20.05.2003

Ideologischer Atheismus versus wahre Pädagogik

Eine Entgegnung auf den Aufsatz „Markt der religiösen Möglichkeiten“ von Christoph Lammers in der jungen Welt vom 20.5.2003.


Der Aufsatz „Markt der religiösen Möglichkeiten“ von Christoph Lammers erfordert eine Antwort. Lammers warnt davor, daß das GATS zu einer Ausbreitung von Schulen „auf religiöser oder esoterischer Grundlage“ führen wird. Er behauptet, die „in sich geschlossenen religiös-esoterischen Systeme“ gäben die „Basis zur Begründung einer ideologiegestützten Scheinethik“ und behindern dadurch „die persönliche Selbstentfaltung des Menschen erheblich“. Lammers warnt davor, „die Erziehung junger Menschen“ an Lehrer zu übertragen, die mit „missionarischem Eifer religiöse oder okkulte Auffassungen vertreten“ und spricht wenig später von der anti-emanzipatorischen „Vermittlung der Vorstellung, daß unser Leben vom Schicksal bestimmt wird oder ein strafender Gott über all unsere Handlungen richtet“. 

Lammers wirft kirchliche Schulen, Montessori-, Waldorf- und andere, nicht namentlich bezeichnete Schulen in einen großen Topf und wirft ihnen allen Weltanschauungspädagogik vor, die das Mündigwerden heranwachsender Menschen geradezu verhindert.

In der Autorennotiz findet man, daß Lammers noch Student ist und dem „Forum Demokratischer AtheistInnen“ angehört. Nach diesen Angaben kann man zumindest Verständnis dafür gewinnen, warum der Autor mit mehr oder weniger missionarischem Eifer vor einem Pluralismus im Bildungswesen warnt. Dennoch sollte man in einem doppelseitigen Bericht für eine nicht unwichtige Tageszeitung etwas mehr Seriosität und Differenzierung erwarten.

Zunächst wäre als Grundsatz aller wahrhaften Pädagogik festzuhalten, daß sie tatsächlich die Selbstentfaltung und das Mündigwerden des heranwachsenden Menschen ermöglichen will. Im Mittelpunkt einer solchen Erziehung kann nur das individuelle Kind stehen. Neben dem Kind der wichtigste Handelnde ist dann der mündige, weltoffene Pädagoge. Welche Weltanschauung der Pädagoge hat, kann zunächst nicht von Belang sein, wenn es ihm nur wirklich darum geht, die Kinder zu freien Wesen zu erziehen. Dies schließt ein, daß er den Heranwachsenden gerade jenen Freiraum schafft, ihre eigene Weltanschauungen auszubilden.

Aus eigener Erfahrung kann ich nur auf die Waldorfschulen eingehen. Ganz abgesehen davon, daß die „Anthroposophie“ Rudolf Steiners keine Weltanschauung, sondern ein individuell zu gehender Erkenntnisweg sein will, ist sie in keinster Weise Lehrinhalt in Waldorfschulen. Wenn Lammers die Idee des Karma anführt und im nächsten Gedankengang von der Vorstellung spricht, daß „unser Leben vom Schicksal bestimmt wird“, muß er darauf hingewiesen werden, daß weder Karma noch Reinkarnation irgendwie Gegenstand der Waldorfpädagogik sind. Davon abgesehen sollte er, wenn er Karma und Freiheit in der Schicksalsgestaltung nicht nebeneinander denken kann, zunächst einen Grundkurs in Philosophie besuchen.

Was jegliche Polemik nach Art von Lammers übersieht – und man darf wohl davon ausgehen, daß Lammers auch nie eine Waldorfschule von innen gesehen hat –, ist die Tatsache, daß Waldorfschulen nicht mehr, sondern weniger Weltanschauungsschulen sind als die staatlichen Pendants. Auch hier würde schon ein Grundkurs in Philosophie zu der Erkenntnis führen, daß das menschliche Denken immer eine Weltanschauung mit sich bringt. Der Atheist Lammers bemerkt nur nicht mehr den Weltanschauungs-Charakter seines Weltbildes.

Ein Weltbild, in dem „Gott“ und auch vieles andere nicht vorkommt, ist eben auch nur eines von vielen möglichen Weltbildern. Sanktioniert wird es von der heutigen „Wissenschaft“, die jedoch auf der Prämisse fußt, nur solche Modelle zu bilden, die ohne die „Hypothese Gott“ und andere Unmeßbarkeiten auszukommen suchen. Nebenbei kommt so ein Welt- und Menschenbild heraus, daß auch alles, was das wirklich Menschliche ausmacht (z.B. Liebe, Empathie, Gerechtigkeitsempfinden, aber auch Fühlen und Denken als Grundphänomene, vom potentiell freien Willen des mündigen Menschen ganz zu schweigen), nicht erklären kann, meist nicht einmal zu erklären versucht, oder aber Modelle aufstellt, in denen der Mensch nicht mehr enthalten ist.

Die Waldorfpädagogik macht mit dem zentralen Ziel des mündigen individuellen Menschen Ernst und hält von den Kindern jede einseitige Weltanschauung fern. Sie gibt den kleinen Kindern die Seelennahrung die sie brauchen, indem in den ersten Klassen Märchen, dann die großen Mythen verschiedener Völker einen Teil des Unterrichts ausmachen. Solche Bilder nehmen für das spätere Weltbild nichts vorweg, sondern geben dem sich entwickelnden Seelenleben Substanz und Weltvertrauen. Wer allein die „nackten Tatsachen“ gelehrt haben will, möge nur auch bereit sein, ebenfalls die Verantwortung für die späteren Schicksale der Kinder zu übernehmen. In der Waldorfschule begegnen die Jugendlichen diesen Tatsachen ebenso, nur gibt es eben für alle Tatsachen das richtige Alter, in dem sich der junge Mensch fruchtbar damit auseinandersetzen kann.

Die Tatsachen gerade der Naturwissenschaft erleben die Jugendlichen so wie sie sind – zunächst ohne weltanschauliche Theorie. Indem die Phänomene und ihre Gesetzmäßigkeiten erlebt werden, ohne gleich die derzeit „gültigen“ Modelle mitzuliefern, vermeidet die Waldorfpädagogik den heutigen Reduktionismus, der eben auch nichts weiter als eine Ideologie ist – die das Seelische auf Hormone und Umwelteinflüsse, das Leben auf Genetik und Biochemie, die Physik auf Atome reduzieren zu können meint. Die Jugendlichen lernen dann verschiedene „Modelle“ kennen. Sie sind frei, ihre eigene Überzeugung zu entwickeln und diese auch zu ändern. Sie können später an reduktionistische Weltbilder glauben oder sich eine andere Weltsicht zueigen machen – das hängt ganz von ihren persönlichen Erlebnissen und Evidenzerfahrungen ab.

Wenn Lammers bei seinem Weltbild bleiben will, daß Waldorfschulen einen esoterischen „Geborgenheitsraum“ bieten und die Jugendlichen zugleich zu fatalistischen Karma-Fetischisten machen, will ich es ihm nicht nehmen. Doch damit glaubt er nicht nur an einen schwarzen Schimmel, er hat auch weder von einem Jugendlichen noch von der Waldorfpädagogik etwas verstanden. Insbesondere sollte er sich einmal anschauen, wie selbständig die jungen Erwachsenen sind, die an einer Waldorfschule gewesen sind (und sie fragen, ob sie schon einmal von Karma gehört haben).

Nach diesem Versuch einer Richtigstellung bleibt mir nur noch die Entdeckung, daß Lammers im Kern seinem angeblichen Ziel widerspricht. Lammers will mündige Menschen, doch er fordert den Obrigkeitsstaat und die Beibehaltung eines aus dem Absolutismus stammenden Schulsystems. Wenn das die Alternative zu GATS ist, haben wir – denn auch ich bin ein Gegner des GATS – schon verloren. Lammers warnt, eine Ausweitung freier Schulen würde die Verantwortung und Entscheidungs-Last der Eltern vergrößern – und scheint die Eltern für nicht mündig genug zu halten, um selbst zu entscheiden, welche Pädagogik sie für die beste oder richtige halten. Lammers kokettiert mit dem Begriff der Subsidiarität, ruft dann aber doch lieber nach dem Staat, damit er dem Pädagogen vorschreibe, was Pädagogik sei. Daß ein Pädagoge am Gängelband bürokratischer Einheitslehrpläne niemals so tätig werden kann, daß die ihm anvertrauten Kinder und Jugendlichen einst ihre ureigensten Möglichkeiten ausschöpfen können werden – diese Erkenntnis müßte einem ganz klar vor Augen stehen. Vorher ist für unsere Jugend nichts zu hoffen.