19.02.2003

Was ist Gnade?

Eine Auseinandersetzung mit der evangelischen Theologie und ihrem gegenüber der Anthroposophie immer wiederkehrenden Vorwurf der „Selbsterlösung“.


Gnade ist – ein Ärgernis für den modernen Menschen. Der heutige Mensch will niemanden über sich, schon gar keinen Gott, von dem er schlechthin abhängig sein soll. Lieber stellt er sich als denkende Materie vor. In der Menschheitsentwicklung ist dieser Punkt notwendig – wie Rudolf Steiner oft und oft betont hat –, damit der Mensch zur Freiheit findet. Freiheit ist nicht: objektive Unabhängigkeit von Gott. Aber die Grundlage der Freiheit ist zunächst dieses Erlebnis, möglich durch die wachsende Kluft zwischen Gott und Mensch. Diese ist durch die Jahrhunderte so groß geworden, daß die Vorstellung entstand, nur Gott könne den Abgrund überbrücken. 

In der Tat war dies der Fall – und die Brücke wurde geschlagen durch die Tat des Christus. In Christus kam die göttliche Welt dem Menschen wieder nahe – auf Dauer. Die Kluft ist nunmehr klein wie ein Schritt. Wer in Christus den Erdensinn erlebt, verbindet sich mit ihm. Wer ist hier der Handelnde? Christus ist seit seiner Menschwerdung jeder Individualität unendlich nahe. Es ist am Menschen, sich mit ihm seinerseits zu verbinden – das ist zugleich die Menschwerdung des Menschen. „Ihr in mir und Ich in euch“.

Eine abstrakte Vorstellung erklärt nun das Aufflammen des Glaubens ebenfalls für reine Gnade. Der Christ wird tatsächlich in Demut die tiefste Dankbarkeit erleben, den Christus finden zu dürfen. Zugleich wird er erleben, daß er zu seinem  wahren Wesen findet – das mit Christus nicht identisch, aber zutiefst verbunden ist. Und doch ist es immer auch der Mensch selbst, der sich wandelt. Das wahre Ich des Menschen ringt sich ans Licht, indem der Mensch Christ wird. Aber es wird dem Menschen nicht – etwa von außen – eingetrichtert. Wäre alles nur „Gnade“, so wären die Menschen Marionetten. Die Vorstellung verlegt hier die Freiheit an den Punkt des Sündenfalls. Das Geschöpf Mensch war frei, von Gott abzufallen – und tat es (welche Funktion hatte der „Apfel“ des Paradieses?). Freiheit wird vorgestellt als fertige Eigenschaft des Menschen, der Sündenfall als einmalige Entscheidung, die sofort eine absolute Kluft schuf. Alle diese Vorstellungen sind an die sinnliche Welt angelehnt, ein wirkliches, lebendiges Denken muß solche Vorstellungen als unerträglich ablehnen.

Was ist „Gnade“ überhaupt? Jedes über Verdienst oder Berechnung erhabene Geschenk der geistigen Welt? In der Tat. Aber gerade ein solches Denken, das Gnade und Verdienst als Gegensätze ansieht, erliegt den alten römischen Rechtsvorstellungen. Es kann den Gedanken nicht fassen, daß Gnade auch auf menschliches Tun angewiesen sein könnte. Weil Gnade das Gegenteil von Belohnung sein soll, darf der Mensch gar nichts tun. Weil Gott allmächtig sein muß, darf Gnade nicht auf das Entgegenkommen des Menschen angewiesen sein. Ein allmächtiger Gott aber zieht menschliche Marionetten nach sich. Oder zumindest ewige Kinder, die allein die gnädige Gnade entgegennehmen dürfen – und wenn sie es nicht tun, eben dem Verderben anheim fallen. Weil Gnade kein Verdienst sein darf, muß sie ein Geschenk an wehrlose, unmündige Geschöpfe sein. Warum aber sollte die Gnade an Größe verlieren, wenn der Mensch sich ihr öffnen darf und muß – ohne daß auch dies gleich wieder gottgefügte Gnade wäre?

Wie Gnade gedacht wird, hängt davon ab, wie der Mensch gedacht wird. Wozu ist der Mensch von Gott berufen? Zu einem niedlichen Abbild, das die Gnade entgegennimmt und daraufhin seinesgleichen liebt? Auch die Liebe wird hier als reines Gnadengeschenk gedacht, auf einmal kindlich auftretend. Rittelmeyer würde wohl sagen: Dies ist alles zu klein und zu eng gedacht. Der denkt nicht groß genug von der Liebe, der sie nicht erkämpft sehen will. Es denkt nicht groß genug vom Menschen, wer ihn nicht durch Irrtümer hindurch aus Freiheit zu Christus finden läßt. Wer die Gnade als reine Gotteswirkung sieht, stellt Gott tatsächlich als allmächtig vor. Damit aber stellt sich die ewige Frage der Ungerechtigkeit: Es kann dann einzig nur Gott sein, der die Herzen der meisten Menschen verhärtet. Was aber haben jene Menschen getan, die nicht zu Christus finden dürfen? Sie haben sich der Gnade (noch) nicht geöffnet.[1] Weil dies eine eigene Tat sein muß. Weil der Begriff Gnade nichts mit der heutigen Vorstellung von „gnädig“ zu tun hat, sondern die immerwährend überfließende Liebe Gottes bedeutet. Es denkt nicht groß genug von der Gnade, wer sie noch irgendwie als Zuteilung vorstellt. Sie muß zusammen mit der menschlichen Aktivität gedacht werden. Und: Freiheit ist kein Gegensatz zur Gnade, sie ist Gnade – die größte Gnade der göttlichen Welt. Die göttliche Welt zieht sich ein Stück zurück, auf daß der Mensch frei werden könne, auf daß er Mensch werden könne. Neben diesem größten Geschenk – und Ziel – der göttlichen Welt ist alles andere an Gnade dann das Zurückströmen dieser göttlichen Welt hin zum menschgewordenen Menschen. Inmitten und aus dieser Gnade wird er dann zum Mitschöpfer, zum Bruder des Christus – der seit Anbeginn auf ihn gewartet hat.

Fußnoten


[1] Herr Thiede sagt selbst: Wer sich der (unwiderstehlichen) Gnade verweigert, hat sie noch nicht erkannt. Das Erkennen ist aber etwas, was einem niemand abnehmen kann – auch der „heilige Geist“ nicht. Der Heilige Geist ist die Grundlage, daß Erkenntnis möglich ist. Warum hat Christus auf die Notwendigkeit hingewiesen, aus dem Geist neu geboren zu werden, wenn dies ein Geschehen wäre, das sich an passiven Menschen vollzieht oder nicht? Das wahre Ich muß sich selbst erst erschaffen, obwohl es im Gottes-Ich erweset. Der Mensch ist nicht Gott, aber er ist vom schöpferischen Gott „nach seinem Bild“ erschaffen. Steiner hat bis ins einzelne geschildert, wie der Mensch in seinen Wesensgliedern bis hin zum Ich aus der Substanz göttlicher Wesen erbildet wird. Realer kann Geschöpflichkeit und Gnade – und zugleich das Wesen der Freiheit – nicht gedacht werden.