27.09.2002

Politikerverdrossenheit und soziales Empfinden

Den Drachen von innen verwandeln

Der Normalbürger wird zunehmend unpolitisch und interessierten sich nur noch für sein eigenes, möglichst angenehmes Leben. Stimmt dieses Urteil? Keineswegs. Zunächst einmal ist „Normalbürger“ ein Unbegriff, wer sollte das sein? Zum anderen resignieren viele Menschen zwar gegenüber der herrschenden Politik und den herrschenden Vertretern der diversen Parteien, stehen jedoch keineswegs der Politik an sich unbeteiligt gegenüber. Schon „Resignation“ im Gegensatz zu Desinteresse weist auf eine innere Beteiligung hin. Die folgenden Ausführungen fassen Ergebnisse des Sozialwissenschaftlers Michael Vester zusammen, der an der Universität Hannover u.a. den Wandel sozialer Strukturen und Anschauungen erforscht.[1]


Seit den 90er Jahren werden die Regierungsmehrheiten in Europa zunehmend unsicher. In Deutschland verlor die „konservative“ CDU-Regierung 1998 nach 16 Jahren endgültig ihre Mehrheit, nachdem sie das bisherige Sozialmodell zunehmend in Frage gestellt hatte (zuletzt mit Einschränkungen bei Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall). Die „sozialdemokratisch-grüne“ Regierung machte einiges rückgängig, doch dafür wurde die Vermögenssteuer abgeschafft die Steuerreform brachte die Kommunen an den Rand des Ruins, und kurz vor den Wahlen 2002 wurde die „Hartz-Kommission“ eingesetzt, die gravierende Veränderungen für Arbeitslose mit sich bringen wird. Nachdem die CDU in Umfragen schon wieder eine deutliche Mehrheit hatte, kam es nach der Flut­ka­tastrophe und der Irak-Frage bei der Wahl zu einem genau gleichen Ergebnis für beide großen Parteien (38,5%). 

Der neue, alte Kapitalismus

Was offenbar die meisten Menschen wahrnehmen können, ist, daß die Politik zunehmend von der neoliberalen Theorie bestimmt wird: Das wichtigste Ziel oder aber ein unabwendbarer Sachzwang (je nach Argumentation) sei ein freier Welthandel, dessen Konkurrenzbedingungen man sich anpassen müsse. Angesichts dieser Argumentation sowie real sinkender Steuereinnahmen und stagnierenden Wachstums erfolgen Einschnitte in das Sozialsystem, das im Laufe mehrerer Jahrzehnte entstanden ist und gegen die Mechanismen des reinen Kapitalismus ein gewisses Maß sozialer Ge­rech­tigkeit garantieren sollte. Das Denken in neoliberalen Kategorien scheint die politische Ebene inzwischen weit­ge­hend zu be­stim­men, und so bemerkt man nicht die erstaunliche Tatsache, daß dessen Vertreter nur einen kleinen Teil der Gesell­schaft bilden. Dieser kleine Teil hat nämlich entscheidenden Einfluß in Politik und Medien. Immer wieder zeigt sich in der Geschichte, wie ein kleiner Teil einer Gesamtheit die öffentliche Sphäre beherrscht und gewisse – oft schlimmste – Ent­wicklungen herbeiführt. Die zur großen Mehrheit gehörenden Menschen meinen oft, sie seien die Minderheit. Sie fin­den nicht zusammen oder bleiben von vornherein passiv.

„Neoliberalismus“ ist im Grunde nur ein neues Wort für das uralte Modell des reinen Marktes bzw. Laissez-Faire-Kapitalismus. Behauptet wird nun wieder, daß der reine Markt zum größtmöglichen Wohlstand für – letztlich – alle führe. Staat oder Gewerkschaften sollen sich nicht in die Lohn“politik“ einmischen. Die Löhne müßten entsprechend der internationalen Konkurrenz sinken, damit etwa der „Standort Deutschland“ „mithalten“ könne. So heißt es, und nicht gesprochen wird von der Tatsache, daß 1980 bis 1997 die Nettogewinne sich mehr als verdoppelten, die Nettolöhne aber nur um 20 Prozent stiegen. Nicht gesprochen wird davon, daß die Wirtschaft insgesamt Jahr für Jahr wächst. Real existiert ein Reichtum, der, dem Willen seiner Besitzer nach, möglichst unsichtbar bleiben soll. Die gegenwärtige Stagnation ist zum großen Teil darauf zurückzuführen, daß bei der Mehrheit der Menschen die „Kaufkraft“ schwindet. Die Wirtschaftskrise naht, weil das Wirtschaftsleben so erfolgreich war (!), der wachsende Wohlstand aber höchst ungleich verteilt blieb. Die Industriegesellschaften drohen zu zerbrechen, weil sie mit ihrer eigenen Produktivität nicht umgehen können.

Das neoliberale Dogma (wer steht dahinter?) fordert die „Flexibilisierung“ und eine zunehmende „Eigenverantwortung“ der Arbeitnehmer. In klareren Begriffen heißt das: Der „Arbeitnehmer“ soll bereit sein, zu zunehmend beliebigeren Zeiten und an verschiedensten Orten zu arbeiten und für eine Entlassung (und die anschließende Suche nach einer neuen Arbeitsmöglichkeit) selbst die Verantwortung zu übernehmen. Zynischer kann man den eigenen Egoismus kaum noch sprachlich verschleiern. Unter den Voraussetzungen des Egoismus wird der materielle Überfluß zur Überflüssigkeit von Menschen. Doch angesichts ständigen Wirtschaftswachstums existiert überhaupt kein ökonomisches Problem, sondern ausschließlich und allein ein Verteilungsproblem. Dieses aber wird so lange weiter bestehen und sich sogar verschärfen, wie die Menschen dem Gedanken der Brüderlichkeit nicht Wohnung geben - in ihren Herzen.

Was denken die Menschen wirklich?

Die Mehrheit hat das Bedürfnis nach einer kontinuierlichen Arbeit, deren Mühen und Ergebnisse geachtet und aner­kannt werden. Die meisten Menschen sind bereit, für sich selbst weitgehende Verantwortung zu übernehmen. Mehr als früher nimmt man an Fortbildungen teil, ist man zum Wohnortwechsel mit der ganzen Familie bereit usw. – doch man erlebt, daß die Forderungen nach Flexibilität ohne jede Anerkennung dieser Anstrengungen monoton und gefühllos wie­derholt werden. Man erlebt, daß das Prinzip der „Leistungsgerechtigkeit“ immer mehr mißachtet wird. Aber nicht nur den Arbeitenden wird zunehmend Unrecht getan. Darüber hinaus wird behauptet, Massen von arbeitsscheuen Hedonisten würden den Sozialstaat zerrütten und – das Kind möglichst unbemerkt mit dem Bade ausschüttend – die Hilfe bei unverschuldeter Not sei ohnehin nicht mehr zeitgemäß.

Waren noch um 1980 nur 10% der Menschen „politikverdrossen“, schenken seit Beginn der 90er Jahre über 60% den Politikern keinen Glauben mehr (je über 30% stimmten dem Satz „eher“ bzw. „voll“ zu). Sie sind keineswegs verwöhnt von der „sozialen Hängematte“, sondern verdrossen, daß die Bereitschaft, sich den Bedingungen des modernen Wirt­schaftslebens anzupassen, nicht gerecht belohnt und in ihren sozialen Risiken abgesichert wird. Genau die Tugenden der Verantwortung, Beweglichkeit und Vernetzung, die den Bürgern abverlangt wer­den, werden bei den Politikern vermißt. Die politischen und sozialen Institutionen selbst dagegen finden in ihrem Kern weiterhin eine Akzeptanz von bis zu 90 Prozent. Die Kritik richtet sich vor allem gegen undemokratische Prozesse, eine zweiter Widerlegung des Bil­des vom selbstsüchtigen Bürger. 70 Prozent finden es nicht richtig, daß "immer häufiger politische Entscheidungen außerhalb der dafür vorgesehenen Gremien ausgehandelt" werden. Rund 60 Prozent finden es übrigens richtig, "an Politiker höhere moralische Maßstäbe anzulegen als an andere Menschen" (vermutlich auch aus dem Erlebnis heraus, daß die Moralität oft sogar geringer zu sein scheint).

Die Forderung "Das Mitspracherecht der Arbeitnehmer an ihrem Arbeitsplatz muß sehr viel größer werden" wurde von 72 Prozent befürwortet (von 44 Prozent „voll“). Eine Mitsprache der Gewerkschaften wurde wesentlich weniger bejaht, das heißt, es geht den Menschen ganz direkt um die individuelle Mitwirkung. Dies bezieht sich auch auf die Politik: Den Satz "Wenn man heute als Bürger politisch etwas erreichen will, muß man die Dinge selbst in die Hand nehmen“, bejahten 80 Prozent, davon fast 50 Prozent voll (1991 waren es nur 20 Prozent). Eine direkte Bürgerbeteiligung an wichtigen politischen Entscheidungen befürworteten 66 Prozent (und noch mehr der unter 40-Jährigen). Rund 50 Prozent haben „wichtigere Dinge zu tun, als sich um Politik zu kümmern“ (1991 waren es noch zwei Drittel). Fast 30 Prozent gaben an, eine ehrenamtliche soziale oder karitative Tätigkeit auszuüben, ein ebensogroßer Anteil ist in ei­nem anderen Ehrenamt tätig.

Wie gehen wir in die Zukunft?

Keine der großen Parteien scheint einen Ausweg aus der wachsenden sozialen Ungerechtigkeit zu sehen, teilweise auch nur zu suchen. Kleinere „linke“ Parteien haben verkürzte Lösungsansätze, die auf schematisch-sozialistischen Ideen beruhen. Teilweise geht es solchen Splittergruppen nur um einen Aspekt wie „Gerechtigkeit“, und es fehlt an Ideen zu allen anderen gesellschaftlichen Problemen. Wie stehen die Menschen der anthroposophischen Bewegung in dieser Situation? Man könnte sagen: Es gibt auf politischem Felde heute fast durchgängig eine geradezu schmerzende Leere. Einen grandiosen Mangel an fruchtbaren Ideen und Ansätzen angesichts der Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft. Die anthroposophische Bewegung verdankt Rudolf Steiner gerade in bezug auf das Soziale großartige Ansätze, denen durch­dachte Forderungen anderer sozialer Bewegungen teilweise sehr ähnlich sind.

Alle Bewegungen, die irgend etwas an den rechtlichen Rahmenbedingungen verändern wollen, müssen letztlich auf die politische Ebene wirken. Auch in Zukunft wird es (dann hoffentlich wahre) „Volksvertreter“ geben, was man nur abstreiten kann, wenn man glaubt, alle Entscheidungen lassen sich „basisdemokratisch“ treffen. Alle Entscheidungen von Menschen haben Wirkungen in die Zukunft hinein. Vor allem in der Politik werden zahllose Entscheidungen getroffen, die allergrößte Bedeutung für die menschliche Zukunft haben.

Wie stehen Anthroposophen dazu? Wie viele erheben angesichts der großen Zeitfragen öffentlich ihre Stimme? Wie begegnen Anthroposophen anderen Menschen, die auch von Idealen beseelt sind? Was ist mit den oft erwähnten „Michaeliten“, den Individualitäten, die entweder auf Erden oder schon vorher übersinnlich der Anthroposophie begegnet sind und am Ende des Jahrhunderts auf die Erde niedersteigen sollten, wie Steiner es als möglich und notwendig angekündigt hat? Werden Sie von der heutigen Form der „Anthroposophie“ überhaupt an-gesprochen? Wo ist Anthroposophie heute lebendig und die Sprache des Christus? Was ist Anthroposophie überhaupt? Aus wem von uns spricht Anthroposophie wahrhaft zum Mitmenschen, und inwieweit hört jener nur Vorstellungen, die ihn nicht betreffen (d.h. betroffen machen). Und dann: Wo sind die Anthroposophen, die über ihren Schatten (!) springen und auch den Schritt in die Politik wagen – und sei es als einen Schritt in die Haut des Drachen? So wie Steiner sich vor Jahren ganz in die Naturwissenschaft hineinbegeben und sie in sich aufnehmen mußte, um sie von innen aus zu verwandeln.

Den Drachen von innen verwandeln

Heute stehen die Menschen inmitten eines Kampfes, der um den Menschen und die Menschlichkeit ent­brannt ist, auch wenn dies oft noch nicht voll erkannt wird. Wir leben in einer Zeit, in der das direkte Emp­finden dessen, was Menschsein bedeutet, drastisch abnimmt und gleichzeitig die gesamte wissen­schaft­liche, technische und wirtschaftliche Entwicklung sich von ethischen Normen immer weiter abkoppelt. Diese Prozesse verstärken sich gegenseitig und bedrohen das menschliche Zusammenleben.

Die wirkliche Menschwerdung ereignet sich in unserer Zeit. Es ist heute notwendig, daß der Mensch sich und sein soziales Wesen neu erkennt und verwirklicht.

Das Erlebnis der Individualität wird sich weiterhin verstärken und alle traditionellen Bindungen weitest­ge­hend auslöschen. Dies war und ist die Voraussetzung für das moderne Freiheits-Erlebnis des Menschen. Die wirkliche Freiheit ist aber noch nicht erreicht. Gerade deshalb ist die bisher erreichte Freiheit heute äu­ßerst bedroht. Durch den fortschreitenden Individualismus bzw. seine Karikatur – den Egoismus – wird die „soziale Form“ unserer Gesellschaft (die Demokratie) von zwei Seiten seit langem ausge­höhlt. Politiker begeben sich ihres wahren Mandates, handeln zunehmend im Sinne wirtschaftlicher Interessen­grup­pen bzw. Ideologien und geben sich ihren Bedürfnissen nach Geld und Entscheidungsmacht hin. Die übrigen Men­schen tun vielfach das Gleiche, wo sie können - die Gesellschaft wird „atomisiert“.

Freiheit ist aber immer auch Freiheit des Andersdenkenden (Rosa Luxemburg). Wahre Freiheit ist mit Egois­mus ganz unvereinbar, denn in Wahrheit ist der Mensch innerhalb der Grenzen seines Egoismus seinen Begierden und Wünschen unterworfen und gerade unfrei. Das Geheimnis der Freiheit ist die Liebe. Überall dort, wo der Mensch über sich hinausblicken kann, macht diese Fähigkeit ihn frei von dem, was ihn in sich selbst festhalten will. Erst dann beginnt er, wirklich frei zu werden. Liebe meint jedes echte Interesse für etwas anderes um dieses anderen selbst willen. Liebe ist nicht Selbstver­leug­nung, sondern Selbst-Findung. Der liebende Mensch erlebt in sich eine wahrhaft wunderbare Fähigkeit und erkennt, daß alles, was ihn zum Egoismus treibt, seine wahre Menschwerdung verhindert. Das Geheimnis der Liebe aber ist - die Freiheit. Gerade darum kann wahre Liebe nie Selbstverleugnung sein, denn sie kann nur vom innersten Wesen her aktiv gewollt und getan werden.

Die Aufgabe der Politik

Heute geht es nicht darum, menschliche Gesellschaften politisch mehr oder weniger gut zu verwalten – dies muß scheitern. Es wäre angesichts aller Versuchungen unserer Zeit heute unbedingt notwendig, daß nur solche Menschen von der Gemeinschaft ein Mandat, d.h. eine Aufgabe, bekommen, die in jedem Moment empfinden können, daß sie aus Liebe zu dieser Gemeinschaft handeln. Darüber hinaus müßten sie ein Bewußtsein dafür haben, was dieser Gemeinschaft wahrhaft dient. - Ein Mandatträger muß immer die ganze Gemeinschaft im Bewußt­sein haben und darf sich nicht Sonderinteressen hingeben. Er muß aber in besonderem Maße die Schwäch­sten im Be­wußtsein haben, denn diese befinden sich immer in akuter Gefahr, aus der Gemeinschaft heraus­zufallen (heute sind leider viele faktisch von der Gemeinschaft ausgeschlossen).

Die zeitgemäße „soziale Form“ ist heute die soziale Dreigliederung. Für die Gesellschaft im Ganzen heißt das: Die Politik muß sich aus dem Bereich der Wirtschaft und dem des Geistesleben unmittelbar heraushalten; ihr eigentliches Aufgabengebiet sind diejenigen Entscheidungen, die das direkte mensch­li­che Zusammenleben betreffen. Die Politik muß allgemeine Rechte und Pflichten formulieren - Rechte im Hin­blick auf die Freiheit jedes Individuums, Pflichten im Hinblick auf die Freiheit und Menschenwürde der anderen. Sie hat als Sphäre der Rechtsfindung Maßstäbe in bezug auf den Schutz der Menschenwürde und der Lebens­grund­lagen zu setzen (Stichworte: Sozial-, Arbeits­- und Umweltgesetz­gebung) und – falls und soweit notwendig – auch die erforderlichen Maßnahmen zu bestimmen.

Die Politik muß mithelfen, daß die Su­che nach dem, was der Gemeinschaft wirklich dient, nicht von Wirtschaftsinteressen, Technologie­gläu­bigkeit, Fortschrittsideologie (als Zweck an sich) und anderem verdrängt wird. - Es ist Aufgabe der Politik, die Dis­kus­sion wichtiger gesellschaftlicher Fragen in die Gemeinschaft zu tragen und auf die Notwendigkeit hinzuweisen, daß sich jeder einzelne begründete Urteile und Über­zeugungen erarbeitet und - dann - auch mitspricht. Die Politik braucht das Engagement und das Wissen der Gemeinschaft. Sie muß mit all jenen zusammenarbeiten, die im jeweils in Frage kommenden Bereich fundiertes Wissen haben und nicht von Sonderinteressen geleitet sind. Die Zivilgesellschaft ist von größter Wichtigkeit für die Gestaltung des sozialen Zusammenlebens.

Alle Fragen, wo es um das Selbstverständnis dessen geht, was menschlich ist und was die wahren Ziele menschlicher Gemeinschaft und menschlichen Daseins sind, bilden – aus dem Geistesleben kommend – den Aufgabenbereich der "Politik". Die Politiker haben das Mandat und die kontinuierliche Unterstützung der Gemein­schaft, dem immer wieder und heute immer mehr bekämpften Menschentum den Weg zu bereiten. Es gilt, die wahren Entwicklungstendenzen des werdenden Menschen zu ahnen bzw. aufzu­greifen und durch Ausarbeitung entsprechender verbindlicher Regeln das Zusammenleben der Gemeinschaft zu ermöglichen.

Eine neue Partei?

Es ist deutlich, daß nicht nur die existierenden Parteien größtenteils sehr weit davon entfernt sind, sondern daß es überhaupt äußerst schwer sein dürfte, innerhalb der Organisationsform einer „Partei“[2] diese Ziele zu realisieren. Ein entsprechendes Bündnis wäre aber ein Faktor auf der politischen Ebene, der vielen Menschen erstmals die Möglichkeit gäbe, ehrlich ein Mandat zu erteilen - weil sie wirklich empfinden, daß ihre innersten Überzeugungen vertreten sind. –Ein solches Bündnis hätte nicht das Bestreben, an der Regierung teilzunehmen, weil seine Mitglieder wissen, daß sie stets Kompromisse schließen müßten, wo es für sie keine Kompromisse gibt. Die hauptsächliche Bestrebung dieses Bündnisses - neben der inhaltlichen Arbeit, etwa der Erarbeitung von Gesetzesvorschlägen und den Kontakten mit verschiedensten gesell­schaft­lichen Gruppen - wäre es, einfach dazusein und in seiner Existenz zu zeigen, daß es wirkliche Überzeu­gun­gen wirklicher Menschen repräsentiert.

Gibt es aber genug Menschen, die ein derart selbstloses Interesse am Ganzen haben und ihre Aufgabe darin sehen, das Wohl des Ganzen auf dem undankbaren und korrupten Feld der Politik zu vertreten? Wie finden sie sich? Wie kann in einem solchen Bündnis gemeinsam gearbeitet werden? Wie kann man das (begründete) Vertrauen und auch die Toleranzfähigkeit errei­chen, die es braucht, damit verschie­dene Menschen sehr selbständig arbeiten können? Wie kommt man innerhalb einer solchen Vereinigung zu Urteilen, was in bezug auf die verschiedensten Lebens­bereiche wahrem Menschsein entspricht und welche Gestalt verbindliche Regelungen daher haben sollten? Wie schützt man ein solches Bündnis vor Mitgliedern, die die geschilderten Ziele und Überzeugungen gar nicht vertreten?

Warum die politische Ebene?

Die Welt scheint unaufhaltsam auf einen reinen Kapitalismus zuzusteuern, in dem vielleicht bald per Gesetz (GATS etc.) jede Möglichkeit der Regulierung ausgeschaltet sein wird. Es droht der völlige Verlust jeder Möglichkeit menschlicher Regelungen, die das reine Sich-Ausleben von Profitstreben begrenzen oder sogar verwandeln könnten. Der Abgrund zwischen Arm und Reich wird aufgerissen werden. Man fragt sich, wie Menschen überhaupt denken oder glauben können, die globale „Deregulierung“ würde für das Ganze positiv sein! Dazu kommen die Auswirkungen eines geistblinden Materialismus auf alle Lebensbereiche. Angesichts der Verhältnisse kann man es als „Schwarzes Loch“ und geradezu brennenden Mangel empfinden, daß eine in sich geschlossene, authentisch-menschliche Alternative fehlt – und zwar auf der politischen Ebene, d.h. als „Partei“. Innerhalb jeder Partei wird es Menschen geben, die frei von jeder Blendung durch „Sachzwänge“ rein menschlich denken und klar sehen, aber diese werden innerhalb fast ohne Einfluß sein und außerhalb von den Wählern nicht bemerkt (und selbst wenn sie be­merkt würden, was dann?).

Wir leben in einer Zeit, in der sich die Geister scheiden. Es gibt heute auch eine wachsende Zahl von Menschen, die wahrhaft menschlich denken und handeln (wollen), d.h. denen es wahrhaft um das Wohl des Ganzen (d.h. der Menschheit und der Erde mit allen Wesen) geht und nicht in erster Linie um sich selbst. Dazu kommen dann als zweites die Menschen, die erkennen oder fühlen, daß dies nötig wäre, die aber selbst nicht die Impulse haben, dabei mitzutun. Aber alle diese Menschen, die mit dem jetzigen „Entwurf“ nicht übereinstimmen, weil er im Gegensatz zu ihren tiefsten Überzeugungen steht, müßten in unserem repräsentativen politisch-gesellschaftlichen System auch repräsentiert sein können. Schon die reine Signalwirkung, die es hätte, wenn auf politischer Ebene wirklich auch erscheinen würde, was unter den Menschen an Überzeugung lebt, wäre absolut wichtig. Selbst wenn ein Bündnis, das Menschlichkeit und ihre Konsequenz in allen Lebensbereichen (hinsichtlich rechtlicher Regelungen, aber auch in Form konkreter Leitbilder) verfolgen würde, nur 10% der Stimmen bekäme, kämen in der Folge, wenn es konkret politisch zu arbeiten beginnt, weitere Menschen hinzu, die die Richtigkeit der Vorschläge erkennen - und die Tatsache, daß es sich nicht um eine unmögliche Utopie handelt.

Es geht nicht darum, von oben eine ideale Gesellschaft zu schaffen, sondern nur die Lücke zu füllen, die es auf politischem Felde gibt - hinsichtlich der Repräsentanz menschlicher Überzeugungen. Die institutionalisierte Politik soll die von den Menschen kommenden Impulse aufnehmen. Heute aber ist nichts da, was die geistoffenen, zukünftigen Impulse einer durchaus großen Zahl von Menschen aufnähme. Wie anders wäre die Situation, wenn zum Beispiel die Forderung nach sozialer Dreigliederung nicht nur unentwegt von einem (kleinen) Teil der anthroposophisch arbeitenden Menschen gestellt würde, sondern - dies aufnehmend - innerhalb der Politik selbst, von einer ganzen „Partei“, die tatsächlich und ganz direkt geistdurchdrungene Ansätze verwirklichen möchte!

Jede gesellschaftlich-politische Idee muß zur Realisierung letztlich im Gebiet der Gesetzgebung ankommen. Auch in einer dreigegliederten Gesellschaft müssen noch Menschen von der Allgemeinheit das Mandat haben, Gesetze auszuarbeiten bzw. Gesetzes­vorschläge zu beschließen. Daß es in Zukunft vielleicht eine Verfassung geben könnte, in der die "Politiker" nicht mehr in Parteien zusammengeschlossen sind, sondern auch in der äußerlichen Form völlig frei miteinander arbeiten, ist die eine Sache. Heute noch steht man gegen die übrigen Parteien selbst dann ziemlich allein, wenn man sich ganz bewußt zusammenschließt.

Das trojanische Pferd der Zivilgesellschaft

Das hier gemeinte Bündnis soll die Aktivitäten der „Zivilgesellschaft“ keineswegs ablösen, sondern durch Ergänzung unterstützen. Es wäre ein Zusammenschluß von Menschen, die sich entschließen, direkt auf politi­schem Felde gemeinsam zu handeln und damit die Verbindung zu schaffen zwischen den Orten, wo selbstloses gesellschaftliches Engagement heute überall stattfindet und dem Ort, wo Erkennt­nis in das gesamtgesellschaftliche Leben einfließt (als Rechts­sprechung konkret wird).

Antipathien gegen die Idee einer Partei rühren oft von der Erkenntnis, daß das Prinzip der „Partei“ und vor allem die gegenwärtige Ausdehnung der politischen Sphäre unzeitgemäß sind. Das hier gemeinte Bündnis soll aber gerade mit aller Kraft die Notwendigkeit der völligen Autonomie der gesellschaftlichen Teilbereiche öffentlich machen und sich dafür einsetzen. Indem es klar ausspricht, daß alle Einrichtungen, die nicht von der Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Individuums und aller freiwilliger Vereinigungen ausgehen, nicht auf der Höhe der Zeit stehen, ja nicht einmal die Menschenrechte substantiell ernst nehmen. – Dieses Bündnis wird keine neue Form der Parteien-Tyrannei bilden, weil es im Gegenteil das Trojanische Pferd ist, das jene Tyrannei stürzen kann, sobald es von der Mehrheit der Menschen gewollt ist.

Welche Einrichtungen der Zivilgesellschaft haben ein Interesse an weniger Parteienmacht, d.h. an der Dreigliederung? Eigentlich alle, außer den Parteien selber und solchen, die die Parteien zum Werkzeug ihrer Interessen machen. Es setzen sich zahllose Menschen in den verschiedensten Vereinigungen für eine "bessere Welt“ ein (natürlich auch einzeln; die Vereinigungen machen aber ihre Zahl offensichtlich). Egal auf welchem Fach­gebiet – Ökologie, Dritte Welt, Menschenrechte, Bildung etc. -, immer kämpfen sie doch dagegen an, daß essentielle Fragen, die alle Menschen angehen, von wenigen Macht-Habenden im Sinne der herrschenden ökonomisch-neoliberalen Ideologie entschieden und für alle verbindlich geregelt werden. Die große Mehrheit der gesellschaftlich engagierten Menschen erkennt, daß dabei der einzelne Mensch, ja der Mensch überhaupt auf der Strecke bleibt, weil das Individuum mit seinem Recht und seiner Fähigkeit der Eigenverantwortung kaum noch gesehen bzw. gar nicht mehr für möglich gehalten wird.

Menschen aller dieser Initiativen könnten zu dem hier gemeinten Bündnis den Weg finden, weil sie erkennen, daß es dessen – einziges – Ziel ist, die Rahmenbedingungen zu schaffen, auf deren Basis die menschlichen Ziele dieser verschiedensten Initiativen und Vereinigungen eine Chance haben werden. Möglich, daß diesem Bündnis ungeheuer viel Hohn über seinen angeblichen „Idealismus“ begegnen wird. Dieser aber wird um so weniger greifen, als das Bündnis gar nicht vorhat, „idealistisch“ wirksam zu werden, sondern nur der Zivilgesellschaft und den anderen Gliedern des sozialen Organismus die ihnen zustehenden Wirkmöglichkeiten verschaffen will. Und dies nicht aus einem naiven Idealismus heraus, sondern aus einem klaren Erkennen der heutigen Notwendigkeiten. Es handelt sich um einen idealistischen Realismus: ein heißes Herz und ein kühler Kopf. Auch die Gegner werden wissen, daß ihr Hohn eine Lüge ist, und daß die Menschen, auf die es ankommt, sich davon nicht beeindrucken lassen. Nur finden müssen sie sich.

Fußnoten


[1] Michael Vester: Schieflagen sozialer Gerechtigkeit. In: Frankfurter Rundschau vom 21.9.2002. Michael Vester et al. (2001):  Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Verlag Suhrkamp

 

[2] Da eine „Partei“ (lat. pars = Teil), wie sie hier gemeint ist, sich weder von Sonderinteressen beeinflussen noch von Ideologien leiten lassen will, müßte man eigentlich von einer „Anti-Partei“ sprechen. Die offenlassende und zugleich die Idee der Brüderlichkeit betonende Bezeichnung „Bündnis“ trifft das hier Gemeinte ziemlich gut.