23.01.2003

Der Siegeszug der Unwahrhaftigkeit

Von westlichen Werten und realer Außenpolitik

Was ist das Schlimmste am drohenden Krieg der US-Regierung gegen den Irak? Es ist – wie soll man es treffend beschreiben – die opportunistische Beliebigkeit der Begründungen, die schamlose Vergewaltigung moralischer Ideen, die unerträgliche Unwahrhaftigkeit. Kaum noch wird durch einen dünnen Lack sprachlicher Wendungen die Tatsache zu verdecken versucht, daß das Primat der US-Außenpolitik die Vergrößerung der Macht ist. Kaum jemand wagt jedoch, dies – und sei es nur als Vermutung – auszusprechen.[1]


Rudolf Steiner hat oft und oft scharfe Worte gegen die Unwahrhaftigkeit gerichtet. Nicht nur, daß jede Tendenz zur Unwahrhaftigkeit eine spirituelle Entwicklung im rechten Sinne unmöglich macht. Ähnliches trifft auch für den Weg der Menschheit insgesamt zu. „Denn nachsichtig sein mit der Lüge, ist gerade so viel schon, wie die Lüge lieben. Die Welt aber wird in der nächsten Zeit nicht durch das frivole Gleichgültigsein gegenüber der Unwahrheit, sondern allein durch das freie und frische Sich-Bekennen zur Wahrheit weiterkommen. ...nur durch diesen Enthusiasmus für die Wahrheit“ (GA 197, 22.11.1920). 

Traurige Realitäten

Wie steht es mit der Wahrhaftigkeit, wenn Bush die „westlichen Werte“ vor einer Bedrohung verteidigen will (bisweilen nennt er es auch vielleicht ehrlicher „our way of life“), wenn andererseits schon 1992 in entscheidenden sicherheitspolitischen Grundsätzen als absolute Priorität festgelegt wurde, „das Entstehen eines neuen Rivalen...zu verhindern“ und jedes andere Industrie- oder andere Land „von jedem Versuch abzuhalten, unsere Führungsrolle in Frage zu stellen...“.  Militärisch entspricht dem als oberste Priorität die Erlangung und Verstärkung der „Full Spectrum Dominance“ auf allen Ebenen. Bush läßt ein Raketenabwehrschild bauen, doch wichtige Geheimdienst-Dokumente geben zu, daß „Schurkenstaaten“ gerade deshalb ein eigenes Raketenarsenal aufbauen, um die USA abzuschrecken und ihr nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Die konservative, einflußreiche „Rand Corporation“ gibt offen zu: „Raketenabwehr ist nicht nur einfach ein Schild, sondern die Ermöglichung von US-Aktionen“. Und der US-Handelsbeauftragte Robert Zoellick sagte, es gehe bei der Raketenabwehr darum, „es den Vereinigten Staaten zu ermöglichen, ihre konventionellen Truppen ohne die Gefahr einer Erpressung durch Schurkenstaaten rund um den Erdball stationieren zu können“.[2]

Vielfach belegt sind auch die „vitalen Interessen“ der wechselnden US-Regierungen an der Kontrolle über die Golf-Region, die direkte Bedeutung des Öls beim Afghanistan- und beim drohenden Irak-Krieg, der Pragmatismus in bezug auf das Verhalten gegenüber der UNO und sogar den eigenen Verbündeten (sowie natürlich auch gegenüber den aufgebauten und wieder bekämpften „Schurken“). Es scheint tatsächlich, so tragisch es ist, nur eine einzige Konstante in der US-Außenpolitik zu geben: Macht. Vielleicht tritt dies bei den USA nur aufgrund ihrer Machtfülle deutlicher zutage als bei anderen Staaten. Doch kann man sich mit etwas Falschem jemals durch den Verweis abfinden, daß es andere genauso machen (würden) oder daß der bekämpfte „Schurke“ tatsächlich auch ein Schurke ist?

In bezug auf den Irak ist zunächst das kaum vorstellbare Schreckensregime Husseins zur Kenntnis zu nehmen. Daneben aber die Schrecken des US-Angriffs von 1991 (Uran-Munition[3], Massaker an sich zurückziehenden Irakern, gezielte Zerstörung ziviler Infrastruktur) und die schrecklichen Folgen eines Embargos, das sowohl von Hussein als auch von Bush instrumentalisiert wird. Die USA verweigern selbst dann den Import dringend notwendigen medizinischen Materials, wenn dessen Mißbrauch im Grunde absolut ausgeschlossen ist. Krankheiten, die in jedem einzelnen Fall heilbar wären, bedeuten für irakische Kinder das Todesurteil.[4]

Die Wahrheit tun[5]

Wie steht es um die Wahrhaftigkeit europäischer Politiker, wenn sie kleinlaut die über einjährige Kriegsvorbereitung einer Regierung mit ansehen, die selbstherrlich Beweise irakischer Untaten behauptet, ohne sie offenzulegen? Wie können es sich gewichtigste europäische Politiker zugute halten, der „einzigen Großmacht“ das Recht auf eine zweite UN-Resolution abgetrotzt zu haben (sofern die USA nicht ohnehin unabhängig von einem UN-Mandat handeln, wie sie es sich ebenfalls vorbehalten haben)? Was ist eine UNO noch wert, die sich völlig darin erschöpft, einen US-Krieg zu legitimieren, um darin den Schein einer Restbedeutung zu erleben? Doch selbst wenn – wie es aussieht – Frankreich mit Unterstützung von Deutschland ein Veto wagt, hätte dieses Veto das gesamte Verhalten der USA legitimiert. Warum? Weil der Geist und Wortlaut der UN-Charta erfordern würde, die USA selbst einer Bedrohung des Friedens anzuklagen. Nicht nur ist jeder Angriff eines Staates auf einen anderen verboten, schon jede Drohung verstößt gegen die Charta.

Dieser Grundsatz in seiner Absolutheit ist in einer Welt von Nationalstaaten die einzige kleine Sicherheit dafür, daß es nicht zu einem völligen Verfall „zivilisierter Werte“ kommt und dann das Recht des Stärkeren unumschränkt Geltung erhält. Jegliches Abweichen vom bisherigen Gehalt der UN-Charta – sei es angesichts von Terrorismus, dessen Ursachen man bisher noch kaum versteht, sei es aus anderen Gründen – setzte absolute Wahrhaftigkeit in den Motiven voraus. Diese fehlt völlig in einer Zeit, in der Diplomatie innerhalb und außerhalb der eigenen Grenzen das wichtigste Rüstzeug eines Politikers ist, in der kleine und große Staaten immerwährend um ein Wachstum der eigenen Bedeutung kämpfen, in der die Liebe zur Wahrheit vielleicht insgeheim von manchen bewundert wird, in jedem Fall aber als naiv gilt – in der also der Hang zur Lüge in die Gewohnheit übergeht.

Wer den Frieden will, wer es mit den „westlichen Idealen“ ernst meint, der muß sie in Wahrhaftigkeit vorleben. Doch die deutsche Regierung etwa stellte im Jahr 2000 für Bundeswehr und Rüstungsprogramme 60.000 Millionen DM zur Verfügung, für Programme der zivilen Konfliktbearbeitung 17,5 Millionen DM. Und Freiheit verkommt zur Worthülse und wird in Zukunft sogar immer mehr verloren gehen, wenn der Impuls der sozialen Dreigliederung nicht ergriffen wird. – Selbst die Wahrhaftigkeit würde zum Abstraktum werden, wenn man sie in erster Linie von anderen erwartet. Dies ist, wie sich immer wieder zeigt, eine Illusion. Die Aufgabe bestünde aber darin, jeweils selbst mit aller Kraft auf das Notwendige hinzuweisen und sein Möglichstes dazu beizutragen, daß es getan wird.

Fußnoten


[1] Ein wunderbares Gegenbeispiel gibt Till Bastian mit seinem kleinen Büchlein „55 Gründe, mit den USA nicht solidarisch zu sein – und schon gar nicht bedingungslos“. Bis in den Stil hinein objektiv und über jeden Eindruck eines „Anti-Amerikanismus“ erhaben, weist er Schritt für Schritt auf die Fragwürdigkeiten der US-Politik hin.

 

[2] Jürgen Wagner: Das ewige Imperium – vsa Verlag 2002

 

[3] Allein in der Region Basra 300 Tonnen, inzwischen zeigen hier 3% aller Geburten schwerste Mißbildungen (teilweise kein Gehirn, keine Arme oder Beine). Auch rund 20% der US-Soldaten erkrankten, rund 600 starben bereits.

 

 

[5] Diese wunderbare Wendung prägte Georg Kühlewind mit seinem gleichnamigen Buch.