09.06.2003

Die Osterweiterung der EU – cui bono?

Osteuropa als Expansionsraum und „verlängerte Werkbank“ westlichen Kapitals

Fast 15 Jahre nach der Wende in Osteuropa dürfen jetzt zehn Länder der EU beitreten. Immer wieder war von „Frieden, Demokratie, Stabilität und Wohlstand“ die Rede – doch es geht vor allem um die „vier Freiheiten“ des Waren-, Kapital-, Dienstleistungs- und Personenverkehrs. Statt die vielbeschworene „Solidarität“ ernst zu nehmen, geht es um Absatzmärkte und billige Arbeitskräfte.[1]


Zehn Länder Osteuropas – werden Sie durch ihre EU-Mitgliedschaft, durch Handel und regionale Förderungen an westlichem Wohlstand teilhaben können? Nun, schon die „Gleichberechtigung“ wird noch auf sich warten lassen: Einen freien Personen- und Dienstleistungsverkehr und etwa gleiche Subventionen für die Landwirte der neuen EU-Mitglieder wird es erst ab 2013 geben. Viel wichtiger für eine Antwort sind aber jene Geschehnisse, die sich bereits ereigneten – geprägt vom Einfluß und Druck der EU und des IWF. [2]

Quasi über Nacht sollten zerrüttete Volkswirtschaften[3] auf eine radikale Marktwirtschaft umgestellt werden – ohne jede Konkurrenzfähigkeit und ohne soziale Sicherungssysteme. Da schon zur Wendezeit fast alle Beitrittskandidaten verschuldet waren, waren sie erpreßbar (mittlerweile stiegen die gesamten Schulden auf rund 165 Mrd $[4], dagegen betrugen die ausländischen Direktinvestitionen bis 2001 nur 115 Mrd $). Auf westlichen Druck wurden sogenannte „Schocktherapien“ durchgesetzt: Abschaffung staatlicher Subventionen, Preiserhöhungen und volle Freiheit für ausländische Investitionen und Gewinntransfers. Während Sozialleistungen gekürzt und gestrichen wurden (wo es sie überhaupt gab), erhielten und erhalten ausländische Konzerne jahrelange Steuerbefreiungen.

In den meisten Ländern vernichtete eine Hyperinflation die Ersparnisse der Bevölkerung, später verstärkte eine restriktive Geldpolitik wiederum den Zusammenbruch der Wirtschaft. Oft erreichte das Bruttoinlandsprodukt erst zur Jahrtausendwende überhaupt wieder das Niveau von 1989!

Und der Westen? In den „Assoziierungsabkommen“ schützte er die vom Osten bedrohten Branchen (Stahl, Textil, Chemie, Landwirtschaft), verlangte aber von Anfang an die vollständige Öffnung der neuen Märkte und überschwemmte diese. Die subventionierten Milch- und Schweinepreise lagen dabei unter den Produktionskosten der Bauern im Osten! Wenige Jahre reichten, um die östlichen Wirtschaften zu ruinieren bzw. die an ihrer Gesundung gehinderten Filetstücke zu Spottpreisen aufzukaufen.[5] Westliche Konzerne „investierten“ kräftig – und kontrollieren heute zum Beispiel in Polen mehrheitlich die Bereiche Nahrungsmittelindustrie und –handel, Metall- und Maschinenbau, Banken, Medien, Telekommunikation und Versicherungen. Der wichtige Bankensektor wurde in Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei zu 60-80% von ausländischen Banken billig übernommen („faule Kredite“ übernahm der Staat). 

Die rund 40 Milliarden Euro, die in den ersten drei Jahren an die neuen EU-Mitglieder gehen sollen, bedeuten weniger als 180 Euro pro Kopf[6] – und sie werden durch den „Ausverkauf des Ostens“ zu einem Großteil an westliche Industrie- und Agrokonzerne gehen!

Gerade Millionen von Bauern werden noch in den Ruin gehen. Die EU-Subventionen werden erst 2013 angeglichen und betragen im Osten zunächst weniger als die Hälfte.[7] Es heißt, eine Gleichberechtigung würde die „Modernisierung behindern“ (obwohl selbst im Westen das Bauernsterben in vollem Gange ist). – Allein in Polen arbeiten noch über 3,5 Millionen Menschen in der Landwirtschaft. Nur wenige hunderttausend werden die nächsten Jahre „überleben“, die übrigen bei einer Arbeitslosigkeit von 18% auch anderswo keine Arbeit finden...[8]

Gewinner und Verlierer – eine Tragödie

Die Nachwendezeit machte die Beitrittsländer mehr denn je zu zerrütteten Zweiklassengesellschaften. Während die Armut drastisch zunahm, wurde eine kleine Oberschicht (darunter viele ehemalige Parteikader) vor allem durch Korruption und mafiose Machenschaften reich. Die Arbeitslosen haben im Prinzip vier Möglichkeiten: Schwarzarbeit, Subsistenz, Kriminalität oder den hoffnungsvollen Weg nach Westen.[9]

Die wirklich produktive Wirtschaft ist mehrheitlich in ausländischer Hand – und hat für das Inland keine reale Bedeutung: Vorprodukte werden importiert, weiterverarbeitete Zwischen- oder Endprodukte gehen auf den Weltmarkt, den Gewinn transferiert der ausländische Konzern ins Stammland... Der gesamte Außenhandel der Beitrittskandidaten wurde überwiegend auf die EU ausgerichtet. In Polen, Tschechien und der Slowakei macht allein die Autoindustrie inzwischen 35-45% aller Exporte aus. Der Osten ist dabei nur die „verlängerte Werkbank“ westlicher Konzerne, die nach Aufkauf lokaler Unternehmen von der um ein Vielfaches billigeren Arbeitskraft profitieren (teilweise verlagert sich die Produktion bereits weiter in die noch billigeren Länder wie Rumänien oder Ukraine).[10]

Vor dem Hintergrund der realen Geschehnisse wird offenbar, wie sehr die Osterweiterung der EU geprägt ist von der Krise des kapitalistischen Systems und dessen Gesetz, daß weitere Kapitalrendite nur durch Expansion möglich ist. Über zehn Jahre lang wurden die Kandidaten für den Beitritt zugerichtet und bilden nun die Bühne für weitere Gewinnmöglichkeiten der großen Konzerne.

In jenem Jahrzehnt, wo es am nötigsten gewesen wäre, gab es keine echte Hilfe, keine Schuldenerleichterungen. Vielmehr floß Geld von Ost nach West: Schuldendienst, Gewinntransfer, Fluchtkapital. Der Osten rief lautlos nach wirklicher Hilfe. Er ergriff auch selbst oft genug verzweifelte Maßnahmen, doch der Westen unterband sie regelmäßig – zugunsten eines „freien Spiels der Kräfte“. Das Kräfteverhältnis führt heute dazu, daß etwa deutsche Männer sich an den Straßenrändern tschechischer Grenzorte minderjährige Jungen und Mädchen zum Sex kaufen können. Ein Wahrbild: Der Osten ist zur Prostitution gezwungen, die eigentlich eine Vergewaltigung ist.

Wenn diese Tatsache so verkannt wird, beruht dies auf weiteren Tatsachen.

Fußnoten


[1] Sehr viele Details zum Thema enthält das Werk von Hannes Hofbauer: Osterweiterung. Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration (Wien, 2003). Ein Interview mit Hofbauer findet sich unter www.friwe.at/guernica/EUOsterweiterungHofbauer.htm. Viele Aspekte und Fakten enthält auch eine Auftragsstudie der GUE/NGL-Fraktion des Europaparlaments (www.linxxnet.de/aktuell/manuskripte11.pdf).

 

[2] Die EU führte z.B. mit jedem Land einzeln bilaterale „Gespräche“, ihr regelmäßiges „Ranking“ setzte alle Beitrittskandidaten unter starken Druck, allen EU-Forderungen möglichst problemlos zu entsprechen. Vor nationalen Wahlen gab Brüssel jeweils Warnungen ab, welche Partei nicht zu wählen sei, um die „Integration nicht zu gefährden“ (in der Slowakei etwa die HZDS unter Vladimír Mečiar, der z.B. die Forderung des IWF nach einer Währungsabwertung ablehnte und sich noch 1998 gegen die Privatisierung wichtiger Schlüsselunternehmen der Energieindustrie wandte).

 

[3] Während die Bevölkerung der EU um ein Viertel wächst, haben die neuen Länder nur fünf Prozent der Wirtschaftskraft der bisherigen EU – zusammen nicht mehr als Holland.

 

[4] Oft machen die Schulden 40-80% des nationalen Bruttosozialproduktes aus. Die Zahlen aus: Hofbauer, a.a.O.

 

[5] Nicht selten wurden auch potentielle Konkurrenzbetriebe aufgekauft: um sie zu schließen. Verschuldete Unternehmen wurden zuvor meist vom jeweiligen Staat entschuldet. - Ein Sonderfall ist das kleine Slowenien, dessen Wirtschaft trotz vieler Mahnungen Brüssels noch heute zur Hälfte staatlich ist. Mehrere Konzerne pflegen seit Jahrzehnten Zugang zu westlichen Märkten, Notverkäufe weit unter Wert waren daher nicht nötig.

 

[6] In Deutschland flossen nach der Wende allein an Direktzahlungen jährlich über 50 Mrd € in den Osten (16 Millionen Einwohner), ohne daß der Niedergang der dortigen Wirtschaft – die stärker war als die der Beitrittskandidaten – aufgehalten werden konnte.

 

[7] Wer trotz der subventionierten Nachbarn zunächst überlebt, muß sich dem Diktat des Einzelhandels beugen, der oft ebenfalls fest in ausländischer Hand ist (Lidl, Spar, Kaufland, Billa, Carrefour usw.).

 

[8] weitere Informationen über Polen z.B. unter www.wsws.org/de/2003/sep2003/pole-s17.shtml

 

[9] Mancher junge Rumäne wartet an gewissen Bundesstraßen auf Abnehmer seiner Arbeitskraft für eine Handvoll Euro. Manche junge Frau aus dem Osten landet z.B. in italienischen Bordellen, die den Händlerringen jeweils 1-2000 Euro zahlen.

 

[10] Informationen zur Kfz-Branche in einzelnen Ländern: www.eic.de/enlargement/Markteinstieg/Branchen/