Diskussion zum Artikel „Der Kampf gegen die Idee des Sozialen“

  • Kritik und Fragen von I. Craubner (29.8.2002)
  • Meine Antwort an ihn (1.10.2002)
  • Mein entsprechender Kommentar, veröffentlicht am 18.10.2002
  • Seine Antwort an mich (9.10.2002)
  • Meine Antwort an ihn (9.10.2002)
  • Meine Antwort an einen Brief aus der Schweiz (23.10.2002)

In einem Leserbrief im „Goetheanum“ vom 29.8.2002 warf Ingo Craubner gegenüber meinem Artikel folgende Fragen auf:


- Der Autor (HN) setzt hauptsächlich auf die Idee der Gerechtigkeit und das Soziale Hauptgesetz. Allerdings läßt sich aus diesem Gesetz kein Rechtsanspruch ableiten. Ebenfalls nicht aus dem Unterschied Arbeit - Einkommen. Mit der Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist nicht der Staat gemeint.
- Aus einer gesetzlichen Grundversorgung folgt keine Einbindung in eine mitfühlende Gemeinschaft. Stattdessen wird kaltes Anspruchsdenken gefördert. Steuereinnahmen können freiwilliges Schenkungsgeld nicht auf alle Zeiten ersetzen.
- Der Staat (Recht) ist nicht geeignet, Aufgaben des Wirtschaftslebens zu tragen, daher ist die Privatisierung aller wirtschaftlichen Aufgaben nötig – mit gesetzlichen Rahmenbedingungen.
- Die Weltsicht von HN ist voller Vorwürfe und Forderungen gegenüber Staat und Wirtschaft.
- Ein Sozialstaat sollte nur dort tätig werden, wo private Initiativ- und Schaffenskräfte nicht ausreichen. Was HN neoliberalen Sozialabbau nennt, ist der möglicherweise scheiternde Versuch, soziale Verantwortung an die „Basis“ zurückzuverlagern. Arbeitslosigkeit kann nicht vom Staat oder der Großindustrie behoben werden.
- Was meint der Autor mit „Einfluß der Legislative auf das Geistesleben“ (dessen Freiheiten nicht genügend geachtet?), mit „Einfluß von Ideologien auf das Rechts- und Wirtschaftsleben“ und worin sieht er die „Verschleierung und Mißachtung des individuellen Wesens des Menschen“ durch mangelnde Dreigliederung?
- Was soll denn angesichts der Schere zwischen Sozialhilfe und Spitzengehältern konkret geschehen?
- „Gerecht“ ist vielleicht ein gesetzlich festgelegtes Einkommen, doch die Erzielung eines Einkommens gehört in den Bereich des Wirtschaftslebens und sollte am Begriff der Brüderlichkeit gemessen werden. Hohe Einkommen sind nicht per se verwerflich, ungefragt, was damit geschieht und wie sie zustande kommen.
- Gewinne von Kapitalgesellschaften, Nettoeinkommen, Kaufkraft und Besteuerung sind ein zu komplexes Gebiet. In der Wirtschaft(spolitik) läuft nicht alles schief, bzw. im Geistes- und Rechtsleben ist es vermutlich genauso unbefriedigend.
- Arbeitslosigkeit und wachsender Reichtum als dieselbe Medaille ist keine hilfreiche Verkürzung der Problematik.
 

Ich antwortete ihm am 1.10.2002:


Lieber Herr Craubner,

ich möchte Ihnen gerne auf Ihre Stellungnahme zu meinem Artikel „Der Kampf gegen die Idee des Sozialen“ antworten. Ich hoffe, daß wir durch ein besseres Verständnis unserer Gedanken uns gegenseitig helfen können, sowohl die heutige Situation als auch die durch Steiner gebrachten Begriffe immer besser verstehen können.

Ich möchte meine Gedanken näher erläutern, indem ich auf Ihre Argumentation eingehe. Bitte verstehen Sie das nicht als Kritik, sondern als Bemühen um Verständnis dessen, was ich sagen will und auch als Bitte um erneute Entgegnung, damit uns durch diese gegenseitige Anregung die Dinge jeweils klarer werden.

Zunächst möchte ich einiges über mein Verständnis von Rechts- und Wirtschaftssphäre sagen. „Recht“ zwischen Menschen hat verschiedene Ebenen. Die Quelle für alles Recht ist das Rechtsempfinden der Menschen selbst, das auf ihrem Erleben ihrer Gleichheit als Menschen basiert. Damit hängt zusammen, daß man an der Begegnung mit dem anderen Menschen auch zu einer Ahnung kommt, was Menschsein überhaupt bedeutet.

Man kann zum Beispiel zu der Überzeugung kommen, daß jeder Mensch das Recht hat, menschenwürdig zu leben. Nun gibt es im Rechtsleben nur auf juristisch reale Gesetzesregeln einen Rechtsanspruch, wie Sie selbst auch schreiben, und auf nichts sonst. Es gibt in dem Sinne also kein Naturrecht, das überhaupt nicht geschrieben werden müßte, sondern seit jeher Geltung hätte. Das kommt daher, daß Recht immer etwas ist, was sich zwischen Menschen ereignet, was also der Mensch dem Mitmenschen zu-sprechen muß.

Recht muß, damit es „gesellschaftlich-juristisch real“ wird, immer zwischen Menschen beschlossen werden. Man spricht es sich dadurch gewissermaßen gegenseitig zu. Auf einen Beschluß bzw. dessen Einhaltung habe ich einen Anspruch. Damit ist das zunächst im eigenen Inneren jedes Einzelnen erlebte Recht ein äußeres geworden.

Brüderlichkeit zielt ganz direkt auf die Bedürfnisse meines Menschenbruders. Während das Recht seinen Ursprung im Gefühl hat, steht die Brüderlichkeit ganz direkt mit dem (in diesem Fall selbstlosen) Willen in Zusammenhang. Natürlich gibt es hier enge Übergänge, da sich, wie Sie auch sagen, die Bereiche durchdringen. Ich kann in der Rechtssphäre gemeinsam mit anderen Menschen zu der Überzeugung kommen, daß „menschenwürdiges Leben“ mindestens die Gewährleistung von „xxx“ bedeutet. Die konkreten Bedürfnisse individueller Menschen muß ich erst konkret erfahren und kann dann im Sinne der Brüderlichkeit handeln. Mehr allgemein können nur Dinge geregelt werden (Recht), die von der Gleichheit der Menschen ausgehen. In den Bedürfnissen sind die Menschen jedoch ungleich, und hier beginnt die Brüderlichkeit bzw. das Wirtschaftsleben im funktionellen Sinne.

Wenn ich in meinem Artikel auf die „Gerechtigkeit“ setze, wie Sie schreiben, so beinhaltet dies einen Appell an die Brüderlichkeit. Ich habe die Überzeugung, daß die grandiosen Unterschiede in den heutigen Einkommen, bzw. die Unterschiede zwischen großen Gewinnen und Verlusten, zwischen hochdotierten Jobs und Arbeitslosen gerade einen Mangel an Brüderlichkeit offenbaren. Sie haben vollkommen Recht, daß man „gerechte Löhne“ allgemein gar nicht finden kann. Recht ist immer eine gemeinsame Festlegung zwischen den konkret beteiligten Menschen. Die entscheidende Frage ist dabei: Was gebührt meinem Mitmenschen (insofern er wie ich ein Mensch ist)?

Genausowenig wie der „Arbeitslose“ einen Anspruch auf ein Mindesteinkommen hat, genausowenig der Unternehmer auf „sein“ Geld. Auch die heutige Wirtschaftsstruktur ist kein Naturphänomen, sondern beruht auf dem bestehenden Recht, vor allem auf dem Eigentumsrecht. Vor diesem Hintergrund hat der Unternehmer natürlich Anspruch auf „seinen Betrieb“. Vor dem geistigen Auge ist dieser Anspruch genausowenig begründet. Jede Rechtssetzung müßte immer wieder hinterfragt und von der Rechtsgemeinschaft neu bestätigt oder verändert werden, um sie menschengemäßer (d.h. gerechter, aber auch brüderlicher) zu gestalten. Das bestehende Eigentumsrecht ist ein Unrecht.

Sollen etwa „Löhne“ festgelegt werden, so könnte man von gerechten Löhnen sprechen, wenn alle Beteiligten, vom Unternehmenschef über die leitenden bis hin zu den einfachsten Angestellten, mit jeweils ihrem Lohn zufrieden sind. Dann hätte man einen gemeinsamen Beschluß (Recht). Brüderlich müßte das noch lange nicht sein. Dies wäre erst der Fall, wenn jeder von seinem Lohn seine Bedürfnisse befriedigen könnte. Wobei hier schon der Blick über das Unternehmen hinausgehen muß zu den Zulieferern, zu den Konsumenten, in die ganze Welt. Brüderlichkeit schließt im letzten Sinne niemanden aus. Brüderlichkeit im höchsten Sinne würde bedeuten, daß es mir nicht gut geht, wenn ich einen anderen Menschen leiden sehe – wie Steiner es einmal formuliert.

Ich stimme mit Ihnen völlig überein, daß der Staat nicht für Brüderlichkeit sorgen kann. Brüderlichkeit kann einem niemand abnehmen. „Der Staat“ muß zunächst einmal überhaupt wieder „Rechtsgemeinschaft“ werden – wie das zu geschehen hat, ist allerdings noch eine große Frage. Stärkung der Zivilgesellschaft? Direkte Demokratie? Auflösung des Parteiensystems bzw. Fraktionszwanges – aber wie? Die Rechtsgemeinschaft kann alles mögliche als Recht setzen. Was gemeinsam als „gerecht“ angesehen wird, wird als Recht gesetzt. Es könnte sogar gemeinsam die Ausrichtung auf Brüderlichkeit – also die Berücksichtigung individueller und damit unterschiedlicher Bedürfnisse – beschlossen werden. Konkretisiert werden kann dies dann aber immer nur im einzelnen Fall.

Eine Rechtsgemeinschaft ist erst dann wirklich vorhanden, wenn jeder einzelne Mensch gleich-berechtigt ist und seine Stimme im Rechtsleben genauso viel wiegt wie die der anderen. Heute schaffen zum Beispiel Lobbyverbände ganz andere Verhältnisse. Außerdem hat der einzelne heute im Grunde überhaupt keine Stimme. Er kann in bezug auf die großen gesellschaftlichen Fragen nicht mitentscheiden, er kann nur einmal alle vier Jahre abstrakte Programme wählen.

Ich spreche in meinem Beitrag durchaus nicht davon, daß der Staat über Zwangsschenkungen (Steuern) jedem ein Mindesteinkommen garantieren soll. Ich deute allerdings an, daß „ungerechte“ Gewinne niemandem zustehen. Ich stimme durchaus mit Ihnen überein, daß es Sache des Wirtschaftslebens ist, dieses Problem zu lösen. In bezug auf die großen Unterschiede zwischen Niedriglöhnen und Spitzengehältern sage ich übrigens deutlich, daß gar keine Gewinne entstehen dürften. Rudolf Steiner weist selbst darauf hin, daß an dem „Gewinn“ eines Unternehmens alle gemeinsam Anteil haben. Das ist keine Frage der Brüderlichkeit, sondern der Gerechtigkeit – und zwar nicht sentimental, sondern konkret verstanden. Jeder trägt zu dem Erfolg des Unternehmens bei: der Kapitalgeber, der Erfinder, der „einfache“ Arbeiter. Wie der Gewinn zu verteilen ist, sollte Gegenstand gegenseitiger, gleichberechtigter Vereinbarungen sein. Haben wir diesen Zustand heute? Wenn man also Privatisierung der wirtschaftlichen Aufgaben mit gesetzlichen Rahmenbedingungen fordert, dann wäre die Abschaffung des unsachgemäßen Eigentumsrechts auf den „Unternehmensgewinn“ eine solche Rahmenbedingung, womit die Gleichberechtigung aller Wirtschaftsteilnehmer gleich mit erreicht wäre. Aus meiner Sicht sind hohe Gewinne nicht per se ungerecht. Angesichts der heutigen Strukturen bin ich aber überzeugt davon, daß die meisten Gewinne auf die Ungerechtigkeit (d.h. den Mangel an Recht) im Wirtschaftsleben zurückzuführen sind. Abgesehen davon halte ich die gegenwärtige Form von Gewinnen für unsachgemäß und von daher durchaus für per se ungerecht.

Wenn ich sage, daß im Sinne des sozialen Hauptgesetzes Einrichtungen geschaffen werden müßten, durch die jeder in der Befriedigung seiner Bedürfnisse von den Leistungen anderer abhängig ist, dann meine ich keine diktatorische Maßnahme des Staates, sondern einen wünschenswerten Beschluß der Gemeinschaft. In einem solchen Beschluß wären Geistesleben (Erkenntnis), Rechtsleben (Beschluß) und Wirtschaftsleben (Wille zur Brüderlichkeit) vereint.

Mein Artikel (ich würde nicht gleich „meine Weltsicht“ schreiben wollen) ist nicht voller Vorwürfe und Forderungen gegenüber Staat und Wirtschaft. Der mittlere Abschnitt ist jedoch voll von angeführten Fakten, die meiner Überzeugung nach ein Ausdruck der ungerechten und unbrüderlichen Realität sind. Ich greife die neoliberale Theorie, die alles eben ohne Rahmenbedingungen den „Marktkräften“ überlassen will, deutlich an. Im Grunde ist die Darstellung der gesammelten Fakten eine – durchaus vorwurfsvolle – Frage an die Rechts- und Wirtschaftsgemeinschaft (die ja wir alle bilden): Sind die heutigen Verhältnisse gerecht oder sogar brüderlich? Sollte der Neoliberalismus wirklich der Versuch sein, soziale Verantwortung an die „Basis“ zurückzuverlagern, so scheitert er nicht möglicherweise, sondern notwendigerweise. Im übrigen sehe ich jene Vermutung wirklich als blauäugig an, da offensichtlich ist, unter welchen massiven Einflüssen bestimmter Wirtschaftslobbies dieser „Versuch“ betrieben wird. Sollte man heute wirklich davon sprechen können, daß dem Arbeitslosen seine soziale Verantwortung zurückgegeben wird, wenn man ihn zwingt, für 3 Euro Stundenlohn zu arbeiten?

Ich meine, daß zur Zeit gerade ein Abbau von Recht betrieben wird, daß bisher eine gewisse Menschlichkeit sichern sollte, und daß nichts an dessen Stelle tritt. Zugleich werden keine Schritte in Richtung Dreigliederung getan, sondern der Druck der Wirtschaft auf das Rechtsleben wird nur noch größer. Auch die „Zwangsschenkungen“ für das Geistesleben werden gekürzt, ohne daß etwas an ihre Stelle tritt. Das Ganze hat die starke Tendenz zum Sozialdarwinismus, nicht umsonst wird heute stellenweise von „Raubtierkapitalismus“ gesprochen. Das alles meine ich mit „Mißachtung des individuellen Wesens des Menschen“. Nur die Dreigliederung kann das Individuum – und zwar jedes einzelne – stärken.

Ich sage durchaus nicht, daß in der Wirtschaft(spolitik) alles schief läuft, aber was läuft denn „richtig“? Ich stelle die gesamten Rahmenbedingungen in Frage. Diese sind zunächst Angelegenheit der Rechtsgemeinschaft, die aber aus dem Geistesleben heraus die Erkenntnisse gewinnen müßte, was sachgemäß und menschlich ist und was nicht. Insofern haben Sie völlig recht, daß es im Geistes- und im Rechtsleben genauso unbefriedigend aussieht. Den Wirtschaftsteilnehmern kann man keinen Vorwurf machen, daß sie egoistisch handeln, da dies im kapitalistischen Modell strukturell so veranlagt ist. Vor Ungerechtigkeit schreiende Gegenüberstellungen von Zahlen sind immer nur eine Anklage an die „erkenntnisblinde Rechtsgemeinschaft“. Dies ist natürlich abstrakt, eigentlich ist es eine Anklage an diejenigen, die im heutigen System etwas ändern könnten, und vor allem an die, die Macht und Einfluß nutzen, um nichts zu ändern.

Was ist Gerechtigkeit?

Erwiderung auf Ingo Craubners Leserbrief. Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 18.10.2002 (Nr. 43).


Herr Craubner antwortete auf meinen Artikel mit folgenden Hinweisen: Es gebe keinen Anspruch auf eine gesetzliche Grundversorgung, die zudem nur ein Anspruchsdenken fördern würde.
Die von mir als ungerecht dargestellten Verhältnisse seien eine Frage der Brüderlichkeit und als solche vom Wirtschaftsleben zu lösen. Insofern sei auch das, was ich „neoliberalen Sozialabbau“ nenne, der Versuch, soziale Verantwortung an die „Basis“ zurückzuverlagern. Darauf möchte ich nochmals erwidern und hoffe, daß vielleicht gerade durch die verschiedenen Positionen immer mehr Licht auf die durch Rudolf Steiner gebrachten Begriffe fallen kann.

Die Quelle für alles Recht ist das Rechtsempfinden der Menschen selbst, das auf ihrem Erleben ihrer Gleichheit als Menschen basiert. Die Rechtsfrage ist: Was steht meinem Mitmenschen zu? Dabei gibt es keinerlei Anspruch, sondern Recht ereignet sich zwischen Menschen, indem sie es sich einander zu-sprechen. Einen Anspruch gibt es dann auf Einhaltung gemeinsamer Beschlüsse. - Brüderlichkeit zielt direkt auf die Bedürfnisse meines Menschenbruders. Man kann gemeinsam vereinbaren (Recht), was, vom Erlebnis der Menschheit als solcher ausgehend, „menschenwürdiges Leben“ bedeutet. Die konkreten Bedürfnisse individueller Menschen muß ich erst konkret erfahren und kann dann brüderlich handeln - hier beginnt die Brüderlichkeit bzw. das Wirtschaftsleben im funktionellen Sinne.

Niemand hat „Anspruch“ etwa auf ein Mindesteinkommen, aber genausowenig hat der Unternehmer Anspruch auf „sein“ Geld. Die heutige Wirtschaftsstruktur ist eben auch kein Naturphänomen, sondern beruht auf einem ganz unsachgemäßen Eigentums(un)recht. – Von „gerechten Löhnen“ könnte man sprechen, wenn alle Beteiligten mit jeweils ihrem Lohn zufrieden sind. Dann hätte man einen gemeinsamen Beschluß (Recht). Brüderlich wären die Löhne, wenn jeder seine Bedürfnisse befriedigen könnte, wobei hier der Blick über das Unternehmen hinaus eigentlich die ganze Welt einschließen müßte. Aber schon eine Rechtsgemeinschaft setzt voraus, daß jeder einzelne gleich-berechtigt ist. Weder im Unternehmen noch gesamtgesellschaftlich kann der einzelne heute mitentscheiden, was ihn mitbetrifft.

Ich fordere keineswegs „staatliche“ Maßnahmen, deute allerdings an, daß „ungerechte“ Gewinne niemandem zustehen. Wenn ich sage, daß im Sinne des sozialen Hauptgesetzes Einrichtungen geschaffen werden müßten, durch die jeder in der Befriedigung seiner Bedürfnisse von den Leistungen anderer abhängig ist, dann meine ich einen wünschenswerten Beschluß der Gemeinschaft, der Geistesleben (Erkenntnis), Rechtsleben (Beschluß) und Wirtschaftsleben (Wille zur Brüderlichkeit) vereinen würde. Rudolf Steiner weist selbst darauf hin, daß am „Gewinn“ eines Unternehmens alle gemeinsam Anteil haben. Das ist durchaus eine Frage der Gerechtigkeit (Rechtssphäre). Wie der Gewinn zu verteilen ist, sollte Gegenstand gegenseitiger, gleichberechtigter Vereinbarungen sein. Haben wir diesen Zustand heute? Wenn man also Privatisierung der wirtschaftlichen Aufgaben mit gesetzlichen Rahmenbedingungen fordert, dann wäre die Abschaffung des unsachgemäßen Eigentumsrechts auf den „Unternehmensgewinn“ eine solche. „Hohe Gewinne“ sind für mich nicht per se ungerecht, sondern im gegenwärtigen Wirtschaftsystem mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Ungerechtigkeit (d.h. Mangel an Recht) zurückzuführen und infolge dieses Systems per se unsachgemäß und von daher ungerecht.

Ich mache keineswegs „der Wirtschaft“ Vorwürfe. Die von mir angeführten Zahlen und ihre Relationen sind ein Ausdruck der heutigen un-rechten und unbrüderlichen Verhältnisse und damit eine Anklage an die Rechtsgemeinschaft – vor allem an jene, die mit Macht und Einfluß ihren Vorteil bewahren, letztlich aber an uns alle. Die neoliberale Theorie will nun alles ohne Rahmenbedingungen den „Marktkräften“ überlassen. Ein solcher „Versuch, soziale Verantwortung an die ‚Basis´ zurückzuverlagern“, scheitert nicht möglicherweise, sondern notwendigerweise. Sollte man heute wirklich „soziale Verantwortung zurückgeben“, wenn man Arbeitslosen eine Pflichtarbeit für drei Euro Stundenlohn aufzwingt? Heute werden Rechte abgebaut, ohne daß Schritte in Richtung Dreigliederung getan werden. Vielmehr wird der Druck der Wirtschaft auf das Rechtsleben nur noch größer, und die Tendenz geht zum Sozialdarwinismus. Das alles meine ich mit „Mißachtung des individuellen Wesens des Menschen“, das nur durch die Dreigliederung gestärkt werden kann.

Herr Craubner antwortete mir am 9.10.2002:


Lieber Herr Niederhausen,

gerne gehe ich auf Ihre Erwiderung ein, aber haben Sie bitte Verständnis, wenn ich aus Zeitgründen nur diejenigen Punkte aufgreife, in denen ich etwas vermisse oder vielleicht eine etwas andere Auffassung habe.

Bei allem Engagement für menschengemäßere Verhältnisse sollten wir nicht vergessen, dass sich die Menschheit und jeder Einzelne in einem Entwicklungsprozess befindet und das braucht Zeit. Wir sollten aus Ungeduld nicht versuchen etwas zu erzwingen, was in Freiheit wachsen muss. Dazu gehört auch Brüderlichkeit. Der Mangel an Brüderlichkeit macht eine soziale Gesetzgebung notwendig, kann aber dadurch nicht ausgeglichen werden. Brüderlichkeit ist letztlich Sache jedes Einzelnen.

Wir sollten unterscheiden zwischen Grundbedürfnissen, die in einer Menschengemeinschaft für jeden Einzelnen als einigermaßen gleich angesehen werden können, und individuellen Bedürfnissen, die völlig verschieden sind. Staatliche Sozialgesetze können sich nur an den Grundbedürfnissen orientieren, wahre Brüderlichkeit aber ist frei.

Das bestehende Eigentumsrecht sollte man nicht so ohne weiteres als "Unrecht" abtun. Im  Art.14 des Grundgesetzes heißt es: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Dass diese Sozialverpflichtung des Eigentums im täglichen Leben viel zu wenig beachtet wird, weist darauf hin, dass das Rechtsempfinden dem geschriebenen Recht hinterher hinken kann.

Jedes Wirtschaftsunternehmen muss auf Gewinnerzielung ausgerichtet sein, wenn es auf Dauer ohne Subventionen über­leben will. Die gezahlten Löhne und Gehälter sollten nicht als "Kosten" gesehen werden; sie stammen, wie der normalerweise verbleibende Gewinn, aus den Einnahmen des Unternehmens. Über die Verwendung des Gewinns sollten Unternehmer, Mitarbeiter und Eigentümer gemeinsam entscheiden, sofern man einen praktikablen Weg hierfür findet. Es darf dabei aber nicht nur um eine Aufteilung des Gewinns unter diesen drei Parteien gehen. Grundsätzlich sollte in Betracht gezogen werden, den Gewinn vollständig für gemeinnützige Zwecke zur Verfügung zu stellen.

Wirtschaftliches Handeln ist auf Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet, bedeutet aber auch rationellen, d.h. sparenden, effizienten Umgang mit Resourcen. Technischer Fortschritt und Rationalisierung verändern daher das Wirtschaftsleben ständig. Was früher einmal als Segen angesehen werden konnte, die Befreiung von mühsamer Arbeit, wird heute zum großen sozialen Problem der Arbeitslosigkeit. Welche Folgerungen sind daraus zu ziehen? Geistesleben und Rechtsleben müssen darauf reagieren  -  aber nicht mit Forderungen und Verboten, sondern mit Innovationen und gesellschaftlicher Kooperation.

Sich gegen die Globalisierung zu stemmen, ist anachronistisch. Die Entwicklung zur Weltwirtschaft, die alle Menschen umfasst, muss gestaltet, nicht verhindert werden.

In Ihrem Beitrag "Privatisierung heißt Raub" scheinen Sie das "Heil" von Erbansprüchen zu erwarten. Wenn Sie Steiners Soziales Hauptgesetz dagegen nehmen, ist nur von Leistungen und deren Erträgnissen die Rede. Ist das nicht doch eine aktivere Weltsicht?
 

Ich antwortete ihm daraufhin:


Lieber Herr Craubner,

vielen Dank für Ihre Antwort. Ich habe das Gefühl, daß wir gar nicht so sehr verschiedene Ansichten haben. Sie haben recht, daß die Dinge Zeit brauchen. Ich denke aber schon, daß die Rechtsgemeinschaft legitimiert ist, verschiedene Dinge verbindlich zu vereinbaren, mit denen nicht alle „einverstanden“ sind. Diese beiden Aspekte verbinden sich dahingehend, daß es selbstverständlich ebenfalls Zeit braucht, bis sich die Menschen, die diese Rechtsgemeinschaft bilden, mehrheitlich einig sind, daß entsprechende Beschlüsse richtig sind.

Ich finde wohl, daß die Eigentumsfrage klar in die Rechtssphäre hineingehört. Was ist recht in bezug auf das Eigentum? Gerade in bezug auf den Satz vom verpflichtenden Eigentum muß sich eben noch sehr viel Bewußtsein entwickeln. Das braucht also wieder Zeit, natürlich, es geht ja gar nicht anders. Dann aber wird man dazu kommen, daß nur ein Nutzungsrecht einen menschengemäßen Eigentumsbegriff ergibt, wenn es eben kein Unrecht sein soll. Wo etwas genutzt wird, ist Eigentum legitim. Wenn andere Menschen dann keine Möglichkeit der Nutzung haben, diese aber ebenfalls suchen, muß erneut die jeweilige Rechtsgemeinschaft Lösungen finden. Jedenfalls darf Eigentum, das über meinen kleinen, alltäglichen Bedarf hinausgeht und in die Gesellschaft hineinwirkt, nichts Festes sein, das unabhängig von mir und meinen sinnvollen bzw. schädlichen Nutzungen ist.

Geistesleben und Rechtsleben wirken zusammen, indem jeweils alle Menschen in beidem drinnenstehen (wie auch im Wirtschaftsleben die gleichen). Was als richtig, wahr oder gerecht erkannt wird, wird in einem weiteren Schritt beschlossen. Ich will sagen, es ist doch nicht „das Rechtsleben“, das reagiert oder fordert oder verbietet, sondern es sind die Menschen selbst, die gemeinsam etwas beschließen. Und was sie beschlossen haben, können sie einfordern – wiederum von sich selbst. Das Rechtsleben bin doch nicht ich mit einigen anderen einzelnen, die etwas „durchsetzen“ wollen! Die Dinge kommen natürlich erst und nur dann, wenn die Menschen soweit sind. Daß übrigens Brüderlichkeit keinesfalls beschlossen werden kann, ist mir völlig klar.

In bezug auf die Arbeitslosigkeit: Die Rechtsgemeinschaft steht vor der Aufgabe, Lösungen zu finden, die allen Menschen ein menschenwürdiges, schöpferisches Leben ermöglichen. Die positive Aufgabe der Rationalisierung ist tatsächlich der rationelle Umgang mit Ressourcen, zu denen auch die menschliche Arbeitskraft gehört. Aber die Frage ist ja gerade, warum Arbeitslosigkeit überhaupt ein Problem ist, wenn so viel Sinnvolles getan werden könnte und müßte? Weil der Ertrag aus der gesamtgesellschaftlichen Wertschöpfung bestimmte Bereiche nicht erreicht (weil sie z.B. nicht ökonomisierbar sind oder zumindest nicht „produktiv“ im traditionellen Sinne). Hier etwas zu ändern, beinhaltet eben auch die Frage, wem der „Gewinn“ eines Unternehmens zusteht. Da sind wir noch voll auf dem Gebiet des Rechtslebens (das Brüderliche wird gar nicht berührt), daher sind Festsetzungen absolut möglich und notwendig.

Ich stehe wie Sie auf dem Standpunkt, daß die Globalisierung gestaltet werden muß. Und was in dem Artikel „Privatisierung ist Raub“ (der übrigens nicht wirklich von mir ist, wie die Fußnote sagt) von Erbansprüchen gesagt ist, ist übertragen gemeint. Ausgedrückt ist, daß an den Früchten vergangenen, aber weiterwirkenden Geisteslebens alle Menschen gleichermaßen Anrecht haben. Das bedeutet, daß nicht einzelne Gewinn daraus schlagen dürfen - dies muß strukturell (nicht durch „Verbot“, wie soll das gehen) unmöglich gemacht werden. Wenn ich als Unternehmer eine Erfindung nutze, um Arbeiter zu entlassen, mache ich einen Gewinn, der eigentlich volkswirtschaftlich zu betrachten und in seinem Nutzen zu verteilen wäre. Die Erfindung als Geistgeschenk bringt der ganzen Gesellschaft Gewinn. Im bestehenden System jedoch bringt sie mehreren Menschen Schaden und einigen viel Gewinn. Was also ist zu tun? Das ist eine Frage des Rechtslebens, weil die Angelegenheit alle Menschen gleichermaßen angeht und sie etwas miteinander vereinbaren und schöpferische, gerechte, allen zugute kommende Lösungen finden müssen.

Soweit wollte ich Ihnen heute antworten. Haben sich unsere in Aspekten unterschiedlich scheinenden Anschauungen dadurch als noch ähnlicher erwiesen? Über einen weiteren Austausch mit Ihnen würde ich mich sehr freuen. Eine kurze Zusammenfassung meiner Ausführungen, die ich Ihnen vor einer Woche schrieb, wird übrigens als Antwort bzw. Ergänzung auf Ihren Leserbrief in einer der nächsten Goetheanum-Ausgaben erscheinen, wie mir Herr Rapp heute schrieb. Ich betrachte meine erneute Antwort wirklich als Versuch zur Klärung und darf mich darin bestärkt sehen, indem ich mich mit Ihnen durchaus in weitgehender Übereinstimmung fühle.

Meine Antwort an einen Brief aus der Schweiz:


Sehr geehrter Herr ...,

vielen Dank für Ihren Brief und die Zeitungsartikel, sowie Ihr Interesse an dem Artikel, den ich schrieb. Sie schreiben, ich finde Ihre Zustimmung und merken dann verschiedene Dinge an, so daß ich nicht genau sehen kann, wo Sie mir zustimmen. Ich werde einfach meinerseits auf Ihre Kommentare eingehen. (Eine Vorbemerkung: Die gleiche Einkommenssteuer von Manager und Ingenieur war natürlich ein sachlicher Fehler meinerseits. Richtig ist die gleiche prozentuale Einkommenssteuer, da der Höchstsatz von 42% schon mit dem Ingenieurseinkommen erreicht ist).

Allem voran halte ich das „soziale Hauptgesetz“ von Steiner für unbedingt zentral: Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist umso größer, je weniger der Einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen  an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen  der anderen befriedigt werden. Steiner sagt eindeutig: Dieses Hauptgesetz gilt für das soziale Leben mit solch einer Ausschließlichkeit und Notwendigkeit, wie nur irgendein Naturgesetz... Und er erläutert: In der Wirklichkeit lebt das Gesetz nur so, wie es leben soll, wenn es einer Gesamtheit von Menschen gelingt, solche Einrichtungen zu schaffen, daß niemals jemand die Früchte seiner eigenen Arbeit für sich selber in Anspruch nehmen kann... An anderer Stelle präzisiert er, daß für die Mitmenschen arbeiten und ein gewisses Einkommen erzielen zwei voneinander ganz getrennte Dinge seien. Es geht also um die Trennung von Arbeit und Einkommen. Warum? Wer für sich arbeitet, muß allmählich dem Egoismus verfallen. Nur wer ganz für die anderen arbeitet, kann nach und nach ein unegoistischer Arbeiter werden. Und schließlich: Alle Einrichtungen innerhalb einer Gesamtheit von Menschen, welche diesem Gesetz widersprechen, müssen bei längerer Dauer irgendwo Elend und Not erzeugen.

Wie die Einrichtungen beschaffen sein müssen, in und mit denen dieses Gesetz verwirklicht werden kann, ist zunächst die Frage, die sich hier anschließt. Zumal Steiner ja nicht die Selbstlosigkeit der Menschen als Voraussetzung ansieht, sondern vielmehr etwa den Glauben Robert Owens an die Güte der Menschen eine der ärgsten Illusionen nennt. Andererseits: Nur wenn das Hauptgesetz erfüllt ist, kann der Mensch nach und nach ein unegoistischer Arbeiter werden. Hier sind für mich noch viele Rätsel ungelöst. Fest steht aber, daß das Hauptgesetz für das soziale Leben mit Ausschließlichkeit und Notwendigkeit gilt. Dabei ist immer mitzudenken, daß das Menschheitsziel im Wirtschaftsleben die Brüderlichkeit ist.

Hier möchte ich ansetzen. Sicherlich gibt es viele Menschen, die sich angesichts der Arbeitslosenhilfe überlegen, ob sie bei einer Zeitarbeitsfirma eine sinnlose Arbeit für sechs Euro Stundenlohn machen sollen – und sie haben recht. Das würde ich nicht als Egoismus ansehen, schon gar nicht im Vergleich zu dem Egoismus, der das ganze Wirtschaftsleben beherrscht, weil er heute geradezu dessen Prämisse ist. Man lasse doch nur die Äußerungen der großen Konzernchefs auf sich wirken, wie sie immer wieder fordern, es müßten „Einschnitte“ gemacht werden und dergleichen mehr. Die unabweisliche Tatsache ist doch eben, daß in Deutschland zur Zeit vier Millionen Menschen überflüssig sind, um den sich immer noch steigernden gesellschaftlichen (?) Reichtum zu produzieren. Natürlich – wenn jemand überflüssig ist, muß ich fordern, daß die „Kosten“, die ich durch ihn hätte, möglichst auf Null gehen, damit ich mir vielleicht überlege, ihn als befristete, unterbezahlte Aushilfskraft einzustellen. - Bequemlichkeit und Faulheit?

Natürlich gelten die Einzahlungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber in die Sozialversicherung heute als Kosten. Es sind aber – nach heutiger Gesetzeslage! – Rechtsansprüche konkreter Menschen. Man kann sie entweder als Kosten betrachten oder Anthroposoph sein. Beides zusammen geht nicht, denn Anthroposophie ist Menschenweisheit und nicht kapitalistisches Denken.

Im übrigen: Deutschland mag zwar bei „Lohnnebenkosten“ OECD-weit ziemlich vorne liegen, andererseits liegt es bei Unternehmenssteuern ganz hinten. Die EU-Kommission hat schon Steuerdumping vorgeworfen. So etwas hört man natürlich weniger.

Die Vorsorge für unverschuldete Not in die eigene „Verantwortung“ eines Menschen zu stellen, ist unbrüderlich. Er hat eben heute kaum noch die Verantwortung dafür, daß er irgendwann entlassen wird. Auch volkswirtschaftlich ist es am effektivsten, wenn nicht der Einzelne gezwungen ist, riesige Anstrengungen zu machen, um jeweils für sich finanzielle Polster anzuhäufen für den Fall, daß er in Not geraten sollte. Andererseits wäre es sehr wohl im Sinne der Freiheit, den einzelnen Arbeiter entscheiden zu lassen, ob er weiter Zwangsbeiträge in die Sozialversicherung zahlen oder lieber sich selber absichern will (Ihr Punkt 5). Aber wenn er dann „aus Versehen“ zu früh entlassen wird, hat er dann Pech gehabt? Freiheit kann sich nicht wirklich entfalten, wenn der Rahmen nicht stimmt.

Meinen Sie bei den Lohnkosten die „Lohnstückkosten“? Hier lese ich immer wieder einander widersprechende Ausführungen. Fest steht, daß die Gewinne der Unternehmen seit Jahren, um nicht zu sagen Jahrzehnten stärker steigen, als die Löhne, deren reale Kaufkraft sogar fällt. Natürlich geht es Deutschland schlecht, wenn in allen anderen Ländern die sogenannte Lohnzurückhaltung bzw. das „Manchestertum“ noch viel radikaler betrieben wird. Solange die Konkurrenz das bestimmende Prinzip bleibt, werden alle Volkswirtschaften da mit hineingezogen.

Es gibt aber Auswege: Man könnte durchaus die Lohnnebenkosten abschaffen. Das wird ja gerade aus anthroposophischen Kreisen vorgeschlagen. Stattdessen würden die anfallenden Kosten der sozialen Sicherung usw. über eine allgemeine Konsumsteuer finanziert werden. Viel Steuern zahlt dann nicht, wer viel arbeitet und verdient (Lohnnebenkosten), sondern wer viel konsumiert. Außerdem aber müßten Vermögen wieder besteuert werden, wenn sie nicht produktiv verwendet werden. Überhaupt ist der gegenwärtige Eigentumsbegriff absolut nicht sachgemäß. Ich lege Ihnen zur Ergänzung einen Aufsatz bei, der verschiedene Aspekte dazu beleuchtet.

Die Staatsschulden stellen wirklich ein großes Problem dar. Sie hätten niemals entstehen dürfen, und ihre Verewigung ist eine noch größere Absurdität. Aber das Hauptparadox bleibt schlichtweg: Das Bruttosozialprodukt wächst weiter oder es stagniert zumindest. Wo bleibt das Geld, wo fließen die Vermögenswerte hin? Sie verschwinden nicht, sondern werden stetig einem Teil des Wirtschaftslebens entzogen – den Arbeitnehmern und den „Arbeitslosen“, aber auch den verschuldeten Kleinbetrieben und natürlich dem hochverschuldeten Staat – und sammeln sich dort, wo es schon haufenweise gibt. Unglaubliche Vermögenswerte entstehen bei einigen wenigen Menschen bzw. Unternehmen, was im übrigen die Explosion der Finanzmärkte erst möglich gemacht hat. Aber man kann natürlich dennoch den Blick weiter auf das untere Ende der sozialen Hierarchie gerichtet halten und überlegen, wo die Faulheit oder die Zumutbarkeit anfängt.

Ich beanstande also keinesfalls Einkommen oder Gewinn als solches. Vollkommen richtig ist es, daß die Verwendung die entscheidende Frage ist. Also: Brüderlich oder egoistisch rendite-heischend. Und natürlich haben Sie völlig recht, daß bei der Erziehung angefangen werden müßte. Aber wer soll denn erziehen? Und andererseits: Es müßte überall angefangen werden. Man kann nicht abstrakt die Kinder soziales Verhalten lehren und sie in eine Welt entlassen, die auf dem Egoismus aufgebaut bleibt. Wenn die Eltern nicht zumindest anders zu denken anfangen, kann sich schlichtweg nichts ändern.

Lieber Herr ..., jetzt ist es an mir, Sie zu bitten, meine Kommentare nicht als persönliche Kritik zu verstehen. Ich ringe selbst nach den richtigen Ideen, doch erlebe ich es unbedingt, daß das herkömmliche Denken nur in den völligen Zusammenbruch führen kann. Wenn man auf eine brüderliche Welt zustrebt, muß man die Brüderlichkeit in sein eigenes Denken hineinnehmen, auch wenn die gesamte Umwelt noch unbrüderlich zu sein scheint. Zugleich muß man sich fernhalten von jeder Naivität. - Es geht jedoch nicht um ein Zuwenig oder Zuviel der staatlichen Umverteilung, sondern um das Fehlen von bzw. das Ringen um Einrichtungen, die der Idee der sozialen Dreigliederung entsprechen. Man bedenke: Das Heil kommt nicht automatisch, Dreigliederung ist keine Garantie. Sie ist aber die Grundlage, die die Möglichkeit des Heiles schafft. Nur mit der sozialen Dreigliederung als Grundlage können die Menschen nach und nach brü­derlich werden.