schwarzes Loch, indem nichts da ist, was die geistoffenen, zukünftigen Impulse einer doch hoffentlich auch recht großen Zahl von Menschen aufnehmen würde - unter anderem (und ganz zentral) eben auch die Forderung nach sozialer Dreigliederung. Wie anders wäre die Situation, wenn diese Forderung nicht nur unentwegt von einem (kleinen) Teil der anthroposophisch arbeitenden Menschen gestellt würde, sondern - dies aufnehmend - innerhalb der Politik selbst, von einer ganzen Partei, die tatsächlich und ganz direkt geistdurchdrungene Ansätze verwirklichen möchte.

Jede gesellschaftlich-politische Forderung und jeder Vorschlag muß doch zur Realisierung letztlich im Gebiet der Gesetzgebung ankommen. Und auch in einer dreigegliederten Gesellschaft müssen doch Menschen von der Allgemeinheit das Mandat haben, Gesetze auszuarbeiten bzw. Gesetzes­vorschläge zu beschließen. Daß es in fernerer Zukunft vielleicht eine ganz andere Verfassung geben könnte, in der die "Politiker" nicht mehr in Parteien zusammengeschlossen sind, sondern (auch in der äußerlichen Form) völlig frei miteinander arbeiten, ist die eine Sache. Heute noch steht man gegen die übrigen Parteien selbst dann ziemlich allein, wenn man sich ganz bewußt zusammenschließt. - Eine Partei, deren Mitglieder konkret ein spirituelles Menschenbild haben, nimmt doch z.B. der Drei­gliederungsbewegung nicht etwa "das Heft aus der Hand". Denn natürlich besteht auch eine solche Partei aus Menschen, die das gleiche wollen, wie diejenigen, die der Politik erkenntnis-durchdrun­gene Vorschläge machen. Die "Partei", die ich meine, ist nichts anderes als ein Zusammenschluß von Menschen, die sich entschließen, direkt auf politi­schem Felde gemeinsam zu handeln und damit die Verbindung zu schaffen zwischen den Orten, wo selbstloses gesellschaftliches Engagement heute überall stattfindet und dem Ort, wo Erkennt­nis in das gesamtgesellschaftliche Leben einfließt (als Rechts­sprechung konkret wird).

Ich bin auch überzeugt davon, daß eine „ganz andere Partei“ nicht zwangsläufig korrumpiert werden würde, weil ich in allem, was den Menschen angeht, niemals von Zwangsläufigkeit ausgehen kann. Aber klar ist, daß das Prinzip der Partei sich überlebt hat und zu Grabe getragen gehört. Die von mir gemeinte Partei könnte durchaus das ausschließliche Ziel haben, diesen Prozeß zu beschleunigen, indem sie mit allen Kräften die Notwendigkeit der völligen Autonomie der gesellschaftlichen Teilbereiche öffentlich macht und sich für diese einsetzt. Indem sie lautstark verkündet, daß alle Einrichtungen, die nicht von der Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Individuums und aller gesellschaftlicher Gruppen ausgehen, nicht auf der Höhe der Zeit stehen, ja nicht einmal die Menschenrechte substantiell ernst nehmen. Indem sie klar sagt, daß es ihr ausdrückliches Ziel ist, innerhalb einer einzigen Legislaturperiode das ganze Parteiensystem mit seinem Sumpf aus Machtmißbrauch und Interessenverquickung überflüssig zu machen (wenn es zu einem Regierungsmandat kommt) und solche Regelungen zu schaffen, die das politische Leben, also die Rechts­sphäre, in die Hand der Zivilgesellschaft selbst legen. Und indem sie den Menschen verdeutlichen kann, daß dann kein gesellschaftliches Chaos ausbrechen würde.

Die Realität ist doch, daß es zwar Parteien heute gar nicht mehr geben dürfte, daß es sie aber immer noch gibt und durch sie sogar die allgemein verbindlichen Regelungen aufgestellt werden. Die Parteien sind bildhaft also mit dem Tyrannen vergleichbar, der die Fäden in der Hand hat, obwohl keiner mehr ihn will (und der sie in der Hand behält, weil immer noch die Mehrheit glaubt, sie könnte gegen ihn nichts ausrichten oder vielleicht auch, es gebe keine Alternative). Gegen eine Diktatur gibt es nun mindestens zwei Möglichkeiten: den Aufstand von unten und den Putsch von oben, d.h. vom bisherigen Gebiet der Macht selbst aus. In diesem Sinne kann die von mir gemeinte Partei nur als das Trojanische Pferd verstanden werden. Da sie selbst auch eine Partei ist, müssen die anderen Parteien die Macht in dem Moment an sie abgeben, in dem ihre Ziele von einer Mehrheit gewollt werden, d.h. eben: in dem die Mehrheit der Menschen sich gegen das Parteiensystem wendet.

Derselbe, gegen dieses System gerichtete Angriff kann natürlich auch von unten erfolgreich sein, indem etwa die Bewegung für direkte Demokratie allmählich eine Mehrheit erreicht. Hier aber müssen die Menschen sich z.B. noch in Unterschriftenlisten eintragen (dazu müssen sie überhaupt diesen Listen physisch begegnen; oft machen sie sich dann trotzdem nicht die Mühe, weil das Gefühl, nicht wirklich zu wissen, was daraus wird, sie davon abhält, eine möglicherweise sinnlose Unterschrift zu leisten; vielleicht aber lehnen sie die Unterschrift sogar deshalb ab, weil sie ihnen zu passiv oder zu anonym ist! Dies sind übrigens – entsprechend dem Korruptions-Einwand gegenüber einer ganz anderen Partei - meine „realistischen“ Bedenken gegenüber einer nur von unten kommenden Bewegung. Denn wie erreichen solche Bewegungen die Ebene, auf der heute noch entschieden wird? Durch Anträge und Unterschriftenlisten. Gegen das parlamentarische System wird kaum das ganze Volk auf die Straße gehen, wie es am Ende gegen die DDR-Diktatur geschah). – Der Weg von oben hätte noch einen anderen Vorteil (auch insofern oder jedenfalls insofern er mehrere Menschen davon überzeugen würde, daß „sich wirklich etwas ändern wird“ – und jene dann aktiv werden, obwohl sie sich z.B. nicht in Listen eingetragen hätten): Eine Partei, die dazu das Mandat bekäme, könnte als wichtigste (und letzte) Amtshandlung effektiv und schnell die recht­lichen Rahmenbedingungen der Dreigliederung schaffen. Es könnte auch dies alles natürlich von unten erreicht werden, aber auch das würde wohl wiederum schwieriger sein.

In jedem Fall denke ich, daß viele Menschen, auf die eben nicht verzichtet werden kann, nur durch eine Initiative von oben erreicht werden, weil eine solche bei diesen einfach mehr Kredit hat. Aber unabhängig von der Frage, welches Vorgehen erfolgreich(er) wäre, wird durch eine Bewegung von oben das Erreichen des Zieles in noch größere Nähe rücken. Der angestrebte „Putsch von oben“ tritt ja – „nur“ – zu der Bewegung von unten hinzu, die schon im Gange ist und auch bleibt. – Die hier gemeinte Partei will einfach ein weiterer Ansatz im Kampf um wirkliche Demokratie sein. Sie will ja gar nicht „ganz anders“ Politik machen. Insofern besteht gar nicht die Gefahr, daß dieses „ganz anders“ wie bei den Grünen irgendwann verloren geht. Das Prinzip der Partei soll weichen, und die hier von mir gemeinte Partei möchte als „Schaf im Wolfspelz“ dazu beitragen. Im Sinne des Trojanischen Pferdes, das ja seine Aufgabe nach dem Sieg erfüllt hat, müßte man zum besseren Verständnis von „Anti-Partei“ sprechen.

Die Gefahr der inneren Korrumpierung (oder auch der „Unterwanderung“) ist natürlich trotz allem gegeben, zumal wenn die Partei nicht schon bei der ersten Wahl von der Mehrheit das Mandat bekäme, sondern zunächst als Opposition ihr Ziel und dessen Bedeutung weiter verbreiten und klar vertreten müßte. Die Frage ist, ob man dieses Ziel in der Satzung so festschreiben könnte, daß man es gar nicht anders auslegen oder gar aushebeln kann, d.h. daß die Partei gar nicht „bürgerlich“ werden könnte, sondern unveränderlich immer direkt darauf abzielen würde, sich selbst überflüssig zu machen. Eine andere Frage ist, ob die Beseitigung des Parteiensystems der Verfassung widerspricht und in diesem Fall, welche weniger radikale, der Dreigliederung entsprechende Alternative gerade noch verfassungskonform wäre. – Eine Unterwanderung würde dann weniger gefährlich sein, wenn von Anfang an genügend Menschen wirklich hinter dem Ziel stehen und als „Hüter der ursprünglichen Intention“ wirken können und würden. Von der Zahl dieser Menschen hängt auch ab, welche Folgen Spott und Nichtbeachtung durch Medien und „Öffentlichkeit“ haben würden. Welche Einrichtungen der Zivilgesellschaft haben ein Interesse an weniger Parteienmacht, d.h. an der Dreigliederung? Eigentlich alle, außer den Parteien selber und solchen, die die Parteien zum Werkzeug ihrer Interessen machen. Es setzen sich doch zahllose Menschen in den verschiedensten Vereinigungen für eine "bessere Welt“ ein (natürlich auch einzeln; die Vereinigungen machen aber ihre Zahl offensichtlich). Egal auf welchem Fach­gebiet – Ökologie, Dritte Welt, Menschenrechte, Bildung etc. -, immer kämpfen sie doch dagegen an, daß essentielle Fragen, die alle Menschen angehen, von wenigen Macht-Habenden im Sinne der herrschenden ökonomisch-neoliberalen Ideologie entschieden und für alle verbindlich geregelt werden. Die große Mehrheit der gesellschaftlich engagierten Menschen erkennt, daß dabei der einzelne Mensch, ja der Mensch überhaupt und damit auch seine ganze Mitwelt auf der Strecke bleibt, weil das Individuum mit seinem Recht und seiner Fähigkeit der Eigenverantwortung kaum noch gesehen bzw. gar nicht mehr für möglich gehalten wird.

Es müßte nun doch möglich sein, die Idee einer solchen Anti-Partei zu verbreiten, bis sie innerhalb aller sich engagierender Initiativen bekannt ist. Ich bin überzeugt, daß eine solche Anti-Partei dann irgendwann auch in den Medien nicht mehr totgeschwiegen oder im Feuilleton belächelt werden kann (eher besteht die Gefahr, daß die Idee dann als hochstilisierte Sensation im Sinne eines Strohfeuers verbrannt wird). Genug bekannt müßte die Idee jedenfalls gemacht werden können. – Und dann könnte man den Versuch der Gründung wagen in der Hoffnung, daß wirklich viele Menschen, die sich schon jetzt in den verschiedensten Vereinigungen für eine "bessere Welt“ einsetzen, dieser Anti-Partei beitreten bzw. sie wählen werden. Weil sie erkennen, daß das – einzige – Ziel dieser Anti-Partei ist, die Rahmenbedingungen zu schaffen, auf deren Basis die menschlichen Ziele dieser verschiedensten Initiativen und Vereinigungen eine Chance haben werden. In diesem Sinn ist die Anti-Partei wirklich das Einfallstor, durch das die Unzufriedenen in die Festung der Parteien eindringen und sie mit Haut und Haar (mitsamt dem Parteiensystem selbst) hinauswerfen. Wenn nur wenige Menschen es für aussichtsreich halten, dieser Anti-Partei beizutreten, wird es sich „nur“ um einen Putsch(versuch) von oben handeln, wenn es viele Menschen sein werden, ist es de facto ein wirklicher Volks­aufstand. Da es im weiteren dann nicht um Machtausübung, sondern Macht-Abschaffung geht, sind beide Aspekte im Grunde identisch. Und in diesem Sinne sind auch die Bewegungen für direkte Demokratie und die Idee dieser Anti-Partei nicht wesentlich verschieden. Ich möchte nämlich dies zu bedenken geben: Ausgangspunkt sei, daß es möglich ist, die Intentionen dieser Anti-Partei klar und unmißverständlich auszusprechen. Wenn man diese Möglichkeit zugibt und dann den Einwand der fehlenden Beachtung und Unterstützung aufrecht erhält, dann wiegt dieser Einwand für jede Bewegung für direkte Demokratie mindestens genauso schwer. Denn wenn es klar ist, daß es sich bei dieser Anti-Partei wirklich nicht mehr um eine Partei handelt, sondern um eine Art des Vorgehens, dann kommt es nur noch auf die Initiative der Menschen an – wie bei jedem anderen Versuch, Menschen zu erreichen.

Es gibt genügend Menschen, die Entwicklungen überhaupt (also auch zum Guten) für möglich halten und nicht auf einen sich selbst für weise (weil Veränderungen zum Guten für unmöglich) haltenden, passiv beobachtenden Zynismus herabgesunken sind. Wenn solche Menschen die Berechtigung oder sogar Notwendigkeit einer solchen Anti-Partei verteidigen (als Ergänzung der Bemühungen von unten), dann werden sich auch die Medien überlegen müssen, wie sie sich zu einer solchen Anti-Partei und ihrem Anliegen äußern wollen. – Im übrigen muß man gegenüber sich selbst stets wachsam sein, inwieweit man das Ausmaß des potentiellen Gegnertums wirklich realistisch niedrig genug einschätzt und inwieweit man sich eine fürchterliche, prinzipiell gegnerische und uneinsichtige, d.h. das Gute (= heute Notwendige) geradezu bekämpfende, böse an sich seiende Gegnerschaft nur immer wieder vorstellt. Dies ist natürlich eine Versuchung, der keiner so leicht entgehen kann, weil eine solche Vorstellung halb auf Vergangenheits-Erfahrung gestützt ist, halb äußerst sympatisch ist, weil ihr die Vorstellung von der eigenen „Heiligkeit“ entspricht (diese erscheint zwangsläufig um so größer oder entwickelter, je übler der Gegner eingeschätzt wird). – Natürlich kann man davon ausgehen, daß der Anti-Partei ungeheuer viel Hohn begegnen wird. Doch der Hohn über den „Idealismus“ z.B. wird um so weniger greifen, als diese Anti-Partei gar nicht vorhat, idealistisch wirksam zu werden, sondern nur der Zivilgesellschaft und den anderen Gliedern des sozialen Organismus die ihnen zustehenden Wirkmöglichkeiten zu verschaffen. Und dies nicht aus einem mystischen, naiv-übermütigen Idealismus heraus, sondern aus einem klaren Erkennen der heutigen Notwendigkeiten. Dem liegt also ein idealistischer Realismus zugrunde: ein heißes Herz und ein kühler Kopf. Wer es wissen will, wird es wissen. Auch die Medien werden wissen, daß ihr Hohn eine Lüge ist, und daß die Menschen, auf die es ankommt, sich davon nicht beeindrucken lassen.