10.05.2003

Die Mathematik der Brüderlichkeit

Vom erzwungenen Konkurrenzkampf zu gewollten Assoziationen

Globalisierung ist heute ein Krieg um die niedrigsten Lohn-, Lohnneben- und Lohnstückkosten, um Standortvorteile, um Marktanteile... Der gesunde Menschenverstand sagt sich, es muß doch auch anders gehen. Aber wie?


Die ständige Zunahme der „Arbeitslosigkeit“ bei weiterhin wachsendem oder stagnierendem „Bruttosozialprodukt“ bedeutet, daß viele Entlassungen mit wachsenden Profiten einhergehen. Es ist ja nicht so, daß unsere heimischen Märkte von ausländischen Billigprodukten überschwemmt würden und wir nur noch die Dritte Welt für uns arbeiten lassen. Nicht nur der Exportsektor, sondern auch der heimische Markt ist sehr profitabel – für alle Konzerne, die die Globalisierungs-Rhetorik nutzen und im Dienste der Börsenkurse Arbeitnehmer in einem Maß „freisetzen“, das in keiner Weise zu irgendeiner Konkurrenz von „Niedriglohnländern“ im Verhältnis steht. 

So haben wir den Zustand, daß die Zahl arbeitsloser Menschen stetig zunimmt, während die Rechte der (Noch-)Ar­beit­nehmer immer mehr beschnitten werden. Man glaubt, die „globale Konkurrenz“ sei die Ursache, daß „wir alle den Gürtel enger schnallen“ müßten. Andererseits heißt es immer, der freie Handel bringe allen Beteiligten nur Vorteile. Es ist erstaunlich, wie wenig dieser Widerspruch bisher klar bemerkt wurde. Theoretisch ist die letztere Behauptung eigentlich die richtigere. Es sind immer dieselben Gründe, die dazu führen, daß Arbeitsteilung – ob national oder international – den allgemeinen Wohlstand aber eben doch nicht vermehrt: Gewisse Mechanismen bewirken, daß stets nur wenige den großen Nutzen davon tragen. Insbesondere das Zinssystem und die realen Machtverhältnisse führen dazu, daß die Früchte der Arbeit höchst ungerecht verteilt werden. Polemisch können alle diese Prozesse mit den Begriffen „Enteignung“ und „leistungslose Einkommen“ zusammengefaßt werden. Was heute der Globalisierung zugeschrieben wird, sind skandalöse Verteilungskämpfe, die die „Globalisierung“ größtenteils nur als willkommenes Alibi anführen.

Produktivitätsanstiege und ihre Möglichkeiten 

Auch jede nationale Wirtschaft im Zeichen des Kapitalismus trägt den Stempel des Profitstrebens. Welche Möglichkeiten hätten die Wirtschaftenden aber, um gerechter zu handeln? Durchdenken wir ganz konkret an einem Beispiel, was alles möglich wäre, wenn es irgendwo eine Steigerung der Produktivität gibt.

Nehmen wir an, 20 Menschen würden in je neun Stunden neun Stühle herstellen – täglich 180 Stühle. Der Einzelpreis sei 10 €, was vereinfacht einem Einkommen von 90 € pro Kopf entspräche. Weitere 20 Menschen würden zunächst jeweils alle zwei Stunden einen Tisch fertigen – täglich 90 Tische zum Preis von je 20 €, was dem gleichen Einkommen entspräche. Nehmen wir nun an, durch eine Erfindung bräuchten die Tischler plötzlich nur noch 80 Minuten pro Tisch und könnten täglich 135 Tische produzieren.

Es gibt dann mehrere Möglichkeiten. Wenn die Tische weiterhin 20 € kosten, beträgt der Umsatz nicht mehr 1.800 €, son­dern 2.700 €. Die Differenz könnte zum Profit für den Unternehmensbesitzer werden oder aber das Tageseinkommen jedes Tischlers auf 135 € erhöhen. Man könnte auch den Umsatz konstant halten und den Preis der Tische auf 13,33 € senken.

Man könnte aber auch die Produktion von 90 Tischen etwa beibehalten und sieben Tischler entlassen[1] – Produktivitätsanstieg führt zu Rationalisierung und Arbeitslosigkeit (insbesondere, wenn „der Markt gesättigt ist“).

Schließlich wäre es aber auch möglich – und jetzt wird es schwierig, daher ist dieser Fall aus der Realität am wenigsten bekannt –, die Arbeitszeit zu senken und alle Beteiligten an den Früchten des Produktivitätsanstieges teilhaben zu lassen. Zunächst hieße das, daß 20 Tischler für 90 Tische nur noch sechs Stunden arbeiten müssen.

Brüderlichkeit erfordert gemeinsame Erkenntnis und Willenskraft

Wenn es überhaupt zu einer sinkenden Arbeitszeit kommt, wird jedoch eine Frage eigentlich erst so recht aufgeworfen. In bezug auf den Erfinder wäre es zwar egoistisch, aber für das heutige Denken noch verständlich, wenn er den gesamten Profit aus der Produktivitätssteigerung für sich beanspruchte. Warum aber sollten die Tischler daran teilhaben, bloß weil sie Tischler sind (und – falls sich die Erfindung nicht verbreitet – zufällig in diesem Unternehmen arbeiten)? Wenn eine Erfindung gemacht wurde und nicht vom Erfinder vereinnahmt wird, dann müßten ihre „Geistesfrüchte“ doch allen Menschen gleichermaßen zugute kommen.

Um beim Beispiel zu bleiben, wären für die Stühle und Tische nur noch 300 Stunden Arbeit nötig – gerecht verteilt also je 7,5 Stunden für 40 Menschen. Zur Herstellung der Tische wären dann noch 16, zur Fertigung der Stühle nun 24 Menschen nötig. Um bei der verkürzten Arbeitszeit das Einkommen von 90 € täglich beizubehalten, müßten die Stühle jetzt 12 €, die Tische 16 € kosten. – Dieser Fall setzt also unter anderem voraus, daß einige Menschen aus dem produktiver gewordenen Bereich (freiwillig) in den anderen wechseln und daß die Käufer bereit sind, für Stühle plötzlich mehr zu bezahlen, da nur so die Stuhl-Produzenten an der Arbeitszeitverkürzung wirklich Anteil haben können.

„Gerechtigkeit“ dieser Art ist schon Brüderlichkeit. Eine Umwandlung von Produktivitätsfortschritten in allgemeine Arbeitszeitverkürzungen kann niemals durch Gesetze angeordnet werden, sondern muß als Initiative im Bereich der Wirtschaft selbst entstehen. Dies ist nur möglich in Assoziationen, in denen die Beteiligten den Willen haben, sowohl die Arbeitszeit als auch das „Einkommen“ brüderlich zu (ver)teilen. Im Grunde handelt es sich hier um Liebe, die sich ganz konkret vom denkenden Erkennen leiten läßt. Wie wir an den verschiedenen Möglichkeiten gesehen haben, ist der Fall, in dem allen gedient werden soll, bei weitem der „schwierigste“.

Global und national gibt es wohl kaum Möglichkeiten, Konzerne von Entlassungen abzuhalten. Das Profitstreben und vor allem der Konkurrenzkampf sind unserem heutigen Wirtschaftssystem immanent und werden von seinen Mechanismen erzwungen – nicht zuletzt auch von den Konsumenten, denen mehrheitlich immer noch zuerst Preisunterschiede ins Auge fallen. Ansätze zum Neuen sind also im wesentlichen nur da möglich, wo Menschen – Produzenten, Händler, Konsumenten – gemeinsam dieses Neue im Bewußtsein haben und verwirklichen wollen.

Es reicht dabei zumeist nicht, daß jeder einzeln sich „eine andere Welt“ wünscht. Produzenten können aus dem Konkurrenzkampf nur dann ausbrechen, wenn verläßliche Konsumenten da sind, die sachgemäße Preise zahlen wollen – und können. Auch die Konsumenten (und Händler) können aus dem Preiskampf nur ausbrechen, wenn sie ein sachgemäßes Einkommen haben. Der Aufbau neuer Strukturen erfordert ein hohes Maß an Gleichzeitigkeit – das heißt konkret: wirkliche Assoziationen, in denen sich die Menschen ihrer gemeinsamen Aufgabe bewußt sind.

Fußnoten


[1] 13 Tischler stellen in insgesamt 117 Stunden knapp 88 Tische her.