24.09.2001

Schriftprinzip oder der lebendige Christus?

Brief an Matthias Pöhlmann von der Evang. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen nach dessen Vortrag in der Berliner „Urania“.


Sehr geehrter Herr Pöhlmann,

ich schreibe Ihnen im Anschluß an Ihren Urania-Vortrag vom 19.9. und unser kurzes anschließendes Gespräch über Sola Scriptura („allein die Schrift“), Reinkarnation und Christus-Begegnungen.

Ich hatte ja direkt nach Ihrem Vortrag kritisiert, daß Sie im Vortrag alle Schilderungen übersinnlicher Erfahrungen über einen Kamm scheren, ohne ein Urteil darüber hinzuzufügen, ob Sie es überhaupt für möglich halten, daß solche im Einzelfall authentisch sind und welche übersinnliche Wirklichkeit dann dahinter steht. Während ich also den Vortrag für ziemlich tendenziös hielt (was von einem bestimmten Standpunkt aus angesichts des riesigen Esoterik-Marktes wohl auch nötig ist), konnte ich im anschließenden Gespräch schließlich feststellen, daß Sie nicht davon ausgehen, auf alles fertige Antworten zu haben, und insofern wirklich undogmatisch sind.

Als ich die Frage stellte, ob sich durch menschliche Erfahrungen herausstellen könnte, daß die Reinkarnation nicht im Widerspruch zum Christentum stehe, sagten Sie am Ende, diese Frage muß offenbleiben.

Für mich bedeutet Sola Scriptura das Festsetzen eines Prinzips, mit dessen Hilfe sich die unkontrollierbare Entwicklung falscher Anschauungen abwehren läßt. Aber es darf nicht sein, daß ein von Menschen aufgestelltes Prinzip dazu führen könnte, daß man irgendwann an den Offenbarungen eines lebendigen Christentums vorbeigeht, weil eine bestimmte Wahrheit nicht schon bis zu einem bestimmten Stichtag 1900 Jahre vorher von Christen explizit niedergeschrieben worden ist. Und trotz aller Gefahren des Mißbrauchs müssen die Menschen und gerade die Christen heute die Fähigkeit erwerben, mit Hilfe ihres christlich gewordenen Gewissens selbst „Evidenzerlebnisse“ zu haben, wo in verschiedensten Behauptungen das Christliche liegt.

Gerade die apokalyptischen Teile des Neuen Testaments deuten an, daß Christus in Zukunft (also auch heute) den Menschen nicht ferner ist als damals. Aus der Nähe des Christus heraus wird es für alle Menschen, die guten Willens sind, mehr und mehr möglich sein, das Christliche in allem zu erkennen und „die Geister zu scheiden“. Als Christus vom Heiligen Geist sprach, den er senden würde, sagte er auch: Ihr werdet die Wahrheit erkennen. Die Schrift ist dann nach wie vor die hervorragendste äußere Stütze der menschlichen Urteile, aber nur das eigene Urteilsvermögen (in und aus der Nähe des Christus) schließt Gegenwart und Zukunft mit ein, also die Möglichkeit, daß die jeweils gegenwärtige Erkenntnis christlicher Wahrheit eine verwandelte oder sogar erweiterte Gestalt gegenüber der vor 1900 Jahren niedergelegten Form haben kann.

Das Gesetz der Verwandlung und auch das der Entwicklung ist ja das christliche Prinzip schlechthin. Nur muß man hier eben die Geister scheiden können. Aber vielleicht zeigt sich auch das Wirken des Heiligen Geistes heute anders als damals. Vielleicht ist die heutige Geistesgabe gerade, die Geister immer mehr scheiden und das Christliche immer klarer erkennen zu können – eine Fähigkeit, die sich weiterhin über eine wohl sehr lange Zeit noch entwickeln muß. Nun, nach unserem Gespräch bin ich überzeugt, daß Sie meine Ausführungen zumindest für möglich halten können.

Ich wollte auf dieser Vorrede aufbauend über etwas anderes schreiben, nämlich über das Gespräch der verschiedenen christlichen Gemeinden und Kirchen. Dies war ja zu allen Zeiten schwierig und ist doch so dringend nötig. Und wenn ich Menschen wie Ihnen begegne, kann ich immer nur zu dem Glauben kommen, daß es auch wirklich möglich ist. Ich bin mit der Christengemeinschaft verbunden, die ja wesentliches ihres erneuerten Kultus und ihrer Überzeugungen (pauschal gesagt, denn es gibt keine Dogmen) der durch Rudolf Steiner begründeten Anthroposophie verdankt. Jetzt werden Sie mein besonderes Interesse an der Beziehung von Reinkarnation und Karma besser verstehen können.

Die evangelische Kirche hat die Christengemeinschaft ja zumeist sehr ausgegrenzt. Ihre Taufe erkennt sie bis heute nicht an und so weiter. Aber das ist nun auch ein historisches Faktum, von dem man sich nicht einfach entfernen kann. Doch das gemeinsame Gespräch könnte doch vielleicht auch auf evangelischer Seite als wichtig empfunden werden. Ich möchte Sie mit diesem Brief fragen, ob Sie eine Möglichkeit zu solchem Austausch sehen oder sogar eine Begegnung vermitteln könnten. Nun sind die Beauftragten für Weltanschauungsfragen vielleicht nicht in der besten Rolle dafür. Eventuell hält man seitens der Kirche ja schon einen Vermittlungs-versuch für eine abtrünnige Erscheinung. Und auch die Darstellung von Mynarek über kirchliche Sektenbeauftragte („Die neue Inquisition“) berechtigt nicht zu der Hoffnung, daß es auch offene, vorurteilsfreie Kirchenbeauftragte geben könnte, denen nicht daran liegt, nur die Macht und den Alleinvertretungsanspruch ihrer Institution zu befestigen.

Aber die Begegnung mit Ihnen hat wieder bewiesen, daß man immer mit allem rechnen kann. Mit Ihnen war das Gespräch eine wirkliche Freude. - Sehen Sie denn Möglichkeiten zu Gesprächen zwischen der evangelischen Kirche und der Christengemeinschaft? Das heißt, sind Ihnen Menschen oder Kreise Ihrer Kirche bekannt, die ein wirkliches Interesse an einer Begegnung haben würden? Auf Seiten der Christengemeinschaft sehe ich diesen Wunsch deutlich und könnte vermitteln und organisieren. Natürlich wäre es wichtig, daß Menschen zusammenkommen, die wirklich sehr frei von Vorurteilen und versteinerten Standpunkten sind, und die sind auf allen Seiten nicht immer einfach zu finden! Andererseits können Gespräche nur dazu führen, daß die Zahl solcher Menschen mehr und mehr wächst.

Ich hoffe, Sie haben im Rahmen Ihrer Tätigkeit die Zeit und den Raum, mir zu antworten und ich freue mich sehr auf Ihre Antwort.