26.06.2003

Das Böse und das wehrlose Kind

Warum nimmt die Ungerechtigkeit zu? Warum sind die meisten Menschen so egoistisch? Warum aber einige auch nicht und warum die anderen in so unterschiedlichem Maße? Der folgende Aufsatz versucht einen Blick auf einen vermutlich nicht zu überschätzenden Aspekt: Das Erleben der eigenen Kindheit.


Die Ungerechtigkeit in der Welt ist zum großen Teil auf entsprechende Strukturen zurückzuführen, die sie ermöglichen, fortsetzen, verstärken. Ein einfaches Beispiel sind Subventionen der Industrieländer, die die im Welthandel ohnehin gegebene Ungleichheit der Voraussetzungen ins Bodenlose steigern. Diese Strukturen wurden und werden natürlich von Menschen geschaffen – meist von wenigen. Es reicht also, daß eine kleine Gruppe von Menschen sich einig ist, um Strukturen zu schaffen, die weltweites Leid hervorrufen.[1] Doch immer war dies nur möglich, weil die vielen gleichzeitig geistig geschlafen haben oder sich nicht genug verbinden konnten und können. In der heutigen Zeit der Vereinzelung und des Rückzugs auf sich selbst verstärkt sich dieser Faktor, und nicht selten haben die Mächtigen freiere Hand als früher. 

Die Frage soll jedoch sein, warum Menschen derart egoistisch sind oder werden. Daß genau diese Menschen auch an die Macht gelangen, ist leicht einzusehen. Doch was steht am Beginn? Diese Frage ist relativ unabhängig davon, ob man ein im Wesen des Egoismus wirkendes Böses annimmt oder erlebt oder nicht. Tut man es, so ist die Frage, wie das Böse Zugang zum Einzelnen gewinnt.

Du sollst nicht merken

Alice Miller hat in ihren vor nunmehr rund 15 Jahren geschriebenen Büchern[2] auf die entscheidenden Prägungen hingewiesen, die in der Kindheit stattfinden. Sie zählt damit keineswegs zu den Vertretern, die abstrakt die Frage „Vererbung oder Umwelt“ diskutieren, sondern macht auf konkrete Phänomene aufmerksam. Ihre Entdeckungen führten sie dazu, sich von der Psychoanalyse loszusagen, da diese ein Jahrhundert nach Freud immer noch die Phänomene leugne, um an dessen Theorien festzuhalten.

Alice Miller stellte in zahllosen Fällen fest, wie „Erziehung“ das Seelenwesen des Kindes, insbesondere seine Gefühlswelt, unendlich und bleibend schädigen kann. Die schlimmsten Wirkungen hat natürlich eine solche „Erziehung“, die von vornherein dem Kind jeglichen Eigenwillen austreiben will. Miller weist jedoch darauf hin, daß die Schwarze Päda­gogik ihre Ausläufer überall hat, wo das Kind nicht voller Liebe und Respekt behandelt wird, sondern wo man es – und sei es noch so subtil – zum Erziehungsobjekt mit eingeschränkten Rechten macht (was immer dann bereits der Fall ist, wenn Eltern ihre Machtstellung nutzen, um kurzerhand ihren Willen durchzusetzen).

Das Entscheidende ist nun, daß die Erwachsenen die durch entsprechende Erlebnisse verursachten Folgen in ihrer Seele nicht bemerken, weil sie sie als Kind nicht bemerken durften. Und indem sie ihr Leiden nicht bemerken, geben sie es weiter – an ihre Kinder, an ihre Mitmenschen.

Das kleine Kind kann gar nicht anders, als alles, was die Eltern tun, als richtig, gut und wahr aufzunehmen, selbst wenn es den größten Mißbrauch darstellt – erst recht, wenn es sich um subtile seelische Mißhandlungen handelt. Tragisch ist es, daß die Eltern diese oft nicht einmal als solche erkennen oder aber nicht anders handeln können – beides aufgrund ihrer eigenen Kindheit.

Verlust der Gefühle und Flucht vor der Wahrheit

Wenn das etwas größere Kind vielleicht doch anfängt, zunehmend bewußter zu leiden, wird es gleichwohl immer wieder zu der Überzeugung kommen, daß es richtig und normal sein muß, wie die Eltern sich verhalten. In jedem Fall wird es sie lieben und alles tun, um sich ihre Liebe zu erhalten. Weitgehend unbewußt wird es alles vermeiden, was nach seinen vergangenen Erfahrungen zu einem Liebesentzug führen würde. Dies aber wird zu einem Verlust in der eigenen Seele: Das Kind kann nicht lernen, seine Gefühle zu zeigen. Es wird verlernen, gewisse Gefühle zu haben, überhaupt Gefühle von gewisser Tiefe zu haben.

Die langen Jahre der Überzeugung und Sehnsucht, daß das elterliche Verhalten richtig ist, gehen einher mit einer wiederholten Verdrängung des eigenen Leidens – und werden später zu einem völligen Nichtwissen über das, was der eigenen Seele in der Kindheit wirklich geschehen ist. Miller entdeckte erschütternde Beispiele, wie die eigenen Eltern in Schutz genommen wurden – noch von erwachsenen Menschen, die alle ihre Nöte und Leiden sich selbst zuschrieben oder aber zumindest darauf bestanden, daß ihre Eltern nicht anders konnten – wegen ihrem eigenen schweren Schicksal, ihrer Kindheit und so weiter.

Das eigene Leiden wird verleugnet, verdrängt, bagatellisiert, um – noch als Erwachsener – die Eltern idealisieren zu können. Dieser Drang ist als solcher völlig unbewußt. Es ist die Metamorphose des sich durch die Kindheit ziehenden Verhaltens, den Liebesentzug zu vermeiden.

Dieser Drang aber verhindert die Rettung der Seele. Die bereits geschädigte Seele hat Angst davor, die geliebten Eltern zu verlieren – Angst davor, zu erkennen, daß die Eltern nicht wirklich das Kind geliebt haben, sondern nur angenehme Manifestationen desselben. Die Seele hat Angst vor der vollkommenen Einsamkeit einer lieblosen Welt – und verleugnet lieber die Wahrheit. Dazu kommt die Angst vor der Erkenntnis der eigenen Seelenkrankheit, der Unfähigkeit zu gewissen Gefühlen, der Ängste und Hemmungen.[3] Um das eigene bisherige Verfehlen der wirklichen Mensch-heit nicht erleben zu müssen, wird es verdrängt.

Es geht nicht darum, die eigenen Eltern zu hassen, sondern nur darum: zu erleben, was geschehen ist, wie man aufgewachsen ist, was man alles nicht erleben und nicht entwickeln durfte. – Ein Gefühl, das erlebt werden darf, unterliegt dem Gesetz der Verwandlung. Der Zorn auf die Eltern bleibt unverändert, solange er unbewußt bleibt, weil man sich zum Beispiel bei erlebter „Undankbarkeit“ gegenüber den Eltern schuldig fühlen würde. Dieser Zusammenhang wiederum verstärkt tendenziell den Haß, weil man unbewußt sehr wohl die Schuld der Eltern erfaßt.

Die Rettung der Seele

Alice Miller stellt den Satz auf: „Jeder Täter war einmal Opfer, aber nicht jedes Opfer braucht zum Täter zu werden.“ Dann nämlich nicht, wenn ein „wissender Zeuge“ dem Kind half, die erfahrene Grausamkeit wahrzunehmen, um die eigene Integrität der Seele zu retten. Umgekehrt schreibt sie: „Menschen, die von klein auf ernstgenommen, respektiert, geliebt und beschützt wurden, können gar nicht anders als das gleiche mit ihren Kindern tun“ – und mit ihren Mitmenschen.

Rudolf Steiner hat in seinen Schriften und Vorträgen ebenfalls immer wieder die Wichtigkeit der Achtung vor dem Wesen des Kindes betont und darauf hingewiesen, daß eigentlich an jedem Kinde „eine Rettung“ vollzogen werden müsse. Die von Steiner eröffnete spirituelle Dimension kann die Ausführungen von Alice Miller unendlich vertiefen, aber auch ihre Erfahrungen können helfen, daß Steiners Ausführungen letztlich nicht doch zu theoretisch aufgenommen werden.

Obwohl Alice Miller Seele und Ich eines Menschen nicht unterscheidet, sollte man sie nicht deterministisch mißverstehen. Es ist davon auszugehen, daß das Ich in seinem wahren Wesen nur wirksam werden kann, insofern jene Integrität der Seele bewahrt werden und sie sich gesund ausbilden konnte. Und wenn Miller schreibt, liebevoll erzogene Kinder können auch nur das gleiche mit ihren Kindern tun, so scheint mir dies – richtig verstanden – das Selbstverständlichste der Welt und implizit auch von Steiner immer gesagt worden zu sein.

Ich möchte nun nicht noch in einem großen Wurf alles Gesagte verkürzt auf die Weltlage insgesamt übertragen. Man kann sich aber nach den vorangegangenen Überlegungen in neuer Konkretheit und Tiefe fragen, was Kinder heute im Elternhaus und auch in ihrer übrigen Umwelt erleben und aufnehmen. Und man kann sich fragen, was jene „Mächtigen“ erlebt haben, die immer wieder mit eiserner Strenge nur ihren eigenen Vorteil im Auge haben – und dies für völlig normal halten oder bisweilen vielleicht noch nicht einmal merken. Bezieht man „das Böse“ als Wesen in seine Gedanken mit ein, bleibt die Tatsache, daß auch das Böse leichtes Spiel hat, je verletzter die Seele eines Menschen ist – und je weniger dieser Mensch sich selbst erkennt.

Fußnoten


[1] Seit jeher waren es wenige, die Leid über die Menschheit gebracht haben – meist um des eigenen Vorteils willen. Eine oft noch kleinere Zahl von Menschen reicht aus, um entsprechende Strukturen aufrechtzuerhalten, weil ihre Abschaffung meist wiederum nur in einem weitgehenden Konsens der „Mächtigen“ möglich wäre.

 

[2] u.a.: „Das Drama des begabten Kindes“, „Du sollst nicht merken“, „Am Anfang war Erziehung“, „Das verbannte Wissen“.

 

[3] das beginnt schon mit der Frage, wie man sich gegenüber der Autorität eines Arztes, Beamten oder Polizisten gegenüber erlebt.