06.11.2002

Die Schulden des Südens und die Schuld des Nordens

Die Schuldenkrise der Dritten Welt ist in der Regel weit weg für das Bewußtsein eines Mitteleuropäers. Von Zeit zu Zeit liest man in der Zeitung über einen neuen Kredit, verbunden mit Auflagen des Internationalen Währungsfonds. Man liest über eine Wahl in einem südamerikanischen Land, bei der ein linker Kandidat gewinnt, in den die Menschen ihre Hoffnungen setzen. Aber wie es in den Ländern wirklich aussieht, überliest man – weil es höchstens zwischen den Zeilen steht.

 

  • Der tiefe Fall von Argentinien
  • Ausmaß und Ursachen der Schuldenkrise
  • Erschütternde Ungerechtigkeit
  • Einwände als Bumerang
  • Ein Insolvenzverfahren für Staaten
  • Eine Idee setzt sich durch
  • Faire Verfahren und illegitime Schulden
  • Schlußbemerkung



Beispiel Argentinien (ja, da war doch immer wieder etwas in den Schlagzeilen... Aber auch nicht in allen Zeitungen). Die Millionenstadt Buenos Aires war einst das größte Industriegebiet des Landes.
Tausende Arbeiter lebten in sauberen Wohnungen, alles war bepflanzt, es gab Jahrmärkte. Heute: In den Außenbezirken überall verfallene Fabrikanlagen, jeder Fünfte ist arbeitslos, doch auch wer Arbeit hat, kann davon meist nicht wirklich leben. Die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut – 18 Millionen Menschen. Zehntausende verlassen das Land, vor allem die jungen, gut ausgebildeten Argentinier. Die Auslandsschulden betragen über 142 Milliarden Dollar.

Der tiefe Fall von Argentinien

Argentinien war für den IWF das „Musterland“. Seit Beginn der internationalen Schuldenkrise in den 80er Jahren hat gerade Argentinien alle Forderungen und alle „Strukturanpassungsprogramme“ vorbildlich ausgeführt. Der Peso wurde an den Dollar gebunden, um die Währung zu stabilisieren. Hohe Zinsen holten Auslandskapital ins Land. Löhne und Renten wurden gesenkt, um den Staatshaushalt zu entlasten. Öffentliche Einrichtungen wurden privatisiert, um sie effizienter zu machen. Diese Vorschriften bilden seit nunmehr 20 Jahren das Erfolgsrezept des IWF. Geholfen haben sie selten, jedenfalls nicht der Dritten Welt.

Der überbewertete Peso erschwerte die Exporte. Die hohen Zinsen erdrückten die heimische Wirtschaft und machten die Menschen arbeitslos. Die Kürzungen der Sozialausgaben stießen die Bevölkerung erst recht in die Armut. Telefongesellschaften, Energieversorgung und Erdölindustrie sind nunmehr im Besitz europäischer oder nordamerikanischer Konzerne. Als die Dollarbindung dann Anfang 2002 doch aufgehoben werden mußte (weil angesichts der Überbewertung zunehmend niemand mehr Pesos haben wollte, sondern 1:1 in Dollar tauschte), verlor der Peso schnell 75% seines Scheinwertes. Auslandsschulden werden jedoch in Dollar aufgenommen und zurückgezahlt – für den argentinischen Staat bedeutet der Fall des Peso damit eine Vervierfachung der Schulden, in Peso gerechnet.

Über die Hälfte des Staatshaushalts floß schon in den letzten Jahren für den Schuldendienst ans Ausland. Dennoch wuchsen die Schulden ständig – auch durch die mit dem „Risiko“ steigenden Zinsen, die bis zu 25% betrugen. Der IWF gab nur noch Kredite – zuletzt allerdings gigantische, allein im Jahr 2000 40 Milliarden Dollar –, damit Argentinien weiterhin Schuldendienst leisten könne und nicht durch Zahlungsunfähigkeit die Banken des Nordens mit in den Ruin gerissen würden. Ende 2001 führte die Weigerung des IWF, eine Kredit-Tranche von 1,3 Milliarden Dollar auszuzahlen, endgültig zur Zahlungsunfähigkeit des Landes. Sogleich wollten die Menschen ihr Geld von den Banken abheben, die sämtliche Konten sperren ließen. Die Menschen in Argentinien – ohne Arbeit, also ohne Einkommen und ohne Sozialsysteme wie in Mitteleuropa gewohnt – hungern tatsächlich. Schon werden auch in den Nachbarländern Spar­guthaben wo immer möglich auf Privatbanken im Ausland abgezogen, weil man befürchtet, daß die Krise weitere Kreise zieht – und genau diese Kapitalflucht löst die Krise dann auch aus, so im Juli 2002 in Uruguay, wo die Banken ebenfalls schließen mußten, bis die USA im August einem neuen Sofortkredit zustimmen.

Ausmaß und Ursachen der Schuldenkrise

Argentinien ist nur ein Beispiel, wenn auch ein schlimmes. Aber sehr viele Länder in Schwarzafrika sind in einer noch schlimmeren Lage, weil dort von Anfang an nichts vorhanden war und jetzt zu dem Nichts noch die Schulden kommen. Insgesamt haben die Entwicklungsländer am Ende des Jahrtausends 2.100 Milliarden Dollar Schulden und zahlen jährlich über 300 Milliarden Dollar allein an Zinsen. Der Schuldendienst entspricht für Afrika rund 30% der Exporterlöse, für Lateinamerika sogar rund 40%. Das bedeutet: Der Süden verkauft dem Norden Produkte und muß zusätzlich ein Drittel oder mehr seines Erlöses für den Schuldendienst bezahlen. Von dem, was übrigbleibt, kann immer weniger importiert werden, denn die Preise für die Produkte der Dritten Welt sinken ebenfalls seit Jahrzehnten.

Die Entwicklungsländer sind nicht nur gezwungen, mit ihren oft ähnlichen Rohstoffen um die Märkte zu konkurrieren, es wird ihnen sogar ganz direkt vom IWF auferlegt, ihre Exporte zu steigern, um „zahlungsfähig“ zu bleiben. Zusätzlich senkt der Norden ständig seinen Bedarf nach den Rohstoffen – durch Effizienzsteigerungen, Recycling oder synthetischen Ersatz. Dies läßt die Preise weiter fallen – der Süden muß froh sein, wenn man ihm überhaupt noch etwas abnimmt: Die Rohstoff-Prostituierte des Nordens.

1955 hatten alle Entwicklungsländer zusammen sieben Milliarden Dollar Schulden. Es war die Zeit der Entwicklungseuphorie, die noch lange dauern sollte. Geld war im Norden reichlich vorhanden, und bevor es dort Inflation auslöste, gab man es lieber als billigen Kredit an den Süden, ihm versprechend – und dies oft auch wirklich glaubend –, daß mit dessen Hilfe eine schnelle Industrialisierung möglich ist. 1970 hatte die Dritte Welt 70 Milliarden Schulden – ein sehr überschaubarer Betrag. Doch dann wuchsen die Schulden von selbst. Zunächst kam die erste Ölkrise (1973/74) und alle, auch die Dritte Welt, hatten plötzlich deutlich mehr für diesen unersetzlichen Rohstoff zu zahlen. Der Norden brauchte – auch weil das „Wirtschaftswunder“ plötzlich zuende war – sein Geld jetzt vermehrt selbst. Die Privatbanken wurden ohnehin langsam mißtrauisch und verweigerten Anschlußkredite. Allgemein wurden Kredite zunehmend nur noch zu flexiblen Zinsen gewährt (also mit Rückzahlung zum jeweils gegenwärtigen Zinsniveau). Und die Zinsen stiegen, weil viele Industrieländer so ihre Inflation bekämpften (Verringerung der Geldmenge durch Verteuerung von Krediten) und zugleich Auslandskapital ins eigene Land locken wollten, da sie hohe Haushaltsdefizite hatten (v.a. die USA durch ihr gigantisches Aufrüstungsprogramm). Die Schuldenkrise der 80er Jahre ist so zu einem Großteil darauf zurückzuführen, daß der Norden über seine Kosten lebte!

Erschütternde Ungerechtigkeit

Hatte die Dritte Welt 1981 750 Milliarden Dollar Schulden, waren es 1985 bereits über 1000 Milliarden. Die Verschuldung stieg seit 1960 jährlich im Mittel um über 18% - schneller als jeder andere wirtschaftspolitische Index. – Ein Rätsel, wie man ursprünglich denken konnte, daß diese Schulden jemals zurückgezahlt werden könnten. Dies wäre ja nur möglich gewesen, wenn der Süden nach erfolgreicher „Entwicklung“ hätte mehr exportieren dürfen, um die Kredite zurückzu­zahlen. Also dem reichen Norden mehr liefern, als von ihm importieren. Schon das ist ebenfalls sachlich kaum nachvollziehbar, aber der Norden läßt dies bis heute nicht einmal zu, weil er selbst danach giert, möglichst viel zu exportieren, weil er die Märkte des Südens mit seiner politischen Macht gewaltsam öffnet, während er die seinen gerade für die wichtigsten Produkte des Südens – trotzdem er die freien Märkte im Munde führt – nach wie vor abschottet. Das geschieht nicht nur direkt über Zölle, sondern auch über Subventionen der eigenen Konkurrenzprodukte: Die Subventionen der Landwirtschaft übertreffen die „Entwicklungshilfe“ bei weitem. Wenn es also nur wirklich freie Märkte gäbe (ohne Zölle und ohne Subventionen) und nichts sonst, keine „Hilfen“ für die Dritte Welt – es wäre dieser unendlich viel geholfen. Man muß das einmal ganz klar von vorne bis hinten durchdenken und sich vorstellen, was das heißt!

Seit nunmehr 20 Jahren, seit 1982, muß der Süden mehr Geld für den Schuldendienst (Tilgung und Zinsen) aufbringen, als er aus dem Norden erhält (in Form neuer Kredite, Entwicklungshilfe und Direktinvestitionen). Seit 20 Jahren ist die Dritte Welt also Nettozahler gegenüber dem Norden. Sofern neue Kredite zugesagt werden, dienen sie fast nur noch dazu, Zinsen zu bezahlen (in den 80er Jahren erhielt der Norden über 500 Milliarden Dollar allein an Zinsen). Seit Mitte der 80er machten auch IWF und Weltbank Reingewinne – kassiert von Ländern, die diese Institutionen wegen ihrer Schuldenprobleme um Hilfe gebeten hatten. Allein 1991 mußten die Entwicklungsländer 32 Milliarden Dollar mehr Schuldendienst leisten, als sie an Darlehen erhielten – und immer noch verkündete der Norden, das Blatt würde sich mit neuen Entwicklungsstrategien wenden.

Während die Schuldenkrise der Dritten Welt eine nicht faßbare Unmenschlichkeit darstellt, würden durch einen Erlaß der ohnehin nie zurückzuzahlenden Schulden bei richtigem Vorgehen nur die Gewinne der Banken und des IWF geschmälert. Würde der IWF alle Kredite an afrikanische Staaten erlassen, entspräche der „Verlust“ etwa einem Zehntel seiner Goldreserven.

Einwände als Bumerang

Nun gibt es stellenweise die Argumente: Ja, die Regierungen in der Dritten Welt waren korrupt, haben Waffen gekauft und so weiter. Das ist das Feigenblatt, mit dem der Norden sich und sein Gewissen retten will. Aber selbst dies kehrt sich gegen ihn selbst. Von wem hatte die Dritte Welt denn ihre Waffen? Entweder vom Westen oder vom Osten – in jedem Fall vom Norden –, beide sehr darauf bedacht, möglichst mehr Waffen zu verkaufen als die jeweils andere Seite. Regierungen des Nordens gaben diktatorischen Regimen bereitwillig Kredite, wohlwissend, welchen Zwecken sie voraussichtlich dienen und welchen nicht. Als die Schuldenkrise nicht mehr übersehbar war, hat die Weltbank den Entwicklungsländern Kredite geradezu aufgedrängt, um die kommerziellen Banken vor Verlust zu bewahren. Und die Kredite wurden weiter gewährt, als sogar die Kapitalflucht in einigen Ländern offensichtlich geworden war. Die Privatbanken wiederum gaben in dem Maße weiter Kredite, wie sie darauf vertrauen konnten, daß der IWF sie im Fall einer Krise „freikaufen“ würde (z.B. 1997 in Indonesien mit einem neuen 40-Milliarden-Dollar-Kreditpaket, der größte Kredit in der IWF-Geschichte wurde Brasilien im August 2002 zugesagt: 30 Mil­liarden Dollar). Und die Weltbank gab noch bis in die jüngste Zeit Kredite für Großprojekte (Staudämme etc.), auf deren Unrentabilität unab­hängige Gutachter immer wieder hinwiesen.

Es soll nicht abgestritten werden, daß der Norden vielleicht kurze Zeit wirklich guten Gewissens meinte, mit Krediten wirklich zu helfen. Doch kann man sich wirklich mit dem Verweis auf (naive) gute Gedanken aus der Verantwortung stehlen? Wer das will, beweist im selben Moment doch nur, daß sein angeblicher guter Wille eine absolute Lüge ist. Im Fall der Schuldenkrise hat der Norden es seit 20 Jahren fast noch erfolgreicher als in bezug auf den Kolonialismus geschafft, dem Süden alle Folgen zu überlassen. Und mußte er die Schuld seiner kolonialen Vergangenheit zumindest noch zugeben, so bemüht er sich in bezug auf die Schulden bis heute, seine Hände in Unschuld zu waschen. Dazu muß er mit voller Härte auf den Zahlungen bestehen, denn nur so bleibt das Bild des „schuldigen Südens“ gewahrt. Um also den Anschein der Unschuld zu wahren, wird der Norden ein zweites Mal schuldig, indem er nun seine absolute Unmenschlichkeit beweist.

Es waren unsere Experten, die der Dritten Welt das Konzept „Entwicklung durch Schulden“ verkauften. Später waren es unsere Finanzminister und Zentralbankvorstände, die in Gestalt des IWF dem Süden „Strukturanpassung“ verordneten. Nicht etwa die Weltwirtschaft sollte angepaßt werden, um dem Süden zumindest gleiche Chancen zu gewähren. Nein, der Weltmarkt und seine Tendenzen blieben wie sie waren, der Süden hatte einfach mehr zu exportieren, um die – ohne seinen Einfluß stets weiter steigenden – Schulden und Zinsen bedienen zu können. War die Gottlosigkeit des Nordens in der Zeit der Sklaverei offensichtlich gewesen, so war sie nunmehr wesentlich subtiler, weil auch die Sklaverei nicht mehr so benannt wurde. Doch der Süden mußte nun, statt für seine eigene Versorgung die Landwirtschaft zu entwickeln, Exportfrüchte erzeugen, die unser Nahrungsangebot bereichern. Damit die Tilgungen und Zinsen wenigstens teilweise bezahlt werden können, hat der Süden zu liefern, was wir nachfragen. Und da ihm Entwicklung verwehrt ist, bleiben bloß billige Arbeitskräfte („Arbeitsmigranten“), billige Ferienziele, Tropenholz, Südfrüchte und Soja für unsere Massentierhaltung. Man bedenke auch dieses zweimal, wenn nicht zehnmal: Der Süden beliefert den Norden, um Schuldzinsen zahlen, um den Schuldendienst leisten zu können! Nur das tote und ökonomiefixierte Denken hält den Süden für den größten Schuldner - in Wirklichkeit ist es der Norden: gegenüber der Dritten Welt und dem ganzen Planeten.

Man denke noch einmal an die Vorschriften des IWF - Bedingung für neue Kredite: Förderung ausländischer Investoren, Aufhebung von Importbeschränkungen, Kürzungen des Sozialetats (Bildung, Gesundheit etc., nicht etwa Rüstung). Man kann unter Entwicklung verschiedenes verstehen, doch eins ist sicher: Ohne Bildung und überhaupt ohne die Gewährleistung grundlegender sozialer Verhältnisse ist jede Form von Entwicklung unmöglich. Überhaupt stelle man sich vor, ein Staat im Norden stände solchen Eingriffen in seine Souveränität gegenüber. Er würde dem Aggressor den Krieg erklären oder bei der nächsten Wahl hinweggefegt. Der Süden aber steckt schon in der Schuldenfalle und muß alle „Maßnahmen“ über sich ergehen lassen. In den meisten Ländern, die den IWF-„Empfehlungen“ folgten, sanken die Reallöhne, stieg die Arbeitslosigkeit und sank die Lebensmittelproduktion pro Kopf der eigenen Bevölkerung. Es ist geschätzt worden, daß allein im Jahr 1988 in Schwarzafrika 320.000 Kinder an den Folgen von Preisverfall, Überschuldung und „Sanierungsauflagen“ starben.

Ein Insolvenzverfahren für Staaten

Heute genießen Schuldner überall im Norden Schuldnerschutz durch moderne Insolvenzregelungen. In solchen Verfahren wird dem Schuldner nicht nur das Existenzminimum gelassen, sondern es ist geradezu das Ziel, ihn wieder in die Wirtschaft einzugliedern. Ein sachgemäßer Kompromiß führt zur Streichung aller unbezahlbaren Schulden. Sogar ausländische Geldgeber (auch Regierungen!) sind an diese Regelung gebunden, sobald das Verfahren einmal eröffnet wurde. In Deutschland wurde die Möglichkeit einer Restschuldbefreiung auch für Privathaushalte eingeführt, nachdem aggressive „westliche“ Verkaufsmethoden in den neuen Bundesländern zu einer politisch nicht mehr tragbaren Zahl überschuldeter Privathaushalte geführt hatten. In den USA gibt es sogar für öffentliche Körperschaften wie Gemeinden ein Insolvenzverfahren („Chapter 9“, 1975 meldete z.B. New York Zahlungsunfähigkeit an). – Nur für Staaten existiert es noch nicht (obwohl z.B. Deutschland 1953 faktisch eine Insolvenz gewährt wurde, nachdem der Schuldendienst – heute muß man sagen „nur“ – 5% seiner Exporteinnahmen ausmachte). Dabei schlug schon Adam Smith 1776 auch für Staaten eine Insolvenzlösung vor. Dies würde auch den Gläubigern nur zugute kommen. Die heutigen Phantomschulden entbehren jeder realen Grundlage, da sie nie zurückgezahlt werden können, doch die öffentlichen Gläubiger führen sie in ihren Büchern nach kameralistischer Weise als volle, unberechtigte Forderungen, deren Streichung das Budget belasten würde – sinnvolle Schuldenreduktionen erscheinen so auf dem Papier immer teurer.

Nach dem Chapter-9-Verfahren der USA ist es dem Gericht verboten, zu entscheiden, welche Dienstleistungen und Vergünstigungen der Schuldner seinen Bürgern bereitstellen darf. Die Gläubiger sollen erhalten, was unter den gegebenen Umständen vernünftigerweise erwartet werden kann. Wichtiger Bestandteil ist ein Anhörungsrecht der Betroffenen (Steuerzahler und Arbeitnehmer der municipality). Es ist kaum Zufall, daß dagegen die üblichen "Verhandlungen" mit dem IWF und der Weltbank hinter verschlossenen Türen geführt werden. Interessant ist auch, daß IWF und Weltbank immer wieder Demokratie fordern, ohne selbst dazu bereit zu sein (im IWF haben die über 130 Entwicklungsländer ein Drittel der Stimmen, die USA mit 17% ein sicheres Vetorecht; in der Weltbank haben die fünf größten Anteilseigner feste Sitze im Aufsichtsrat, die übrigen rund 170 Staaten teilen sich 17 Sitze, der Weltbank-Präsident ist immer US-Amerikaner).

1996 stellten IWF und Weltbank eine Initiative vor, nach der 41 sogenannte HIPC, das sind hochverschuldete arme Länder (die meisten in Schwarzafrika), einen teilweisen Schuldenerlaß bekommen würden, wenn sie erfolgreich eine sechsjährige „Strukturanpassung“ durchlaufen hätten. Das Ziel war allerdings ausdrücklich, die Schulden auf ein „tragfähiges“ Niveau zu reduzieren, was die Weltbank so definiert, daß „ein Land aller Wahrscheinlichkeit nach in der Lage ist, seine gegenwärtigen und zukünftigen Verpflichtungen zu erfüllen“ – also gerade wieder zahlungsfähig ist. Die Initiative sollte acht Milliarden Dollar kosten, wobei noch zwei Jahre später erst 16 Regierungen rund 200 Millionen Dollar zugesagt hatten. – Wesentlich durch eine Initiative von Bundeskanzler Schröder wurde auf dem Weltwirtschaftsgipfel 1999 in Köln die Initiative stark erweitert. Allerdings zeigt eine NGO-Studie von Herbst 2002, daß die Initiative nur bei höchstens 10 der über 40 Länder überhaupt greifen wird (die anderen haben u.a. weniger Wachstum als erwartet, so daß die Schuldenlast weiter untragbar ist, oder der Prozeß der „Strukturanpassung“ erfüllt nicht die Anforderungen des IWF, so daß die Schuldenentlastung gar nicht gewährt wird).

Eine Idee setzt sich durch

Die Idee einer Insolvenzregelung für Staaten wurden schon bald nach Beginn der Schuldenkrise von vereinzelten Autoren wieder vorgebracht und auch 1986 von der UNCTAD aufgegriffen. 1990 weist Prof. Raffer in Wien auf das Vorbild des Chapter 9 hin, verschiedene NGOs beginnen, das Konzept vorzustellen. 1994/95 regt die Mexikokrise die Debatte erneut an, 1997 beginnt die Asienkrise. Im selben Jahr bringt der südafrikanische Erzbischof die Idee der illegitimen Schulden („odious depts“) in die Diskussion. Dabei geht es zum einen um Kredite an diktatorische Regime, zum anderen aber um solche an korrupte Regierungen (sogar laut Weltbank fließen bis zu 30% der staatlichen Kredite direkt in die Taschen korrupter Beamter). Im gleichen Jahr beginnt die SAPRI-Initiative, in der zivilgesellschaftliche Organisationen gemeinsam mit der Weltbank die Folgen von Strukturanpassungsprogrammen in mehreren Ländern bewerten.

1998 einigen sich die sogenannten Erlaßjahr-Kampagnen auf einen Namen für das von ihnen geforderte Schiedsverfahren zum Schuldenerlaß: „Fair and Transparent Arbitration Process“ (FTAP). Anläßlich des G7-Gipfels in Köln fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, die Vorteile und Chancen eines internationalen Insolvenzverfahrens zu prüfen. Ein Jahr später regt UN-Generalsekretär Kofi Annan in seinem Millenium-Report ein derartiges Verfahren an. Entscheidend ist dann die Weltbank, deren Vizepräsidentin Anne Krueger im November 2001 erstmals „einen neuen Ansatz zur Regelung souveräner Schulden“ ankündigt. Ende des Jahres veröffentlicht das BMZ ein Gutachten von Prof. Christoph Paulus, das die Forderung der FTAPs deutlich unterstützt und sich weitgehend mit den Vorschlägen der NGOs deckt. Im Abschlußbericht der Enquete-Kommission  „Globalisierung der Weltwirtschaft“ findet sich ebenfalls die klare Empfehlung, FTAP-Verfahren international einzuführen. - In weiteren Verlautbarungen betont Anne Krueger, daß der IWF als privilegierter Gläubiger zu behandeln sei, da er ja auch „frisches Geld“ bereitstellen müsse. US-Finanzstaatssekretär Taylor boykottiert das ganze Verfahren und fordert statt dessen nur erweiterte Klauseln in künftigen Kreditverträgen (für eine gemeinsame Verpflichtung aller Gläubiger im Falle einer Insolvenz). Nach allseitigen Protesten zieht sich der IWF als zentrale Schiedsinstanz zurück und schlägt ein „Dispute Resolution Forum“ vor, das beim IWF nur angesiedelt sein soll. Laut IWF-Vorschlag sollen die Gläubiger selbst mit qualifizierter Mehrheit über die Entschuldung entscheiden, das Schiedsgericht hat nur die Beachtung von Verfahrensregeln zu überwachen.

Faire Verfahren und illegitime Schulden

Was fordern die Erlaßbewegungen und NGOs als „Faires und Transparentes Schiedsverfahren“? Ein unparteiisches Gremium hat erstens die Legitimität bzw. Illegitimität von Schulden festzustellen, zweitens ein Existenzminimum der Bevölkerung festzulegen, das vom Schuldendienst nicht beeinträchtigt werden darf. Das ganze soll ein öffentliches Verfahren sein, an dem die Zivilgesellschaft unmittelbar teilnimmt. Die Anhörung der verschiedensten Betroffenen macht gerade die Beurteilung und Abwägung der verschiedenen Ansprüche und Bewertungen möglich. Auf dieselbe Weise erfolgt auch eine transparente Selbstverpflichtung des Schuldnerlandes in bezug auf Sozialausgaben, deren Umsetzung wiederum von der Zivilgesellschaft überprüft wird. - In bezug auf die neutrale Instanz könnte ein Pool von möglichen Personen bei der UNO oder dem IGH etabliert werden, wobei der Schuldner und die Gläubigerseite z.B. je zwei auswählen (und diese dann gemeinsam einen fünften bestimmen, damit ein Mehrheitsurteil möglich wird).

Illegitime Schulden sind nach mehrheitlicher Ansicht im Schrifttum solche Schulden, die sich ohne Zustimmung der Bevölkerung und mit vollem Wissen des Gläubigers gegen die Interessen der Bevölkerung eines Staates richten. Noch umfassender formuliert es ein Papier des Ökumenischen Rates der Kirchen in Deutschland: Illegitim sind Schulden, die a) nicht zurückgezahlt werden können, ohne grundlegende Menschenrechte in Frage zu stellen, b) von illegitimen Regimen gemacht wurden, c) für illegitime Zwecke verwendet wurden oder d) unter illegitimen Umständen zustande kamen (z.B. aufgezwungen, Wucherzinsen, höhere Gewalt etc.).

So haben etwa die weltweit von der Weltbank finanzierten oder durch Exportbürgschaften abgesicherten Großstaudämme die angestammte Bevölkerung vertrieben, Wälder zerstört und Ackerflächen unfruchtbar gemacht – nun müssen die Bürger dafür noch Zins und Tilgung zahlen. - Ein besonders deutliches Beispiel sind die philippinischen Schulden der Günstlingswirtschaft von Marcos zwischen 1972 und 1986. Die Gelder flossen in marode Firmen, Luxusimporte oder auf Schweizer Bankkonten. Marcos übernahm bereitwillig Bürgschaften und dann staatlicherseits die Schulden, mit Wissen des Westens. Für das Atomkraftwerk von Bataan zahlte die US-Baufirma Westingshouse eine “Kommission” von über 70 Mio $ an einen Marcosgünstling. Das Kraftwerk wurde auf einer Erdbebenspalte nahe dem Pinatobu errichtet, der 1991 ausbrach, und ging nie in Betrieb. Alle Fakten waren den Gläubigerbanken bekannt - heute zahlen die Philippinen 100 Millionen Dollar Zinsen jährlich allein für diese „Investition“.

Schlußbemerkung

Schuldenerlasse sind ein wichtiger und erster Schritt in Richtung schlichter Gerechtigkeit – von Milde kann keine Rede sein. Aber selbst ein Erlaß würde morgen die nächste Schuldenkrise im Gefolge haben, wenn sich sonst nichts ändert. Das Schuldenproblem hat Entwicklung in der Dritten Welt bereits weitgehend unmöglich gemacht, indem die Wirtschaftsstrukturen ganz auf den Export ausgerichtet worden sind und die einheimische Wirtschaft schon lange verdrängt wurde. Noch allgemeiner gesehen ist die Schuldenkrise Teil eines Systems, das auf ungerechtem Handel, Finanzspekulation, nicht nachhaltigen Konsummustern, ökologischer Zerstörung und den unterschiedlichsten Formen militärischer oder imperialer Interventionen basiert. Daher kann nur eine radikale Reform des internationalen Wirtschaftssystems Abhilfe schaffen. Man erinnere sich: Allein eine Öffnung der Märkte des Nordens wäre um ein Vielfaches bedeutender als die „Entwicklungshilfe“. Doch heute sehen die hochentwickelten Staaten des Nordens ihr eigenes wirtschaftliches Überleben akut gefährdet, wenn sie den bitterarmen Ländern des Südens auch nur das zugestehen sollten, was sie von ihnen regelrecht erzwingen: einen freien Markt.