2003

 

In dem Artikel im Freitag hieß es unter anderem:

„Etwa 1970 begründete er den Begriff der Autopoiesis, nachdem er lebende Systeme als zirkuläre Systeme beschrieben hatte. Das Leben, sagte ich mir, hat keine Bedeutung, keinen Sinn, es folgt keinem Programm des evolutionären Fortschritts. [...] Der Zweck eines Hundes ist es, ein Hund zu sein. In der gegenseitigen Abhängigkeit von DNA und Proteinen, in der Zirkularität der Prozesse offenbarte sich ihm jene Dynamik, die lebende Systeme zu autonomen und zu abgegrenzten Einheiten werden läßt. [...] Wenn man ein lebendes System betrachtet, findet man ein Netzwerk der Produktion von Molekülen, die auf eine Weise miteinander interagieren, die ihrerseits zur Produktion von Molekülen führt, die durch ihre Interaktion eben dieses Netzwerk der Produktion [...] erzeugen und seine Grenze festlegen. [...] Die Besonderheit des Zellstoffwechsels [...] besteht nun darin, daß er Bestandteile erzeugt, die allesamt in das Netzwerk [...], das sie hervorgebracht hat, integriert werden. [...] Wenn ich nun Gott als die Quelle von allem verstehe, dann wird er keineswegs überflüssig: Es ist – so gesehen – Ausdruck der Existenz Gottes, daß das Lebendige sich bildet, wenn bestimmte Bedingungen vorliegen.

10.01.2003

Autopoiesis – Illusion und Wirklichkeit

Zum Artikel „Die Selbsterschaffung der Welt“, ein Gespräch mit Humberto R. Maturana, im „Freitag“ vom 10.1.2003. Die ersten drei Absätze erschienen zwei Wochen später als Leserbrief („Nichtssagender Begriff“).


Muß man wirklich nur ein griechisches Wort in die Diskussion einführen? Denn das Wort Autopoiesis oder Selbsterschaffung ist doch wirklich nichtssagend, um nicht zu sagen irreführend. Natürlich weiß schon ein Kind, daß Lebewesen nicht etwa wie Kuchen gebacken oder wie Autos zusammengesetzt werden. Das macht ja gerade das Wunder des Lebens aus, daß man zwar immer wieder versucht hat, es auf gewisse Prozesse zurückzuführen, daß es aber niemals konsistent gelungen ist, ja nicht gelingen kann. 

Nun, man gießt das Wunder also in einen „wissenschaftlich“ klingendes Wort, und schon meint man, es schließlich doch erklärt zu haben. Autopoiesis ist das Eingeständnis des Menschen, das er das Leben nicht verstehen kann, nichts weiter. Mit Wissenschaft hat das nichts zu tun. Wissenschaft hat – oder hätte – die Aufgabe, Dinge zu erklären. Ein hohler Begriff – d.h. aber eigentlich: ein Un-Begriff – tut dies nicht.

Wenn Maturana in einer weiteren Wortschöpfung Lebewesen als „zirkuläre Systeme“ beschreibt, so zeigt das die Vorliebe für mathematisch-technische Ausdrucks- und Sichtweisen, kommt dem Phänomen des Lebens aber ebensowenig näher. Ein Zirkel erklärt wiederum nichts, er ist nur ein Ärgernis für Logik und Verstand. Wenn in Lebewesen ständig Prozesse stattfinden, die wechselseitig voneinander abhängig sind, so ist dies eben zunächst ein Wunder. Die Bezeichnung „zirkuläres System“ gibt dem „Wissenschaftler“ das gute Gefühl, etwas ausgesagt zu haben. Wie kommt es aber, daß diese „zirkulären Systeme“ sich vollkommen geordnet entwickeln? Nun, weil sie eben dem Prinzip der Autopoiesis gehorchen! Doch gerade weil sie sich geordnet entwickeln, kommt Maturana zu dem Wort Autopoiesis. Ein wunderbarer Zirkel, der jedoch bei kurzem Nachdenken nicht ansatzweise so wunderbar wie das Leben ist.

Maturanas Verdienst ist einzig und allein, dem krassen Materialismus, der tatsächlich alles nur aus der DNA heraus erklären will, kurzzeitig die Spitze genommen zu haben. Doch spätestens wenn er sich argumentativ selbst in die Gefilde der Molekularchemie begibt, wird er nur ein weiterer Vorkämpfer dieses Materialismus, mag er am Ende noch Gott erwähnen oder nicht. Schon das Leben begreift er so wenig wie die DNA-Fetischisten, mag er das Wunder auch ein wenig mehr bemerkt haben. 

Ein Phänomen nicht zu verstehen – vielleicht, weil es für den Verstand wirklich nicht verstehbar ist –, ist das eine. Es unbewußt oder bewußt doch wieder auf untergeordnete Phänomene zurückführen zu wollen – oder zu meinen, dies tun zu können –, ist das andere. Warum läßt man das Phänomen „das Leben“ nicht einfach einmal stehen und nimmt es hin als das, was es ist – als Wunder (ohne sentimentalen, kitschigen oder dogmatisch-religiösen Unterton)? Maturana spricht von „Molekülen, die auf eine Weise interagieren, die ihrerseits...“. Der Zellstoffwechsel integriert alle Bestandteile „in das Netzwerk..., das sie hervorgebracht hat“. Machen nun die Moleküle, ihre Interaktion oder das sie hervorbringende Netzwerk das Lebewesen aus? Lauter Unklarheiten, mehr Fragen als alles andere. Maturana erklärt nicht, er verklärt. Er verklärt den Begriff Leben, indem er durch Unklarheiten die Möglichkeit von Verstehen überhaupt zerstört, und er verklärt sein Wort Autopoiesis, indem er meint, mit ihm eine Entdeckung ersten Ranges gemacht zu haben.

In bezug auf das Verstehen von Lebewesen würde man vielleicht einen ersten Schritt tun, wenn man dem Phänomen „Leben“ gegenüber zugeben würde, es nicht zu verstehen. Dies klingt nur zunächst paradox. Es geht um die Einsicht, daß das Lebendige einen völlig anderen Daseinsbereich als das Tote darstellt, das der Verstand in der Tat exzellent begreifen kann. Wenn der Verstand aufhört, das Leben auf das reduzieren zu wollen, was er begreift oder zu begreifen meint, dann kann der Mensch Zugang zu den Phänomenen gewinnen. Das gilt generell, nicht nur für das Leben im eigentlichen Sinne, sondern auch für das Seelenleben und für den Geist.

Zum wirklichen Verstehen gehört Demut – Demut vor den Phänomenen und vor den eigenen Grenzen und Blindheiten, vor denen man zunächst steht. Diese Demut ist dem heutigen Verstand gar nicht recht. Er will kombinieren, assoziieren, neue Worte schöpfen, Nobelpreise gewinnen und vieles mehr. Er meint, alles zu können – das ist reiner Hochmut. Hochmut aber kommt vor dem Fall, und der gewöhnliche Verstand ist schon gefallen – in die Illusion, allerdings ohne daß er es merkt. Nicht die Welt erschafft sich selbst, sondern der Mensch erschafft sich eine Welt voller Illusionen, weil er mit seinem hochmütigen Verstand nicht bereit ist, die wirkliche Welt zu sehen.

Würde der Verstand sich wieder zur Wirklichkeit aufraffen und versuchen, Wirklichkeiten zu denken – auch wenn dies zunächst bedeutet, das Leben erst einmal als Wunder zu bezeichnen, weil die ersten Schritte die schwersten sind, und es zu mehr noch nicht reicht (und auch die Bezeichnung Wunder wäre nur die Umschreibung der eigenen Unfähigkeit) –, dann würde er langsam zur Vernunft kommen. Die Philosophie kannte schon immer die Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft. Das Wort Vernunft weist auf ein Denken, das nicht mehr Illusionen kombiniert, sondern beginnt, zunächst sich selbst zu ergreifen und dann – das wäre der nächste Schritt – auch die Wirklichkeiten, die es umgeben.

Der menschliche Geist ist kein toter Begriff, kein traditionelles Dogma, sondern eine Realität, von der der intellektuelle Verstand kaum mehr als ein Schattenwurf ist. Aber lebendiger Geist ist nicht gegeben, sondern muß – oder müßte – in jedem Augenblick sich selbst hervorbringen. Hier hat der Begriff Autopoiesis seine Wirklichkeit.
 

Dem Verleger des „Freitag“ schickte ich den Text mit folgendem Anschreiben:


Sehr geehrter Herr Ullmann,

ich schreibe Ihnen aus Anlaß des Artikels bzw. Gespräches mit H.R. Maturana im letzten Freitag. Ich kann nicht verstehen, wie ein Mensch wie Maturana so berühmt werden und wie man ihm in einer oft wunderbaren Zeitung so viel Platz einräumen kann. Wahrscheinlich bedingt das eine das andere. Muß man wirklich nur ein griechisches Wort in die Diskussion einführen? Bitte lesen Sie meine Erwiderung im Anhang. Ich hoffe, sie findet Ihr Interesse.