29.01.2003

Die blinden Flecken der Ökonomie

Was die herrschenden Wirtschaftstheorien nicht sehen (wollen)

Zu dem Buch von Bernd Senf: Die blinden Flecken der Ökonomie.


Das heutige Wirtschaftsleben stellt der Menschheit wieder in massivster Form die soziale Frage. Für viele Menschen ist allerdings „die Wirtschaft“ ein Buch mit sieben Siegeln. Aber auch, wer sich bereits intensiv bemüht, Verständnis für die verschiedenen Mechanismen und Abhängigkeiten zu gewinnen, wird in der Regel für Hilfen dankbar sein. Ein sehr empfehlenswertes Werk nennt sich: „Die blinden Flecken der Ökonomie“[1]. Der Autor Bernd Senf kritisiert im Vorwort die Dunkelheit und das Labyrinth der festgemauerten Theoriegebäude und bekennt, daß er nach über 30 Jahren Beruf „nicht nur das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Marktes, sondern auch in die Selbstheilungskräfte der Ökonomie als Wissenschaft gründlich verloren“ habe. 

Sein Buch bietet eine wunderbar verständliche Einführung in die verschiedenen Wirtschaftstheorien der Moderne, die stets die entscheidenden Grundbegriffe im Blick zu halten versucht, und auf diese Weise „die blinden Flecken“ aller Theorien sichtbar macht.

Was tut die „unsichtbare Hand“?

Adam Smith (um 1780) wollte die Wirtschaft von staatlichen Beschränkungen befreien. Durch die „unsichtbare Hand“ des Marktes würde der auf Egoismus beruhende freie Wettbewerb um Gewinn zu maximalem Wirtschaftswachstum und allgemeinem Wohlstand führen. Der Markt bewirke über die Selbstregulierung durch Zinsen, Preise und Löhne eine „optimale Allokation der Ressourcen“. – Tatsächlich geht es in der Realität um die maximale Rendite des Kapitals. Die Frage nach der optimalen Entfaltung menschlichen Potentials wird überhaupt nicht gestellt. Ebensowenig werden bestehende Besitzverhältnisse hinterfragt: Selbstverständlich darf sich der Unternehmer und Eigentümer der Produktionsmittel wie im Feudalismus den Ertrag aneignen (er trägt ja auch das Risiko). Dies aber beruht auf Aneignung der menschlichen Arbeitskraft.

Smith´s Lehre der Arbeitsteilung beschleunigte diesen Prozeß noch: Zum einen stieg die Produktivität und setzte über die Zerstörung des bisherigen Handwerks und über Rationalisierung immer weitere „Lohnabhängige“ frei. Zum anderen spaltete sich die Arbeit in beherrschende Kopf- und diskriminierte Handarbeit. - Während die Theorie stillschweigend gleichwertige Tauschverhältnisse annimmt, muß sich die Masse der Arbeitslosen zu jeglichen Löhnen und jeglicher Arbeit anbieten. Die Arbeits- und Lebensbedingungen wurden unvorstellbar.[2] – Der Kapitalist betrachtet die Arbeitskraft als Ware. Er kann durch den Zwang des Lohnabhängigen, sich zu verkaufen, eine ständige Steigerung der Produktivität und sogar eine kostenlose Steigerung der Arbeitszeit durchsetzen. Den angeeigneten Gewinn kann der „Unternehmer“ reinvestieren, um weiter zu rationalisieren und noch mehr Gewinn zu machen.

Sylvio Gesell betonte dann um 1920 in aller Deutlichkeit, daß das reale Geld- und Bodenmonopol das liberale Ideal (wirtschaftlich freie Entfaltung möglichst vieler) gerade unmöglich macht. Der Zins – den auch Steiner in seiner Form als reine Geldvermehrung als das Unnatürlichste, was es geben kann, bekämpfte[3] – führt zur Umverteilung zugunsten der ohnehin schon Reichen. Dem steht gegenüber eine entsprechende Verschuldung sowie der Zwang zu Überschüssen, letztlich der Zwang zu unendlichem Wirtschaftswachstum. Die Folgen sind Rationalisierung, Entlassungen, verschärfter Konkurrenzkampf, Fusionen... – alles das, was heute mit größter Dynamik offenbar wird. Die Banken müssen sich mit immer geringeren Sicherheiten und größeren Risiken zufrieden geben. Der verschuldete Staat, dem heute allein die Zinsen schon über den Kopf wachsen, privatisiert sämtliche Infrastruktur und verliert eigene Einnahmequellen wie auch Einflußmöglichkeiten in bezug auf soziale und ökologische Ziele.

Nur weil der Zins völlig losgelöst von der realen Produktion und erfolgreichem Absatz behandelt wird, kommt es dazu, daß durch eine verewigte Umverteilung trotz wachsenden Sozialprodukts immer mehr „gespart“ werden muß.[4] – Der Zins soll laut Theorie die „Freigabe“ von selbst nicht genutztem Vermögen anregen. Doch wenn man auch nur im Ansatz von einer Sozialbindung des Geldes und seiner Funktion als Tauschmittel ausgeht, ist es absurd, die Unterlassung eines Mißbrauchs zu belohnen, während die sich verschuldenden Investoren bestraft werden.

Der Staat als Arzt oder der große Kampf aller?

Nach der Wirtschaftskrise von 1929 bezweifelte auch Keynes mit Recht den Zins als Regulator des Gleichgewichts zwischen Sparen und Investieren. Man spart zum Beispiel unabhängig vom Zins für konkrete Zwecke, und zwar genau das, was vom Einkommen übrig bleibt.[5] – Keynes schlug als Heilmittel für eine Krise „Konjunkturspritzen“ zusätzlicher Staatsnachfrage vor. Dies steigert die Beschäftigung (bestenfalls auch die Einkommen) und stärkt damit die Kaufkraft bzw. Nachfrage. Doch woher soll das Geld kommen? Höhere Steuern würden die Kaufkraft gerade senken, Neuverschuldung (Kreditnachfrage) würde die Zinsen erhöhen und damit Investitionen zurückdrängen. Doch der stete Hinweis auf „Beschäftigungseffekte“ galt im Keynesianismus als Legitimation genug für sinnloseste oder gar bedenklichste Staatsaufträge (Rüstung, Atomkraft etc.).[6] – Wollte man wirklich die allgemeine Nachfrage stärken, so wäre der einzig sichere und effektive Weg die Rückverteilung des gesellschaftlichen Reichtums „von oben nach unten“.

Milton Friedman (um 1970) und der von ihm begründete Monetarismus vertrat gegen Keynes nun gerade den völligen Rückzug des Staates, Inflationsbekämpfung[7] und Sparpolitik. Da dies im Grunde eine Rückkehr zu Adam Smith darstellt, spricht man von Neoliberalismus. Unter Reagan, Thatcher und Kohl begann er seinen Siegeszug. Der teilweise Abbau der staatlichen Haushaltsdefizite und eine restriktive Geldpolitik beschleunigten das beginnende Rennen um die niedrigsten Lohnkosten, Steuern und Umweltschutzauflagen. Wann immer die Gewerkschaften protestieren, wird ihnen seitdem Egoismus vorgeworfen und die Schuld an der Massenarbeitslosigkeit zugeschoben. Die „Privatisierungen“ setzten massiv ein und drohen – selbst wenn die Effektivität steigt – all jene auszuschließen, die keine genügende Kaufkraft haben, oder deren Versorgung sich nicht lohnt (Stillegung von Bahnstrecken etc.).

Die Versprechungen der Globalisierung wären an den realen „Erfolgen“ zu messen. Freiheit ist heute gegeben: für das Kapital. In Wirklichkeit sind die neoliberalen Ideologen „Marktfundamentalisten“ und ihre Theorie ein Bekenntnis zum Sozialdarwinismus. Die Finanzmärkte, die heute das Schicksal ganzer Volkswirtschaften bestimmen, kennzeichnet das Prinzip der „totalen Bindungslosigkeit“, der absoluten Rücksichtslosigkeit in bezug auf die Konsequenzen ihrer Aktionen. Was zwischenmenschlich moralisch geächtet ist, findet im globalen Maßstab den Segen der Wissenschaft.

Was Anthroposophen dazu beitragen könnten, um an diesem Zustand etwas zu ändern, wäre noch die Frage. Wer hat die Idee der Dreigliederung so durchdrungen, daß er versteht, inwieweit sie eben nicht erst mit dem „guten“ Menschen rechnet, sondern die Voraussetzung wäre, daß der Mensch „nach und nach ein unegoistischer Arbeiter“ werden kann? Wie aber würde konkret dem Kampf aller gegen alle Einhalt geboten? Zentral wäre sicherlich die Frage des Rechtslebens. Erkannt muß werden, daß die grundlegenden Fragen in bezug auf Arbeit und Einkommen Rechtsfragen sind. – Das ernstlich anzuerkennen, dazu gehörte politischer Mut. Von Politikern wird man diesen Mut nur erwarten können, wenn genügend Menschen den Mut aufbringen, ihrerseits zu erkennen, daß die soziale Frage nach wie vor die bedeutendste unseres Zeitalters ist und bleiben wird.

Fußnoten


[1] erschienen 2001, Deutscher Taschenbuch Verlag. Senf engagierte sich als wissenschaftlicher Assistent an der Technischen Universität Berlin für ein Studium, das Raum für kritische Diskussionen bot, bis er 1972 entlassen wurde. Seitdem lehrt er an der Fachhochschule für Wirtschaft.

 

[2] In gleicher Weise mißachtet die Theorie vorteilhafter internationaler Arbeitsteilung Machtverhältnisse und die Zerstörung autarker Strukturen (durch Kolonialismus und eben gerade durch „Arbeitsteilung“).

 

[3] GA 186

 

[4] Eine kleine Minderheit schneidet vom wachsenden Kuchen ein immer größeres Stück heraus, verteilt wird der schrumpfende Rest. Der Reichtum der Oberen wird in der Regenbogenpresse den Massen geradezu obszön vorgeführt und auch noch bewundert.

 

[5] Ebenso hängen Investitionen nicht direkt von der Zinshöhe ab, sondern vom Verhältnis zur erwarteten Rendite. Auch bleiben in einer wachsenden Volkswirtschaft die Investitionen zunehmend hinter der Sparquote zurück. Und in einer Stagnation führen Zinssenkungen zwar wohl zu neuen Investitionen, aber noch stärker dazu, daß das Geld in die Spekulationssphäre abfließt.

 

[6] Dagegen wurde umgekehrt die von Keynes ebenso angemahnte Haushaltskonsolidierung bei guter Konjunktur - politisch natürlich sehr unpopulär – nie beachtet.

 

[7] In den USA war die inflationäre Geldschöpfung bis zum Scheitern des Bretton-Woods-Systems 1971 ohne Einschränkung möglich gewesen, da die anderen Zentralbanken sich verpflichtet hatten, überzählige Dollar auf den Devisenmärkten zu einem festen Wechselkurs abzuschöpfen (und damit die Inflation zu importieren).