16.01.2003

Das geistlose Strafrecht und der Sinn des Bösen

„Wer von euch ohne Schuld ist...“

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 31.1.2003 (Nr. 5).


Am 11. Januar begnadigte der Gouverneur von Illinois, George Ryan, zwei Tage vor Ende seiner Amtszeit alle 167 Menschen, die in diesem US-Bundesstaat in der Todeszelle saßen. In seiner bewegenden Rede heißt es: Ich mußte handeln. Unser System der Todesstrafe wird vom Dämon des Irrtums verfolgt, Irrtum in der Festlegung von Schuld, und Irrtum in der Festlegung, wer von den Schuldigen verdient hat zu sterben.[1] Anfang 2000 hatte Ryan bereits ein Moratorium angeordnet, nachdem eine Studiengruppe der Universität Chicago mehrere Fälle aufgerollt hatte und in 33 Fällen die Unschuld festgestellt worden war. Während der folgenden drei Jahre beschäftigte er sich intensiv mit der Frage der Todesstrafe und den Ergebnissen der Studiengruppe, sprach mit Angehörigen von Opfern und von Tätern, und kam schließlich zu seinem Entschluß – im Bewußtsein, sein Bestes getan zu haben, um das Richtige zu tun

Man darf sich vorstellen, daß einstmals auch „Strafen“ die Aufgabe hatten, dem noch kindhaften Menschen neue Richtungs-Kräfte einzufügen. Wollte man dies in die heutige Zeit übertragen, hätte man den wesentlichen Schritt in der Menschheitsentwicklung nicht verstanden. Das Richtet nicht des Christus hat seine tiefste Bedeutung. Nicht der Mensch bringt das Recht hervor, obwohl er es sich anmaßt, sondern das Recht wird ihm geschenkt – nur das höhere Ich berührt seine Quelle. Ein Abglanz des wesenhaften Rechts erscheint im Gefühl jedes Menschen, der im Innersten erleben kann, was recht ist und was nicht.

Wer das Wesen des höheren Menschseins erahnt, kann zweierlei wissen: daß das Rechte immer vollkommen individuell ist. Und daß jedes Richten in der Tat ein Unrecht ist. Man kann dann niemanden schuldig nennen, ohne sich zugleich selbst schuldig zu sprechen. Georg Kühlewind schreibt in seinem Buch „Die Wahrheit tun“:

Schuld ist alles, was wir nach unseren Möglichkeiten, Veranlagungen, Fähigkeiten anderen Menschen geben könnten, was wir aber zurückhalten... ... Daß der andere Schuld hat, ist nicht wahr; solange wir das noch annehmen, sind wir in unserer Schuld befangen.

Der Glaube daran, daß Gut und Böse derart getrennt sein könnten, daß jemand auf der einen Seite und ich auf der anderen stehe, ist also nicht anderes als eine Sünde gegen die Wahrheit. Der Kreuzzug gegen das Böse kann also nur im eigenen Innern ansetzen.

Sebastian Gronbach schrieb nach einem Besuch im Gefängnis: „Manche sehen gefährlich aus, gewalttätig und brutal, manche wie Milchbubis und andere einfach nur kalt und fertig mit der Welt. Aber alle haben ein gemeinsames äußerliches Merkmal...: Echte hungrige Gesichter, glasklare Individuen. ... Bevor ich den Knast wieder verlasse, schaue ich noch einmal in die Runde der harten, traurigen und verstörten Gesichter und in meinem Inneren erwächst ein Bild, in dem ich Männer sehe, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind.“[2]

Niemals ist der einzelne Mensch böse, sondern einzelne Neigungen in ihm, die seinem Wesen gerade feindlich gegenüberstehen. Und schuldig ist immer die Welt insgesamt. Also auch er. Jeder Mensch muß die Folgen seiner Taten auf sich nehmen – das, was ihn selbst betrifft, vollständig, die in die Welt reichenden Folgen trägt der Christus mit, aber auch die übrige Menschheit. Denn jede böse Tat war auch ihre Tat – vielmehr ihre vorhergehende Un-Tat.

Unser Rechtssystem postuliert die volle Freiheit und damit Selbstverantwortung und Schuld des Einzelnen. Diese Prämisse ist jedoch abstrakt und darum unmenschlich. Man setzt etwas voraus, was nicht vorausgesetzt werden kann: Das freie Ich, das das Gute ergreift. Böses geschieht gerade dort, wo der Mensch nicht aus diesem Ich handelt, sondern aus jenem Ego, das sich der Welt beobachtend gegenüberstellt, sie benutzt – und mißbraucht. Jeder Straf-Fall ist ganz wörtlich der – Fall eines Menschen. Wer aber hat ihn fallen lassen und zugesehen?

Jede Strafe, und in unendlicher Weise die Todesstrafe, vergeht sich am – werdenden – Geistwesen des Menschen, das außerdem an der bösen Tat gerade unbeteiligt war. Die heutige Strafjustiz entspricht einem strafenden Gott, einer gefühllosen Maschinerie, unabhängig davon, ob einzelne Beteiligte um Gerechtigkeit ringen. Das durch Christus in die Welt gekommene „neue Gebot“ (eigentlich griechisch entole = „Innenziel“, denn es kann gar nicht von außen befolgt werden) ist die Liebe. Und Christus selbst straft nicht und richtet nicht, sondern will ein helfender Bruder sein. Christ-Werden bedeutet, ihm hierin nachzufolgen.

Die Mission des Bösen

Während das Böse heute geflohen wird und jeder Mensch vor der Versuchung steht, einen egoistischen Dualismus zu illusionieren, hat dieses Böse gerade eine tiefe Bedeutung, über die Rudolf Steiner am 26.10.1918 gesprochen hat.[3] Er schildert zunächst, wie die Todeskräfte vom Menschen aufgenommen werden mußten, um ihn mit der Fähigkeit der Bewußtseinsseele zu begaben. Die äußerlichen Todesprozesse charakterisiert er vor diesem Hintergrund als eine Nebenwirkung und bringt das Bild einer Eisenbahn, die die Schienen um so stärker abnutzt, je unpassender diese selbst sind: Es ist keinesfalls der Sinn des Zuges, die Schienen zu zerstören, sondern die Menschen voranzubringen. Ebenso sind „böse Taten“ nur die äußeren Folgen der Neigungen zum Bösen, die in jedem Menschen des Bewußtseinsseelenzeitalters vorhanden sind. Und die Kräfte des Bösen haben gerade die Aufgabe, die tatsächliche Entwicklung der Bewußtseinsseele zu impulsieren!

Indem er sie aufnimmt, pflanzt er in sich den Keim, das spirituelle Leben überhaupt mit der Bewußtseinsseele zu erleben. ... Würde der Mensch nicht aufnehmen jene Neigungen zum Bösen..., so würde der Mensch nicht dazu kommen, aus seiner Bewußtseinsseele heraus den Impuls zu haben, den Geist, der von jetzt ab befruchten muß alles übrige Kulturelle, wenn es nicht tot sein will, den Geist aus dem Weltenall entgegenzunehmen. ...


Die Durchdringung mit dem Tod legt den Grund für die Auferstehung des Denkens. Die Durchdringung mit dem Bösen will den Menschen zum Geist und zur Liebe führen. Durch das Erleben des Bösen wird zustandegebracht, daß der Christus wieder erscheinen kann...[4]

Die Liebe ist es auch, die das Böse – erlösen kann. Wem es geschenkt ist, den Weg zur Liebe zu finden, der kann zunächst beginnen, das Böse in sich zu erlösen. Die meisten Menschen aber bedürfen einer von ihren Menschenbrüdern ausgehenden Liebe, um das Böse in sich zu erlösen. Und wie an den Folgen des Bösen alle Mit-Schuld tragen, so müssen die Menschen auch zusammenwirken, um sich einander und das Böse als solches immer wieder zu erlösen – durch Liebestaten des Guten. Nicht ein äußerlich verstandenes „Erlöse uns von dem Bösen“, sondern die Erlösung des Bösen ist eigentliches Christentum. Das Böse ist in der Welt mit einer kaum erkannten Mission. Immer wenn Menschen seinen Folgen ihrerseits mit un-guten Taten begegnen, hat das Böse zugleich „gesiegt“ und seine wahre Aufgabe verfehlt.

Fußnoten

 


[1] aus dem Manuskript seiner Rede, siehe zum Beispiel sfgate.com/ryan/

 

[2] Info3 vom September 2002.

 

[3] in GA 185 „Geschichtliche Symptomatologie“

 

[4] Vortrag vom 25.10.1918 ebd.