14.10.2001

An den Bundeskanzler

Am 14.10.2001 schrieb ich an Bundeskanzler Gerhard Schröder folgenden, unbeantworteten Brief.


Sehr geehrter Herr Schröder,

ich schreibe Ihnen aus einem tiefen Gefühl der Verantwortung für Deutschland und Europa.

Zwei Ereignisse haben mich in diesem Jahr am meisten erschüttert: Die Ereignisse um den Wirtschaftsgipfel in Genua und der Terroranschlag vom 11.9. und die Reaktion darauf. Da Sie eine sehr arbeitsreiche Aufgabe haben, fasse ich mich so kurz wie möglich, auch wenn so vieles zu trocken klingen wird.

In Genua wurden friedliche Menschen von Polizeikräften nachts überfallen, mißhandelt und in vielen Fällen tagelang festgehalten, teilweise bis heute. Nicht nur Berlusconi ist dabei, die Kritiker der gegenwärtigen Form der Globalisierung verbal zu kriminalisieren. Was liegt hier vor? Eine bestimmte Position bezüglich einer wirtschafts-thematischen Weltanschauungsfrage wird über grund­legende Menschenrechte gestellt: Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, friedlicher Protest. Ver­treter der Politik dürfen Menschen mit anderen Überzeugungen pauschal und offiziell verleumden. Sollte das der Inhalt von Demokratie sein? Schon der Begriff Globalisierungsgegner ist ein Unwort à la George Orwell. Man kann durchaus mit Recht den Standpunkt vertreten, daß die hier gemeinten Menschen die einzig wahren Weltbürger sind, weil sie versuchen, die Eine Welt im Bewußtsein zu haben; weil sie Verantwortung und Schuld gegenüber jedem einzelnen Menschen fühlen. Weil sie tatsächlich Globalisierung wollen: Globalisierung der Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit.

Die neoliberale Wirtschaftspolitik führt zunächst einzig zur Freiheit von Kapitalinteressen und beschränkt die Freiheit der Menschen (wer als Globalisierungsgegner klassifiziert ist, wird zu bestimmten Zeiten nicht mehr das Land oder sogar das Haus verlassen dürfen etc.). In diesen Tagen haben Amerikaner den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften bekommen, die sich mit Fragen ungleicher Voraussetzungen der Marktteilnehmer beschäftigt haben. Der „ideale, gleichberechtigte Markt“ existiert nicht real. Die „entwickelten“ Länder können Produkte exportieren, die nach einer jahrzehntelangen Rationalisierung mit höchster Produktivität massenhaft hergestellt werden. Diese Produkte sind so gesehen konkurrenzlos, allen anderen überlegen. In jedem Land, das sich dem globalen Ansturm öffnet, brechen unzählige Sparten der einheimischen Wirtschaft wie ein Kartenhaus zusammen.

Ein weiterer Punkt ist, daß die armen Länder verzweifelt versuchen, ausländische Unternehmen ins Land zu bekommen, weil sie sich einen Know-How-Transfer erhoffen. Daraus entstand aber nichts anderes als eine internationale Konkurrenz um das günstigste Angebot für multinationale Konzerne: Steuerbefreiung, komplette Infrastruktur, faktisches Aussetzen jeglichen Arbeitsrechtes in „Exportproduktionszonen“, die mit den Jahren immer unmenschlicher wurden. Sie werden es wissen, wie nacheinander aus Korea, Indonesien, Thailand, China usw. Berichte bekannt wurden, daß in den Produktionsstätten dieser Zonen meist junge Frauen 12 Stunden und mehr für einen Hungerlohn arbeiten (Nachtschichten bei entsprechender Auftragslage nicht eingerechnet). Am stärksten war „Nike“ von den Skandalen betroffen, aber auch alle anderen großen Marken des Textilbereiches hatten ihre Finger in diesem internationalen Geschäft. Die größten Renditen erzielt man heute nun einmal mit Unmenschlichkeit. – Wie kann man als Mensch die Globalisierung vorantreiben, ohne zuallererst sich um globale soziale Regelungen zu kümmern? Die global players verhalten sich eben nicht sozial, das kann man von ihnen auch nicht erwarten. Sie sind nur ihren Aktionären verpflichtet und haben in deren Interesse alles zu unternehmen, was auch nur halbwegs mit dem geltenden Recht vereinbar ist, um den shareholder value zu maximieren. Will man unter Globalisierung wirklich nur die globale Handlungsfreiheit der rücksichtslosen, wirtschaftlichen Einzelkämpfer verstehen?

Globalisierung im Zeichen der Menschlichkeit kann meinem Verständnis nach nur folgendes bedeuten: Die Völkergemeinschaft verständigt sich – so viele Länder wie möglich einschließend – verpflichtend global auf die grundlegenden Menschenrechte (die ja nun einmal für jeden Menschen gelten, ob restriktive Regime dies nun anerkennen oder nicht) und überläßt es der Entscheidung eines jeden einzelnen „unterentwickelten“ Landes, in welchem Maße und wofür es seine Grenzen wirtschaftlich öffnen will – aus besonnener Verantwortung für die dort lebenden Menschen.

Das Prinzip der Freiheit ist nicht das für das Verhalten der egoistischen Marktteilnehmer gültige Prinzip. Es gilt in bezug auf den Menschen selbst und begründet die grundlegenden Freiheitsrechte eines jeden Menschen. Sie entspringen aus der Gleichheit aller Menschen als Menschen. Freiheit hört dort auf, wo sie die Freiheit eines anderen einschränkt. Rosa Luxemburg brachte es auf den Punkt, daß Freiheit immer die Freiheit des anderen ist, der eine andere Überzeugung hat. Deswegen hat dieses Prinzip volle Gültigkeit nur, wo es um das Geistesleben geht: um die individuellen Überzeugungen, Meinungen, um die eigene Religion. Im Denken können sich die Menschen nicht gegenseitig einschränken. Wird das Prinzip der Freiheit aber auf das Wirtschaftsleben übertragen, führt es in die menschlichen Zusammenhänge das „Recht des Stärkeren“ ein. Aus einem wirklichen Bewußtsein der Einen Menschheit heraus könnte sich aber im Wirtschaftsleben immer mehr das Prinzip der Brüderlichkeit durchsetzen – wenn die entsprechenden Einrichtungen und rechtlichen Strukturen dazu geschaffen werden. Die Ideale der Französischen Revolution haben, wie man sieht, jeweils ihre eigenen Sphären, wo sie zum Heil der Menschheit wirksam werden können. In anderen Bereichen wird das Gegenteil erreicht (der Kommunismus wollte z.B. die Gleichheit auf wirtschaftlichem Gebiet, wie heute der Kapitalismus die Freiheit).

Bitte sagen Sie nicht, das seien ja nette, ideale Gedanken. Sie sind auch zu verwirklichen. Auf menschlichem Gebiet ist dem Menschen nichts unmöglich. Und es geschieht auch nur das, was Menschen tun. Sachzwänge, die wie ein Naturgesetz gelten, gibt es nicht (höchstens ein Kollektivverhalten, von dem niemand als erster abrücken will). Wenn man eine Welt gestalten will, die wie geschaffen für die Aktivitäten der global players ist, soll man das versuchen, aber dies auch zugeben. Wer sich aber z.B. dem Christentum verpflichtet fühlt, dem wird es das wichtigste Anliegen sein, die Welt und damit auch die Wirtschaft und ihre Implikationen menschlich zu gestalten.

Das gilt auch für die Antwort auf terroristische Gewalt. Man kann und muß auf Gewalt reagieren, doch die Frage des Wie beantwortet sich nicht selbstverständlich. Wer das „Böse“ niemals auch in sich suchen würde, der wird dessen wahre Ursachen nie sehen. – Sie werden die Sachverhalte doch genau kennen. Mubarak hat Bush schon im Juni gewarnt, daß die demonstrative Nichteinmischungs-Politik der USA in bezug auf Israel und Palästina leicht zu einem weit über die Region hinausgehenden Terrorismus führen könnte. Weiterhin hat die USA das Regime der Taliban geradezu an die Macht gebracht, als ihr die Muslime gegen die Sowjetunion hilfreich schienen. Und die USA haben auch „aktiv“ gebilligt, daß junge Demokratien in Afrika vom islamischen Fundamentalismus wieder überrollt wurden, da dies damals ungefährlicher schien als die Möglichkeit eines kommunistischen Einflusses. Es ist oft gut und richtig, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Aber man sollte die Fehler im Bewußtsein haben, um in der Gegenwart an einer Bewußtseinswende zu arbeiten. Die US-Regierungen verfolgen nach wie vor massiv die eigenen (Wirtschafts-)Interessen, wie es auch am Prozeß der Klimaverhandlungen offenbar wird.

Dies alles ist keinesfalls als Anti-Amerika­nismus gemeint. Wo gegen das Wohl der Einen Menschheit gehandelt wird, wird auch gegen die wahren Impulse und die wahre Verantwortung des amerikanischen Volkes gehandelt. Hier schließt sich der Kreis meiner Darstellung. Die gegenwärtige „Globalisierung“ ist ein Verrat an jeglichem Anspruch, für das Wohl der weltweiten Menschengemeinschaft zu arbeiten. Die überwiegende Mehrheit der Menschen zählt zu den Armen, und diese Armen werden immer ärmer. Die hochverschuldeten Länder geraten immer mehr in die Zange. Bisher intakte Volkswirtschaften brechen zusammen. Und überall wird Profit gemacht – von wenigen, in der Regel von internationalen Konzernen. Diese wenigen haben als einzige ein berechtigtes Interesse an dieser Globalisierung. Für die gesamte übrige Menschheit ist es ein Schrecken. Nichts anderes bedeutet das Wort Terror.

Von unzähligen Seiten gibt es bewundernswert konkrete, ja sogar evidente Ansätze und Vorschläge, wie die Verhältnisse so gestaltet werden können, daß es wirklich um den Menschen geht. Alle diese Vorschläge haben eines gemeinsam: Sie kommen von Menschen und Institutionen, die frei von wirtschaftlichen Eigeninteressen sind. In manchen Fällen aber auch von im Wirtschaftsleben stehenden Menschen, die über rein wirtschaftliche Eigen-Interessen erhaben sind.

Terror ist jede Art von Gewaltausübung, zu der man nicht berechtigt ist. Er beginnt überall dort, wo man anderen seine Ansichten aufzwingen will. In den demokratischen Ländern mit ihrem Schutz der individuellen Freiheit sollte hierfür ein gewisses Bewußtsein da sein. Deswegen hätte das Recht im Grunde eine genau bestimmte Grenze zu beachten, jenseits der es Un-Recht wird. Rechtsvereinbarungen werden gemeinsam (oder mehrheitlich) getroffen, um all das zu regeln, was direkt hinsichtlich der Beziehungen zwischen Menschen geregelt werden muß.

Das wahre Recht betrifft denjenigen Bereich des Lebens, wo alle Menschen gleich sind; wo es um die Frage geht: Was ist recht zwischen Dir und mir, insofern wir beide Menschen sind? Das schließt z.B. auch soziale und ökologische Standards ein, weil diese direkt unser Menschsein, unsere Menschenwürde betreffen. Alles andere jedoch gehört nicht in den Bereich des für alle verbindlichen Rechtes, weil nicht etwas allgemeingültig geregelt werden kann, was in die mündige Freiheit jedes einzelnen gestellt ist. Wenn eine Gemeinschaft (wie z.B. ein Land) etwa beschließt, soziale Standards und auch die Natur auf besonders hohem Niveau zu schützen, dann wäre es einfach Unrecht, wenn es von einer anderen Macht daran gehindert wird. Genau das ist aber die Absicht der geplanten Welthandelsabkommen wie GATS. Jeder einzelne Konzern kann dann durch eine einfache Klage solche dem Menschen dienenden Bemühungen wegwischen, indem er geltend macht, daß er etwa durch gewisse Umweltstandards benachteiligt wird.

Was liegt hier vor? Die Rechtssphäre dehnt sich aus auf wirtschaftliche Fragen, die – unter Einfluß einer bestimmten wirtschaftswissenschaftlichen Doktrin – allgemein verbindlich geregelt werden sollen. Jede verbindliche Regelung aber, die nicht direkt menschliche Zusammenhänge betrifft, führt in die Diktatur. Und so sind die geplanten Regelungen zur „Neuen Weltordnung“ der Wirtschaft eine Diktatur der ganz im Sinne der global players wirkenden „Recht-des-Stärkeren“-Globalisierer gegen die übrige Welt, die vielleicht auch nicht einmal mehr Menschlichkeit weltweit, aber zumindest ein menschenwürdiges Dasein für sich selbst anstrebt. Und wie dies erreicht werden kann und soll, das darf niemals von außen beschlossen und erzwungen werden, selbst wenn man trotz aller Offensichtlichkeit des Gegenteils immer noch davon überzeugt ist, der aggressive Kapitalismus diene dem Wohl aller (die „unsichtbare Hand“ von Adam Smith ist ein Märchen, oder vielleicht auch eine Theorie, aber die diesjährigen Nobelpreisträger haben gezeigt, daß seine Prämissen mit der Realität nichts zu tun haben).

Jeder ist frei, im Geistesleben seine eigenen Theorien und Überzeugungen zu haben, wie Wirtschaft theoretisch funktioniert oder funktionieren sollte. Wirtschaft ist aber ein konkreter Prozeß zwischen realen Menschen, die diesen Prozeß individuell gestalten dürfen müssen. Sie müssen sich z.B. gegen die abstrakte Forderung nach gleich­berechtigtem Wettbewerb wehren dürfen, wenn durch die Voraussetzungen gar keine Gleichberechtigung gegeben ist. Internationale Rechtsvereinbarungen treten dieses Recht mit Füßen, indem sie gerade umgekehrt den egoistischen Einzel-Akteuren das Recht einräumen, alle sonstigen Vereinbarungen außer Kraft zu setzen und gewaltsam in notwendige Schutzräume einzudringen. Das wahre Recht müßte seine Aufgabe darin sehen, die wirklich zwischenmenschlichen Angelegenheiten (wie arbeitsrechtliche Mindeststandards) überhaupt erst einmal zu regeln und verpflichtende Vereinbarungen, in die wirtschaftliche Interessen eingeflossen sind, gerade zu verhindern.
 
In diesem Sinne bitte ich Sie herzlich, behalten Sie bei allem die Frage vor Augen: Was dient wirklich den Menschen? Gehen Sie niemals von „Sachzwängen“ oder un-menschlichen Sonderinteressen aus, sondern gehen Sie, der Sie ja auch das deutsche Volk repräsentieren, als Pionier auf unwirtlichem Gebiet, als Diener der Menschlichkeit in allem voran, worin Ihnen andere vielleicht erst zögerlich, oft aber auch dankbar, mit Sicherheit folgen werden.