14.02.2003

Die Diktatur des Profits

>> Kurzfassung veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 6.6.2003 (Nr. 23).

Es gibt Menschen, die haben eine Begabung, aus tief wahrhaftiger Betroffenheit gewisse Dinge klar zu erkennen und sie ebenso klar aussprechen zu können. Die Französin Viviane Forrester gehört sicherlich dazu. Der folgende Beitrag faßt Wesentliches aus ihrem gleichnamigen Buch[1] zusammen.


Seit Jahren breitet sich eine Ideologie aus, deren ureigenstes Interesse es ist, daß sie mit der „Globalisierung“ – dem objektiven Phänomen einer zusammenwachsenden Welt(wirtschaft) – verwechselt und in eins gesetzt wird. Diese Ideologie kann als Ultraliberalismus oder Marktfundamentalismus bezeichnet werden. Ihr eigentliches Ziel ist die Beseitigung aller Hindernisse des Profit. Es geht nicht um „gesunde Rücklagen“ oder gar konkrete Ziele, sondern um die Gier nach Reichtum und Macht, um die Lust an ihrem Wachstum selbst. Insofern diese Ideologie nicht angetastet oder auch nur erkannt wird, kann sie alle Kritiker als Gegner der im Grunde (ohne sie!) positiven Globalisierung hinstellen und diese für sich instrumentalisieren. Der Ultraliberalismus präsentiert sich als Verteidiger oder sogar als Wesen der Globalisierung – und ist es selbst, der sie in eine Hölle verwandelt. 

Die Stärke dieses Systems liegt darin, daß es anonym bleibt, unsichtbar ausgeübt wird. Es erscheint so, als wäre nicht nur die Globalisierung unvermeidlich, sondern auch ihre heutige Form, die ihr aufgepreßt wurde und wird – mit der das eigentliche Geschehen des Zusammenwachsens vergewaltigt wird.

Entlassungen gegen die Arbeitslosigkeit

Und eine weitere Steigerung hilft der Ideologie, sich in den Köpfen festzusetzen. Sie versucht nicht etwa, ihre Opfer totzuschweigen. Sie weiß, daß sie dann gerade als solche wahrgenommen und auch auf sie selbst ein enthüllendes Licht werfen würden. Nein – die Opfer werden noch instrumentalisiert. Die Ideologie im Dienste des Profit stellt sich durch perfekt inszenierten Mißbrauch von Sprache und Denken geradezu als Retterin aus den Gefahren dar, die sie selbst hervorruft. Streng logisch wird argumentiert: Die Beschäftigung ist abhängig vom Wachstum; das Wachstum von der Wettbewerbsfähigkeit; die Wettbewerbsfähigkeit von Rationalisierungen. Also: Im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit gibt es kein besseres Mittel als Entlassungen!

Wie eine fürsorgliche Mutter, die einem Kind die Angst vor einem schweren Schritt nehmen will, wiederholt die Ideologie wieder und wieder, daß die „Anpassung an die Globalisierung“ und der „Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit“ einige Maßnahmen erfordere, die zunächst durchgestanden werden müssen, um dadurch den Wohlstand auf neue Höhen zu führen. Es geschehe alles zum Besten der Menschen: Die Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur, die Abschaffung sozialer Errungenschaften, Produktionsverlagerungen, Kapitalflucht, Fusionen, Spekulation. Durch volle Freiheit für das Kapital (nicht etwa für Menschenrechte) wird die Konjunktur wieder angeheizt und die Arbeitslosigkeit beseitigt.

Um auch alle Kritik und alle Zweifler zu ersticken, stellt sich die Ideologie aber nicht nur als Retterin aus der irgendwie – jedenfalls ohne sie, ja vor ihr – entstandenen Krise dar. Zur Sicherheit gibt es daneben eine polare Methode: „Und bist Du nicht willig, so brauch´ ich Gewalt“ – die Globalisierung ist Naturgesetz, gegen das sich aufzulehnen vergeblich ist. Dieselben Arbeitslosen, als deren Retterin die Ideologie sich eben noch gezeigt hatte, werden als arbeitsfaule, undankbare Parasiten dargestellt. Es gelte, endlich die „sozialen Hängematten“ abzuschaffen, damit die satte, zufriedene Bevölkerung sich nicht länger auf ihrer Sozialhilfe, ihrem Arbeitslosengeld, ihren Niedriglöhnen ausruht, während die „mutigen“, „dynamischen“ Unternehmer verzweifelt um den Erhalt des Wohlstandes für die Allgemeinheit kämpfen (und wie - indem sie weitere Massenentlassungen durchsetzen).

Schlagworte als Denkverbot

Die Ideologie hat es geschafft, daß das Wort „Wettbewerbsfähigkeit“ einen bedingten Reflex auslöst, der dankbar zu allem Ja und Amen sagt. „Die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit erfordert...“ – zum Beispiel, daß „verschlankt“[2] wird, daß auch einmal Standorte „verlagert“ werden (auch von den Arbeitnehmern wird schließlich „Flexibilität“ verlangt). Wer noch über eigenes Denken verfügt, wird als „unrealistischer“, „rückständiger“ „Betonkopf“ bezeichnet, da er sich einer Modernität verweigert, die darin besteht, sich ins 19. Jahrhundert zurückzuentwickeln!

Erkannt muß werden, daß nicht die Arbeitslosigkeit sondern deren unerkannte Ursache das Problem ist. Die Ideologie setzt falsche Fragen auf die Tagesordnung, um mit falschen Antworten die gläubige Zufriedenheit zu erzeugen, man habe etwas getan. Die Ideologie bleibt weiterhin unsichtbar. Alles, was hervortritt, sind „dynamische Kräfte“, die „Reformen“ fordern. Nicht etwa gierige Profiteure, nein, risikobereite Unternehmer. Welches Risiko tragen sie denn? Das Risiko, noch größere Gewinne zu erzielen? Oder womöglich gar etwas weniger große? Oder das Risiko einer eventuell nur einstelligen Millionenabfindung?

Was ist denn der Wettbewerb? Das abgekarterte Spiel der Global Player, die abwechselnd versichern, „der Wettbewerb“ werde ihnen von den jeweils anderen aufgezwungen? Den Konzernen kann gar nichts besseres passieren, als daß dieser „Wettbewerb“ weiter geht, denn Schritt für Schritt fallen weitere Hindernisse für den Profit. Heute sind es die „Arbeitgeber“, die im Stillen gemeinsam die „Internationale“ singen. Es geht nicht darum, daß man sich bisweilen gegenseitig den Profit streitig macht, es geht darum, überhaupt immer besser „Geschäfte“ machen zu können. Sollte einmal ein „Player“ auf der Strecke bleiben, haben auch hier die Beteiligten dank Millionenabfindungen ausgesorgt – auf der Straße landen andere...

Moderne Sklaverei und weiterhin „Sparzwang“

Die geradezu subversive Erklärung der Menschenrechte begründet in Artikel 23 das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen und Entlohnung, auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit – „unrealistische Träumerei“ eben. Und immer mehr schafft es die Ideologie, die zunehmende Arbeitslosigkeit als „Naturphänomen“ der Globalisierung und jeglichen Versuch, wenigstens noch einige soziale Rechte zu erhalten, geradezu als Ursache für die Verschärfung der Krise hinzustellen. Das Elend besteht im Abbau aller dieser Rechte, die Ideologie stellt diesen Abbau als Rettung hin. Unerkannt und ungenannt wird das Recht des Stärkeren eingeführt. Unerkannt wandelt der Profit durch die Welt.

Wenn alle sozialen Rechte beseitigt sind, dann werden die Menschen wieder Arbeit haben. Diese Verheißung ertönt in Staaten, die zu den reichsten der Welt gehören! Im reichsten Land der Welt leben allein 12 Millionen „working poor“ – Menschen, die trotz Vollzeitjob in Armut leben. Sie belasten die Arbeitslosenstatistik nicht, ebensowenig irgendein anderer, der auch nur eine Stunde pro Woche arbeitet oder der es aufgegeben hat, sich als „Suchender“ zu melden und den täglichen Schikanen unterworfen zu sein. – Und in Europa? Im deutschen Thüringen liegen die Löhne in der Spielzeugindustrie teilweise bei 3,50 Euro pro Stunde, ähnlich ist es in der Branche der Sicherheitsdienste. Wer 60-70 Stunden in der Woche arbeitet, verdient immerhin noch 800 Euro im Monat. In den USA erhält man maximal fünf Jahre Arbeitslosenhilfe – im ganzen Leben. Nach zwei Jahren muß man jegliche angebotene Arbeit annehmen, unabhängig von der Lohnhöhe oder den Bedingungen. Die moderne Fronarbeit oder Sklaverei nennt sich nicht mehr so... Und je schlimmer es jenen geht, denen ihre Arbeit genommen wurde, um so williger werden die sein, die – von Unternehmers Gnaden – noch beschäftigt werden.

Und der ewige Tenor zum Wohl der Allgemeinheit: Einsparungen. Die Konzerne „sparen“ bei den Stellen und Löhnen, der Staat bei den Lohnnebenkosten, der Infrastruktur, der Kultur, dem Gesundheitswesen, den sozialen Errungenschaften. Hat jemand von „entwickelten Ländern“ gesprochen? Ein Land, das seinen Staatshaushalt nicht danach ausarbeiten kann, was tatsächliche Bedürfnisse wären und not täte, gehört zweifellos in die Kategorie „unterentwickelt“. Heute entwickelt sich im wesentlichen die Armut – und der Profit. Eventuelle Zusammenhänge sind rein zufällig... Den Profit machen wenige, die Gesamtheit der übrigen trägt die Folgen. „Mutig“ stellt der verarmte Staat die Rente vom Umlageverfahren auf private Versicherungsformen um. Fortan sind die Menschen für ihre Rente zunehmend von „Pensionsfonds“ abhängig, die durch Unternehmensbeteiligungen die Entlassungen noch voran­treiben!

Mut zum klaren Denken

In der heutigen technisierten Welt sollten die Menschen doch zunehmend die Möglichkeit haben, in freier Zeit ihre ureigenen Fähigkeiten und Begabungen zu entwickeln. Stattdessen müssen die einen immer mehr arbeiten, während die anderen auf der Straße landen. Und beide werden tendenziell immer ärmer - während noch andere immer reicher werden. Was gestern noch normale Arbeitsplätze mit ausgebildeten Fachkräften waren, wird heute mit Leiharbeitern oder gar Praktikanten besetzt – die sich ebenfalls nach einiger Zeit beim Arbeitsamt neben den Fachkräften wiederfinden, die sie zeitweilig vertreten haben. Die auf dem Altar der Wettbewerbsfähigkeit dargebrachten Opfer ermöglichen die Finanzierung von Übernahmen und Fusionen, die zu weiteren „Personaleinsparungen“ führen werden, die neue Ankäufe finanzieren werden.

Das Wichtigste ist nicht, „den Menschen Arbeit zu verschaffen“, das Wichtigste sind die Menschen. Wenn allein die Zahl der Arbeitsplätze den Wert einer Gesellschaft bezeichnen soll, während diese Arbeitsplätze ebenfalls Armut, Erniedrigung und Verachtung bedeuten – dann ist die Zerrüttung einer „Gesellschaft“ weit fortge­schritten. Nötig wäre der Mut, das Nicht-Hinnehmbare abzulehnen, auch ohne klare, abstrakte Alternativen „in der Tasche zu haben“. Man muß nicht erst alles über die Zukunft nach dem Terror wissen, bevor man ihn ablehnt. Man darf bei einem Brand nicht erst über die späteren Reparaturen nachdenken und neue Pläne zeichnen. Die „Arbeitslosigkeit“ darf in ihrer jetzigen Form nicht noch „normaler“ werden. Es handelt sich nicht um Statistik, sondern um Menschen – und es ist nicht ihre Aufgabe, „Arbeitslose“, „Arme“ oder „Opfer“ zu sein.[3]

Was liegt vor? Es ist tatsächlich die Diktatur des Profits. Die Produktivität steigt weltweit ständig, gerade bei internationaler Arbeitsteilung müßte der allgemeine Wohlstand um so schneller wachsen. Das Ganze ist aber eine Ver­tei­lungsfrage: Entlassene Menschen dürfen an der Produktivitätssteigerung nicht teilhaben. Die Konsu­menten unterstützen den Dumping-Wettlauf, indem sie das Billigere bevorzugen. Am Ende wird ein kleiner Teil der Menschheit unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen alle Waren produzieren - und ein wenig bessere Löhne haben als die vom Staat (vielleicht noch) alimentierten „Arbeitslosen“. Eine kleine Minderheit wird die weltweiten Vermögen auf sich vereint haben.

Viviane Forrester fühlt brennend die „soziale Frage“ und findet klare Worte. Man kann die Alternative erleben, die schon Steiner voraussah: Dreigliederung oder Barbarei („Bolschewismus“). Obwohl dies explizit nicht ausgesprochen wird, steht man am Ende vor der Erkenntnis: Diese Entwicklung ist nur zu vermeiden, wenn aus dem Phänomen Globalisierung sachgemäße Konsequenzen gezogen werden. In einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft – und jeder Mensch hat das Recht, in diese eingebunden zu bleiben – ist es eine Rechtsfrage, welchen Anteil an der gemeinsamen Wertschöpfung jeder erhalten soll. Solange die Idee der Dreigliederung nicht ergriffen wird, wird die Welt weiter in Barbarei versinken.

Fußnoten


[1] Viviane Forrester: Die Diktatur des Profits. - dtv Verlag, 2002

 

[2] Während hier kontinuierlich entlassen wird, läßt man in anderen Teilen der Welt aus lauter Barmherzigkeit Millionen von Kindern arbeiten.

 

[3] Die Blindheit gegenüber dem Schicksal der anderen dient zunächst der eigenen Gewissensberuhigung. Mit der Zeit wird sie zu wirklicher Blindheit. Wenn dann einst die Herrschaft des Schreckens allgemein sein wird, wird man wieder sagen, man habe von nichts gewußt – weder das anfängliche Elend bemerkt, noch die allgemeine Entwicklung voraussehen können.