27.06.2003

Die neuen Herrscher der Welt

Der folgende Text basiert auf dem Buch von Jean Ziegler: Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher (Bertelsmann 2003). Ziegler lehrt Soziologie in Genf und ist UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung.

 

  • Inseln des Wohlstandes im Meer des Elends
  • Die Menschenwürde als Hohlformel
  • Der unglaubliche Selbstbetrug
  • „... kann man sich keine Moral leisten“
  • Verlust jeglichen Maßes
  • Die Mächtigen und ihre Methoden
  • WTO, Weltbank und IWF – Sachwalter des Kapitals
  • Arroganz und Dilettantismus
  • Der Mächtigen und ihre Gegner


Im Zweiten Weltkrieg starben in sechs Jahren rund 70 Millionen Menschen, mehrere hundert Millionen wurden verwundet. Für die Menschen der Dritten Welt ist heute der „Dritte Weltkrieg“ in vollem Gange.
Jährlich sterben etwa 35 Millionen Menschen an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen, über 800 Millionen sind chronisch und schwer unterernährt – ein Viertel aller Menschen in Asien, ein Drittel aller Afrikaner. Unsere Erde könnte nicht nur die gegenwärtig auf ihr lebenden sechs, sondern sogar zwölf Milliarden Menschen ernähren. Heute aber wird ein Viertel des weltweiten Getreides zu Viehfutter verarbeitet. Allein in den USA werden jährlich 500.000 Tonnen Getreide verfüttert - an Rinder, die teilweise zu Tausenden bewegungslos in riesigen klimatisierten Hallen ihr Leben fristen müssen. 

1793 schrieb der Priester Jacques Roux:: „Die Freiheit ist nur ein eitles Hirngespinst, wenn eine Klasse die andere ungestraft aushungern kann. Die Gleichheit ist nur ein eitles Hirngespinst, wenn der Reiche mithilfe seines Monopols über Leben und Tod seiner Mitmenschen entscheidet.“ Einige Jahrzehnte später zeichnete Lamartine in einem Satz das Bild einer brüderlichen Welt: „Das Glück des Schwachen ist der Ruhm des Starken“.

Die Mächtigen und die „Macher“ weisen heute gerne jedes übertriebene Eigeninteresse weit von sich. Jacques Roux würden sie für verrückt erklären, während sie Lamartine in obszöner Weise für sich vereinnahmen. Obwohl die Globalisierung großes Leid mit sich bringt, behaupten ihre Verfechter, daß sie helfe, Armut und Elend zu überwinden. Doch es gibt unzählige Beispiele, wie Länder voll in den Welthandel eingebunden sind, ohne daß in ihnen der Wohlstand zunimmt. Entscheidend ist zum Beispiel, in wessen Händen der Handel liegt. Schon vom frühen 16. Jahrhundert an exportierte das portugiesische Vizekönigreich Brasilien fast die gesamte Produktion von Zucker, Kaffee, Kakao, Tabak und Erz – und importierte alles, was die herrschende Elite für ihr Leben benötigte. Das Volk war politisch nicht existent, das Heer der Arbeitskräfte bestand aus Sklaven. Noch heute besitzen zwei Prozent der Grundbesitzer 42% der landwirtschaftlichen Fläche und liegen 150 Millionen Hektar brach, während 4,5 Millionen Familien von Landlosen umherirren. Überall sind heute derartige Polaritäten zu finden, die sich sogar verstärken: Sao Paulo mit seinen Favelas, Johannesburg mit seiner schwarzen Vorstand Soweto, dieselben Slums in Lima, Karatschi, Manila...

Inseln des Wohlstandes im Meer des Elends

Zahllose Arme ernähren sich, indem sie Tag für Tag die Müllberge der Reichen besteigen und einsammeln, was noch halbwegs eßbar erscheint. Zahllose Kinder sterben an Krankheiten, einfachem Durchfall oder an Hunger – kleine Säuglinge sterben, weil die Milch ihrer hungrigen Mütter nicht ausreicht. – Vor 40 Jahren wurde das Welternährungsprogramm gegründet, es unterhält 80 Büros mit etwa 2000 Mitarbeitern. Gegen den strukturellen Hunger kann es nichts tun. Selbst bei akuten Hungersnöten ist Hilfe nicht immer möglich – teilweise sind nicht genug Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt verfügbar, zudem wird der Getreidepreis von wenigen internationalen Konzernen an der Chicagoer Terminbörse bestimmt...

Der Norden behauptet, mit dem freien Markt weltweiten Wohlstand zu schaffen. Er vergißt, daß sein eigener Wohlstand auf eine erste Kapitalakkumulation zurückgeht, die nur durch das düstere Kapitel der jahrhundertelangen Sklaverei möglich war. Ohne das Blut, den Schweiß und das Leben von Millionen Afrikanern hätte Europa nicht später seine rasche Industrialisierung finanzieren können. Ohne den bis dahin erworbenen Reichtum wäre die friedliche Verwandlung der Bauern in Arbeiter nicht möglich gewesen. Das spätere Leiden des industriellen Proletariats führt allzuschnell zu der Vorstellung, daß nur dessen Ausbeutung die Grundlagen des heutigen Reichtum geschaffen hat, und verdeckt die Tatsache, daß der Beginn der Industrialisierung überhaupt nur durch eine vorangegangene Kapitalakkumulation möglich gewesen war.

Von diesem durch viele Generationen hindurch gebrachten Opfer hat sich der afrikanische Kontinent nie wieder erholt. Dafür sorgten auch die ethnischen Konflikte, die immer wieder durch die Kolonialmächte, später durch die Gegner des Kalten Krieges, geschürt und auch erst ausgelöst wurden, indem die eine Ethnie gegenüber der anderen bevorzugt, die eine gegen die andere ausgespielt wurde. Heute wird der Kontinent zum zweiten Mal geopfert. Die Globalisierung trifft mit voller Wucht einen bereits geschwächten sozialen Organismus. Pierre Bourdieu brachte es auf den Punkt: „Der Neoliberalismus ist wie Aids: Er zerstört das Immunsystem seiner Opfer“.[1]

Die Polarisierung ist konstitutiv für die kapitalistische Produktionsweise. Diese läuft nicht auf Freiheit, Gleichheit und Vielfalt hinaus, sondern auf die Mono­polisierung des Kapitals. Nach dem Ende des Kalten Krieges konnte dieser Kapitalismus seinen ungehemmten Aufschwung nehmen. Nachdem man nicht mehr humaner und sozialer sein mußte, als das sowjetische „Reich des Bösen“, fielen die letzten Masken. Bei wem wächst der Wohlstand, wenn ein multinationaler Konzern Tausende von Arbeitern entläßt? Wer wird reicher, wenn ein solcher Konzern seine Standorte verlagert und künftig in einer der zahllosen „Sonderproduktionszonen“ zu Hungerlöhnen produzieren läßt?

Die „Globalisierung“ führt dazu, daß die Vertreter des Kapitals global Profit machen können. Streng lokal, auf wenige Orte begrenzt, bilden sich jene Viertel, wo die großen Unternehmen, Banken, Versicherungen und anderen „Dienstleister“ ihre Zelte aufschlagen. Die globalisierte Welt besteht in Wirklichkeit aus Inseln des Wohlstandes, die aus einem Meer menschlichen Elends herausragen.

Die Menschenwürde als Hohlformel

Nach dem Ende des Kalten Krieges keimte für kurze Zeit die zarte Hoffnung auf, daß ein besseres Zeitalter anbrechen würde. Doch die Mächtigen der Welt lehnten es ab, für eine neue globale Gemeinschaft auf bestehende Organisationen wie die UNO und ihre Sonderorganisationen zurückzugreifen. Verworfen wurde das Ideal einer Gemeinschaft von Staaten und Völkern, die von unterschiedlicher Größe, aber gleich an Rechten wären. Allen voran entschieden sich die USA für einen schamlosen Unilateralismus. Aber auch Rußland in Tschetschenien oder Israel in den besetzten Gebieten vergewaltigten die Menschenwürde in erschütternder Weise.

Die modernen Grundrechte sind zu einer Floskel verkommen. Die Rede von der Würde des Menschen und dem Recht auf Unversehrtheit wird zur Worthülse, wenn man nicht erkennt, daß diese beiden ganz konkret wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte voraussetzen. Wenn man nicht erlebt, was es mit der Würde des Menschen auf sich hat. Nur wer wirklich erlebt, was überhaupt Menschsein heißt, nur wer den anderen – und sich – und den anderen – wirklich erkennt, wird überhaupt verstehen, um was es geht. Er wird dann das Recht auf Unversehrtheit in seiner eigenen Seele ausgesprochen finden – und zugleich werden ihm auch all jene konkreten Rechte zum inneren Erlebnis werden.

Einen Menschen, der hungert, kümmern seine demokratischen Rechte nicht. Für einen Analphabeten ist Pressefreiheit sinnlos. Rousseau schrieb im Contrat social : „Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt und das Gesetz, das befreit.“ Doch die USA wehren sich gegen jede Formulierung eines Rechtes auf Ernährung, auf Unterbringung, auf Bildung, auf Gesundheit – oder gar auf Entwicklung. Nach der kapitalistischen Logik gibt es keine „öffentlichen Güter“. Allein der Markt entscheidet über die Zuteilung und den Preis von Nahrungsmitteln, Schulbildung, Medikamenten usw. – denn nur der Markt bringt alle diese Güter hervor, nur der Markt kann Wohlstand schaffen, jedoch nur, wenn er frei ist. Man bekommt den Eindruck, der Markt sei ein Wesen. Sogar eines, das viel wichtiger ist als wirkliche Menschen. Alle Menschen existieren schließlich nur von Gnaden des Marktes. Wer ihn und seine Freiheit behindert, verstärkt folglich nur das weltweite Elend und verhindert dessen Ausrottung. Die Forcierung der Marktliberalisierung gehört daher auch als wesentlicher Bestandteil zum „Kampf gegen den Terrorismus“. Ja, der Terrorismus ist eine Frucht des Elends – aber der Markt beseitigt das Elend.

Der „Markt“ ist so heilig, daß er unantastbar ist, selbst wenn er offensichtlich unmenschlich und verbrecherisch ist. Nachdem der afrikanische Diktator Mobutu jahrelang riesige Reichtümer außer Landes geschafft hatte (natürlich auf Schweizer Bankkonten), wäre selbst schon der Gedanke abwegig gewesen, dieses Geld nach dessen Sturz zurückzugeben. Man kann doch nicht in die Kapitalflüsse eingreifen!

Der unglaubliche Selbstbetrug

Teilweise könnte man meinen, die Bankiers wären in ihrer Biographie auf unbedingten Gehorsam geprägt worden, man fühlt sich an preußischen Untertanengeist erinnert. Teilweise scheint es aber zugleich so, als würden sie in ihrem Wächtertum über die Freiheit der Kapitalflüsse eine höhere Mission sehen, einen Dienst an der Menschheit. Und so können sie sonntags in die Kirche gehen, einem der großen Solidaritätsvereine wie Rotary oder Lion´s Club angehören und vom Anblick eines an Hunger sterbenden Kindes erschüttert sein. Doch es gilt ihnen wie ihren Gleichgesinnten als „übriggebliebenes Elend“.

Keinesfalls würden sie glauben, das Elend entspräche dem Reichtum und würde gar durch ihn verursacht. Wer reich ist, wurde dies durch eigene Leistung und hat damit niemand anderem geschadet. Im Gegenteil, der Reiche kann dem Armen helfen. Nun, natürlich nicht, indem er ihm die Hälfte seines Reichtums abgibt – der Arme könnte damit doch auch gar nicht umgehen! Nein, außer einigen Almosen braucht der Reiche eigentlich gar nichts tun, als weiterhin fleißig zu sein. Wie durch ein Wunder wird dieser Reichtum dann in einem mysteriösen Prozeß auch zum Wohlstand aller anderen führen. Diese Vorstellungswelt stützt sich auf die alte Theorie vom „Trickle down effect“, nach der der Reichtum nach unten „durchsickert“. Diese Vorstellung geht auf Adam Smith und David Ricardo zurück, die hervorragenden Denker der modernen Wirtschaftstheorie. Beide waren gläubige Gelehrte (Protestant bzw. Jude) und vom Schicksal der zahlreichen Armen in Glasgow bzw. London berührt. Sie beruhigten sich bei dem Gedanken, daß es objektive Grenzen des Reichtums gäbe. Der Milliardär würde den Lohn seiner Bediensteten erhöhen, weil er tatsächlich nicht mehr weiß, wohin mit dem Geld.

Heute wissen wir, daß Geld ein Machtmittel ist und daß die menschliche Gier und der Wille zur Macht keine Grenzen kennen. Überhaupt ist jene Theorie, die an den Verhältnissen nicht das Geringste ändert, moralisch unglaublich armselig. Das eigene Gewissen weilt beruhigt bei der Vorstellung, daß in einer nicht allzu fernen Zukunft auch der Verhungernde zu essen haben wird. Denn einst wird der Reiche genug haben. – Hat man früher schon übersehen, wie sehr Reichtum auf Ausbeutung zurückgeht, so übersieht man heute – vermutlich absichtlich –, daß nicht nur die Ausbeutung weiter geht, sondern – wo immer ein gewisses Wohlstandsniveau erreicht wurde – die Umverteilung dazu kommt, die die wirklich großen Reichtümer noch schneller anwachsen läßt.

„... kann man sich keine Moral leisten“

Die Reichen sind heute nicht so fromm, wie es Smith und Ricardo gerne hätten und wie sie selbst es vielleicht waren. Manche Reichen sind wie erwähnt Kirchgänger und fühlen sich vielleicht fromm (wer reich ist, kann sich alles leisten: Luxus, Bildung, sogar Umweltschutz und auch Religion – diese für das eigene Seelenheil). In jedem Fall wird es immer genug Reiche geben, die ganz bewußt auf Kosten anderer reich werden wollen. In zahllosen Konzernen machen es sich die Manager zum Prinzip, den Konkurrenten nicht einfach nur zu schlagen, sondern ihn zu vernichten. In diversen Branchen gilt der Grundsatz, daß die Konzerne, die es ganz nach oben geschaffen haben, von blutgierigen Killern geleitet werden. Ein Kenner der Szene sagt: „Um so weit zu kommen, muß man der absolute Hai sein.“ – Während der „plumpe“ Mord als Verbrechen gilt, ist dasselbe Phänomen in der globalisierten Wirtschaft eine Grundprämisse. Während man sich auf der Straße grüßt, werden „im Geschäft“ erschreckendste Instinkte gepflegt. Welche Folgen hat das auf die Seele der Menschheit? Muß man sich noch über irgend etwas wundern?

Michael Lewis war lange Zeit selbst ein Star der New Yorker Börse, brach dann aber mit diesem Milieu und schreibt in Liar´s Poker über den Charakter des wahren Spekulanten: „Die Gefühle der gewöhnlichen Investoren – Angst, Panik, die Versessenheit auf sofortigen Gewinn – rühren ihn nicht ... Er versteht sich als Teil einer Elite und hält den Rest der Menschheit für eine Herde Schafe.“[2] – Wer so weit von der Menschheit entfernt ist, auf den ist jede Hoffnung vergebens. Im Mai 1996 trafen japanische Bergsteiger beim Besteigen des Mount Everest auf zwei halb erfrorene, aber noch lebende indische Bergsteiger – und setzen ihren Aufstieg wortlos fort. Der junge Sprecher der Expedition erklärte später: „Wir waren zu erschöpft, um Hilfe leisten zu können. Jenseits der 8000 Meter kann man sich keine Moral mehr leisten.“ Und genau dies trifft auch auf die Global Player zu – schon das Wort ist ein deutlicher Hinweis auf den Realitätsverlust.

Die ständige Ausweitung des Konzernimperiums verlangt ein absolut amoralisches Verhalten. Zugleich erlebt man das eigene Tun als Wohltat gegenüber dem eigenen Konzern und kann ebenfalls ohne moralische Regung horrende Gehälter verlangen – man erlebt es höchstens als persönliche Kränkung, wenn diese hinterfragt werden. Sanford Wiell fädelte als Präsident von Travelers 1998 die Fusion mit dem Konkurrenten Citicorp ein, was zur Entlassung von Zehntausenden führte, während Wiell in diesem Jahr 230 Millionen Dollar an Prämien und Bezügen erhielt.

Verlust jeglichen Maßes

Wie sind solche Summen begründet? Die Manager argumentieren: „Unsere Verantwortung ist außergewöhnlich groß. Wir können von einem Augenblick auf den anderen unseren Arbeitsplatz verlieren. Wir setzen täglich unseren Ruf aufs Spiel.“ – Sie werden den Irrsinn ihrer Argumentation nicht im geringsten wirklich durchschauen und weiterhin von der Gerechtigkeit ihres Lohnes ausgehen. Doch seit wann ist das Risiko des Arbeitsplatzverlustes ein Grund für gigantische Gehälter? Welche Perversion liegt darin, daß die Verantwortung des Managers gerade darin besteht, möglichst viele andere zu entlassen – und daß sein Ruf gefährdet ist, wenn er sein Soll nicht erreicht!

Während die Zehntausend mit Nichts auf der Straße stehen, erhalten die Manager ein Vermögen, selbst wenn sie entlassen werden – ein „gentlemen´s agreement“, das „vergoldeter Fallschirm“ genannt wird. Michael Orvitz arbeitete 14 Monate als Talentscout für Walt Disney, wurde dann entlassen und bekam einen Scheck über 100 Millionen Dollar. Der letzte Präsident der gescheiterten Swissair übernahm den Job des Totengräbers sieben Monate vor dem Konkurs – und ließ sich ein Fünfjahresgehalt von 12,5 Millionen Franken im voraus auszahlen. Während die Swissair-Aktie bald darauf keinen Cent mehr wert war und Hunderte Pensionsfonds und Zehntausende von Sparern um ihre Einlagen gebracht waren, erfreut sich Mario Corti in seiner Luxusvilla am Zürichberg an seinem Erfolg. Enron-Chef Kenneth Lay ließ sich kurz vor dem Konkurs vom Aufsichtsrat eine Abfindung von über 200 Millionen Dollar zahlen, der Präsident des wenig später zusammengebrochenen Konzern Global Crossing sogar 730 Millionen Dollar. Lange galt Percy Barnevik, bis 1966 Präsident des Schweizer Konzerns ABB, als integre Ausnahme im Geschäft. Zusammen mit Kofi Annan rief er 1999 den „Global Compact“ ins Leben, eine Art Selbstverpflichtung wichtiger Global Players zu „anständigem“ Geschäftsgebaren in der Dritten Welt. Wenig später entdeckten die Aktionäre, daß Barnevik sich vor seinem Ausscheiden fast 150 Millionen Franken auf sein persönliches Rentenkonto hatte überweisen lassen.

Um überhaupt in die Lage zu kommen, sich die Verhältnisse einmal konkret vorstellen zu können, kann man folgende Rechnung aufmachen: Selbst bei einem Jahresgehalt von nur fünf Millionen Dollar und einer Arbeitszeit von 200 Tagen zu je acht Stunden, liegt der Stundenlohn bei über 3.000 Dollar! Selbst bei einer Arbeitszeit von 300 Tagen zu je 14 Stunden wären dies 1.200 Dollar stündlich. Dies dürfte der realen Arbeitszeit eines Managers nahekommen – ebenso aber der Arbeitszeit einer chinesischen oder auch haitianischen Näherin in einer „Sonderproduktionszone“. Jemand hat einmal ausgerechnet, daß Michael Eisner, der Generaldirektor von Walt Disney, stündlich „nur“ 2.783 Dollar verdient. Die Arbeiterin, die für seinen Konzern Disney-Pyjamas fertigt, verdient 28 Cents pro Stunde. Um das Einkommen zu erreichen, was Eisner Stunde für Stunde erhält, müßte jene junge Frau über ein Jahr lang ununterbrochen nähen – Tag und Nacht.

Die Mächtigen und ihre Methoden

Die Manager, die diese unglaublichen Summen verdienen, jene Konzerne, die horrende Profite machen – sie kontrollieren die Welt. Regierungen sind nur noch in der Lage eines Kindes, das machtlos vor einem strengen, seinen eigenen Willen durchsetzenden Vater steht. Die neue „Weltinnenpolitik“ besteht darin, die Diktate der Mächtigen in die jeweilige Lokalsprache des nationalen „Rechts“ zu übersetzen. Die Strafe der Global Players für Ungehorsam ist schrecklich. Fluchtbewegungen des Kapitals sind der Liebesentzug und die Schläge der globalisierten Welt, die jeden Staat in die Knie zwingen. Die Herren der Welt brauchen nur implizit zu drohen, und schon lassen sich die nationalen Regierungen in einen „kostensenkenden“ Deregulierungs­wettlauf verstricken, der zu obszönen Gewinnen von wenigen und zu Entrechtung und Verarmung von immer mehr Menschen führt. Ein Mensch aber, der dauernd um seinen Arbeitsplatz, seinen Lohn und seine Rechte bangen muß, ist kein „freier“ Mensch mehr, die angeblich unantastbare Würde wird ihm täglich genommen. Die Verhältnisse in den Industrieländern sind im Vergleich mit der Dritten Welt paradiesisch, doch hat etwa in Großbritannien nur noch jeder sechste Arbeitnehmer einen festen, regulären Vollzeitarbeitsplatz. Allein in London gibt es über 40.000 Obdachlose. In den USA haben 47 Millionen Menschen keine Krankenversicherung.

Kein einziger aber würde mit dem Schicksal von Millionen junger Männer und Frauen tauschen, die in den „Sonderproduktionszonen“ als Sklaven des globalen Kapitals ihr Leben hingeben. Für sie sind 14- bis 16-stündige Arbeitstage die Regel, in diesen Zonen gelten keine nationalen Gesetze, Überstunden werden selten bezahlt – und wenn, bleibt es ein Hungerlohn. Die oft bewaffneten Vorarbeiter kontrollieren jeden Schritt. Wer nicht mehr arbeiten kann oder will, für den gibt es vielfachen Ersatz von Arbeitskräften, für die ein Hungerlohn besser ist als gar keiner. Abends verlassen dann erschöpfte Arbeiterinnen die Fabriken und kehren heim in ihre von Ratten verseuchten Hütten der Elendssiedlungen. Zwei Drittel des von der EU importierten Kinderspielzeugs kommen aus solchen Fabriken: Puppen, Eisenbahnen, Bälle, Roboter...

Die Großbanken wiederum müssen niemanden ausbeuten – sie können warten, bis ihnen das entsprechende Geld zufließt. Allein auf Schweizer Konten haben Ausländer über 2000 Milliarden Franken gelagert. Dazu gehören zum Beispiel Bestechungsgelder, die zur Einfädelung von Großgeschäften gezahlt wurden (im Bereich der Rüstungsverkäufe nicht selten 40% der Transaktionssumme) und die bis vor kurzem in den meisten Industrieländern sogar steuerlich abgesetzt werden konnten! Dazu gehören weiterhin die von diversen Diktatoren außer Landes geschafften Vermögen. Unter den Jahrzehnten der philippinischen Marcos-Diktatur waren Züricher Bankiers rund um die Uhr mit der Evakuierung des Geldes beschäftigt – sie gründeten Dutzende Investitionsgesellschaften in Liechtenstein und Panama, kauften Hunderte von Immobilien in Paris, Genf, Manhattan, Tokio... Gleichzeitig war und ist Manila die asiatische Hauptstadt der Kinderprostitution, leben Millionen Zuckerrohrschneide in völliger Mittellosigkeit, sind Hunderttausende zur Auswanderung gezwungen, um etwa in einem Haushalt in Saudi-Arabien oder Kuwait wie eine Sklavin behandelt zu werden. Dazu kommt das Diktat des IWF, das die Folgen der Asienkrise nur verschlimmern konnte. Vor einem solchen Hintergrund wird auch der Widerstand der muslimischen Minderheit gegen die katholischen Großgrundbesitzer verständlich. Der Islam wird als Nährboden des Terrorismus hingestellt – doch es sind die Ayatollahs des neoliberalen Dogma, die den Nährboden bereiten.

Wie die Diktatoren betrachten auch die großen Konzerne ihre maßlosen Profite als ihr Eigentum – jede Steuer kommt für sie einer Konfiszierung gleich. Da sie selbst in ihren Augen der einzige Motor der Wirtschaft sind und der Staat unnütz, verschwenderisch und parasitär ist, wird ihm mit Recht alles vorenthalten. Zu diesem Zweck gibt es überall auf der Welt sogenannte Steueroasen – etwa die Bahamas. Diese Inselgruppe hat nur 275.000 meist schwarze Einwohner, die Hauptstadt Nassau ist etwa so groß wie Genf. Hier haben sich 430 Banken niedergelassen, die über 1000 Milliarden Dollar überwiegend europäischer Herkunft verwalten. Mit Hilfe eines der tausend Anwälte – meist Engländer oder Amerikaner – kann jeder Mensch vollkommen unkompliziert eine Aktiengesellschaft gründen. Es werden dabei weder die Aktionäre noch die Geschäftsführer oder Aufsichtsratsmitglieder registriert, nie werden die Bilanzen oder Kontenbewegungen bekannt werden. Nur der beliebige Name der Gesellschaft taucht auf – eine der 10.000 jährlich neu hier entstehenden „Briefkastenfirmen“.

Die Konzerne sorgen also dafür, daß sie keinerlei Steuern zahlen, aber sie behaupten, daß Globalisierung und freier Handel dem Wohl der Menschheit dienen. Sie sprechen von einem Handel, den sie allein unter sich ausmachen – ein Drittel des Welthandels findet innerhalb der maximal 500 entscheidenden transnationalen Konzerne statt, ein weiteres Drittel zwischen ihnen.

Die Politiker der reichen Staaten beten die Doktrin nach und behaupten, daß Globalisierung und freier Handel dem Wohl der Menschheit dienen. Sie handeln aber anders – und dienen ihren Herren. Im Grunde wäre der Dritten Welt mit einem gnadenlosen Freihandel sogar oft noch gedient – denn das noch schlimmere Übel ist gegenwärtig Realität: Obwohl der reiche Norden schon während der WTO-Tagung in Marrakesch eine rasche Liberalisierung der Agrarmärkte zugesagt hat, geschah praktisch nichts. Noch heute subventionieren die OECD-Staaten ihre Landwirte jährlich mit 335 Milliarden Dollar, was schlimmer ist als jede absolute Zollschranke. Natürlich haben die Produkte des Südens hierzulande keine Chance. Doch es geht um den Export: Konkurrenzlos billig überschwemmen die Produkte der Agrarindustrie die Märkte des Südens, deren lokale Landwirtschaft hilflos zusammenbricht.

WTO, Weltbank und IWF – Sachwalter des Kapitals

Vier Jahre lang war Mike Moore Generalsekretär der WTO. Ehemals war er Maurer, Gewerkschafter und militanter Politiker – dann wechselte er die Seiten und gehörte fortan zur neuseeländischen „upper class“, die, zutiefst geprägt von den britischen Kolonialtraditionen, noch versnobter, arroganter und elitärer ist als irgendwo sonst. Manchmal offenbart sich auch in der „großen Politik“ die Wahrheit. Zwei afrikanische Experten des UN-Unterausschusses zum Schutz der Menschenrechte veröffentlichten im Sommer 2000 einen Bericht über den Einfluß der transnationalen Konzerne in der WTO. Sie kamen in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, daß die WTO fast vollständig in der Hand internationaler Privatgesellschaften ist. Moore verlor seine diplomatische Beherrschung und verlangte eine öffentliche Entschuldigung von der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte und behauptete, von den beiden Afrikanern persönlich verunglimpft worden zu sein. Der Bericht wurde jedoch nicht zurückgezogen und bildet seitdem ein offizielles UN-Dokument.

Die Weltbank gewann ihre einflußreiche Stellung in den 70er Jahren, als Robert McNamara, ehemaliger Verteidigungsminister unter Kennedy und Johnson, ihr Präsident war. Ein großer Teil ihrer Gelder wurde bei Schweizer Banken aufgenommen. So schließt sich der Kreis: Diktatoren aller Art entziehen ihren Heimatländern in der Dritten Welt das Volksvermögen, die Weltbank gibt es ihnen wieder – als Kredit, der sie in die Schuldenfalle stößt. Als in verschiedenen Protestwellen Forderungen nach Grenzen des Wachstums, nach mehr Menschenrechten und Nachhaltigkeit aufkamen, reagierte die Weltbank sehr flexibel, schrieb sich die Forderungen auf ihre Fahnen – und blieb doch stets bei ihrer alten Praxis. Allen Schuldnerländern wurde der „Konsens von Washington“ aufgezwungen, die bekannte Standardrezeptur der ultraliberalen Doktrin: Liberalisierung der Finanz- und anderen Märkte, Privatisierung des öffentlichen Sektors, Entlastung der Reichen, Abschaffung staatlicher Subventionen.

Dann wurde die Weltbank selbst durch ein Erdbeben erschüttert: Joseph Stiglitz, Vizepräsident und Chefökonom tritt zurück und verurteilt die bisherige Politik in aller Öffentlichkeit. Präsident Wolfensohn wird von Zweifeln gepackt, reist herum, lädt gesellschaftliche Bewegungen zum runden Tisch und denkt nach. Er verstärkt den Social Board, der künftig die sozialen Folgen jedes Projektes vorab untersuchen soll. Nur, diese Abteilung hat auch jetzt keinerlei Macht. Auch wenn sie eine Katastrophe voraussieht, kann sie den Bau einer Autobahn, eines Staudamms, einer Fabrikanlage nicht verhindern. Auch beauftragt die Weltbank „unabhängige Experten“ von „glaubwürdigen“ Nichtregierungsorganisationen. Da viele von deren Führungs­­persönlichkeiten später in die höheren Etagen der Weltbank wechseln, ist es sehr zweifelhaft, ob hier nicht eine schleichende Korrumpierung stattfindet. Jedenfalls hatten sowohl der Social Board als auch die „Experten“ keine Einwände gegen ein Pipeline-Projekt im Tschad. Staatschef Déby läßt zwar politische Gefangene foltern und verwendet Gelder aus dem „Erdöl-Sonderfonds zur Bekämpfung der Armut“ zum Ankauf von Waffen, setzt aber gewissenhaft die Programme des IWF um und bedient die Auslandsschulden vollkommen korrekt.

Auch „Schuldenerleichterungen“ kann sich der IWF öffentlichkeitswirksam auf seine Fahnen schreiben. Doch wenn er den ärmsten Ländern einen Teil ihrer Schulden erläßt, so darum, weil dann Raten und Zinsen der Restschuld um so sicherer einkassiert werden können. Niemals erreicht der verbleibende Schuldenberg ein Niveau, mit dem das Land wirtschaftlich auch nur ansatzweise zu Entwicklung fähig würde. Niemals werden solche Schuldenerleichterungen etwa von UNDP oder UNCTAD geprüft, die innerhalb der UNO für Entwicklungsfragen zuständig sind. Allein der Schuldendienst von Lateinamerika beträgt jährlich rund 25 Milliarden Dollar, die in Richtung Norden fließen.

Auch in Lateinamerika gibt es Reiche und Arme – der Unterschied zum Norden ist, daß die Armen noch zahlreicher und ärmer sind. In Sao Paulo bewegen sich die Superreichen nur noch im Hubschrauber, die Reichen in der gepanzerten Limousine. Privatmilizen und vier Meter hohe Mauern schützen ihre Anwesen. Im Bundesstaat Sao Paulo gibt es über 100.000 Strafgefangene, sie sind im Mittel 24 Jahre alt, etwa 80% sind Schwarze oder Mischlinge. Jean Ziegler besuchte aufs Geratewohl eines der 93 Polizeireviere – und seine schlimmsten Befürchtungen wurden übertroffen. Sechs Zellen waren für insgesamt 30 Häftlinge eingerichtet und hatten als einzige Ausstattung einen Abtritt und ein Rohr, aus dem manchmal etwas Wasser tropfte. In den Zellen befanden sich 173 Menschen, die sich selbst in drei Schichten einteilten, damit jeder der Reihe nach einige Stunden auf dem Beton schlafen konnte. Ein Teil von ihnen war nur in Untersuchungshaft oder bei einer der zahlreichen Razzien in den Elendsvierteln festgenommen worden, zwei hatten ihre Strafe schon seit Monaten abgesessen und waren schlichtweg vergessen worden.

Arroganz und Dilettantismus

Betrachten wir näher, warum die Globalisierung das Elend vervielfacht. Seitdem 1971 die Kategorie der „am wenigsten entwickelten Länder“ eingeführt wurde, ist nur ein Land aus dieser Gruppe ausgeschieden – Botsuana, das eine auf den Eigenbedarf konzentrierte Agrarpolitik verfolgt hatte. Andere Länder hatten dem IWF-Diktat zu folgen. Niger zum Beispiel ist so verschuldet, daß praktisch die gesamten Exporteinnahmen sofort wieder in den Schuldendienst fließen. Ministerpräsident Hama Amadou fragt Ziegler: „Wissen Sie, wie das ist? Jeder Abgesandte eines Staats, einer UNO-Behörde oder einer NGO stellt mir, bevor er sich auf das Sofa setzt, wo Sie jetzt sitzen, als Erstes die Frage: `Ist bei Ihnen mit dem IWF alles in Ordnung?“ Die IWF-Abgeordneten selbst wiederum behandeln die „Bittsteller“ der Dritten Welt oft mit kaum verhohlener Herablassung und verlangen vor einer Kreditvergabe den obligatorischen „letter of intent“, mit dem die Regierung sich zu den üblichen „Strukturanpassungsmaßnahmen“ einverstanden erklärt. – Als Amadou mit den Einnahmen aus dem Verkauf von Mobilfunklizenzen Schulen bauen will, hindert ihn der IWF-Abgesandte daran: Die Schuldzinsen haben Vorrang! Der IWF-Mann hat von Analphabeten nichts zu befürchten, doch die Kapitalvertreter können ihn durch ein einfaches Telefonat mit dem IWF-Generaldirektor jederzeit abberufen lassen...

Die IWF-Satrapen verfügten in arroganter Unkenntnis der Verhältnisse die Privatisierung des staatlichen Veterinäramtes. Daraufhin stiegen die Preise für Impfstoffe und Medikamente exorbitant, und dennoch führen die neuen privaten Händler oft nur billige abgelaufene Arzneien aus dem Norden ein und verkaufen sie mit neuen Etiketten. Die staatlichen Tierärzte wurden entlassen oder ihre Anreise ist kostenpflichtig. Die kleinen Viehzüchter können sich damit keine tierärztliche Bescheinigung mehr leisten, worauf die Händler kräftig die Preise drücken können. – Auch die staatliche Lebensmittelbehörde wurde abgeschafft. Tausende Dörfer werden nun nicht mehr mit Saatgut und Düngemitteln beliefert, in Notzeiten kommt kein Lastwagen mehr Getreide aus der internationalen Lebensmittelhilfe. Kein Fahrer eines Privatunternehmens geht das Risiko eines geplatzten Reifens oder Unfalls infolge einer Schlaglochpiste ein – da er sofort entlassen würde.

In Guinea machte Ziegler Bekanntschaft mit Mory Diané, einem der besten Viehzüchter des Landes, der sich regelmäßig über den Stand der Tiermedizin auf dem laufenden hält, viele Kunden und gute Beziehungen zur Hauptstadt hat. Doch selbst er weiß – aufgrund der gleichen Prozesse wie in Niger – nicht mehr, wie lange er den Rest seiner Herde noch am Leben erhalten kann.

In Mauretanien wurde das Gemeineigentum privatisiert, doch da die meisten Familien weder landwirtschaftliches Gerät hatten noch Geld, um solches zu kaufen, mußten sie den Grund und Boden verkaufen – an Geschäftsleute und ausländische Nahrungsmittelkonzerne. Zwar wird im Gegensatz zu früher nun ein Großteil des konsumierten Reis von einheimischen Agrar-Großbetrieben produziert, aber dieser ist fast doppelt so teuer wie jener Reis, den die Regierung früher aus Thailand importierte. Der IWF bestreitet dies nicht (und mit Sicherheit verhungern aus diesem Grund zahlreiche Kinder), weist aber darauf hin, daß die Regierung Devisen spart. Diese aber sind für nichts anderes bestimmt als für die Tilgung der Auslandsschulden bei westlichen Banken.

Die Mitarbeiter des IWF sind wahrscheinlich nicht einmal wesenhaft böse oder bewußt unmenschlich. Sie haben das Elend nie im Leben kennengelernt, sie sehen es nicht. Fast alle kommen von US-amerikanischen Universitäten. In der Regel wohnen sie danach in den eleganten Vororten Washingtons und beginnen eine Art symbiotisches Dasein mit den Beamten des US-Finanzministeriums, deren Ideologie sie in sich aufnehmen. Gemeinsam nehmen sie ihre Sonntagscocktails in irgendeinem Country Club, gemeinsam spielen sie Golf, treffen sich dann abends wieder zum Barbecue in einem der Clubs. Sind sie beruflich unterwegs, wohnen sie in Luxushotels, halten sich in jedem Schuldnerland nur einige Tage auf und treffen ausschließlich ausgewählte Führungspersonen – möglichst solche, die in den USA studiert haben. Ihr Arbeit findet am Laptop statt, auf dem ihre schematisierten Modellanalysen gespeichert sind.

Diese Menschen kennen selbst jenen Schmutz nicht, der sich zwei Schritte hinter ihren voll klimatisierten Büros anhäuft. Auch in Washington gibt es ausgeweidete Häuser mit leeren Fenstern, davor junge, drogenabhängige Schwarze mit leeren Augen... Das Gewissen der IWF-Mitarbeiter wird von keinem Zweifel getrübt. Es ist unerheblich, ob man sagt, die Ideologie mache blind oder die Blindheit mache anfällig für die Ideologie. Sie nehmen die Folgen ihres Tuns nicht wahr und werden an ihrer Ideologie festhalten.

Der Mächtigen und ihre Gegner

Der IWF und seine Mitarbeiter, die Politiker des Nordens und des Südens – gewollt oder gezwungen – sie alle dienen den mächtigen Beutejägern. Diese wiederum verschwenden a priori keinen Gedanken an das Elend in Brasilien oder Guinea, die Korruption in China, den Kampf der Frauen und der Jugend in Algerien, das Ringen der Menschen auch im Norden um die Aufrechterhaltung des öffentlichen Dienstes, die schleichende seelische Erkrankung von Arbeitslosen.

Und mitten in der „zivilisierten Welt“ geschieht Unfaßbares. Beim G7-Gipfel in Genua 2001 wird in der Nacht auf den 22. Juli auf Anordnung von Berlusconis Innenminister eine Schule, Zentrale des „Genua Sozialforum“ und Unterkunft vieler DemonstrantInnen, durch die Sonderpolizei gestürmt. Die Räume werden verwüstet, zahlreiche Menschen festgenommen, die meisten davon schwer mißhandelt. Ein junger Mann zitiert einen Polizisten: „Du bist ein französisches Stück Scheiße! Du hast Genua besudelt. Ich will, daß du leidest!“ Ein Mädchen bittet im Krankenhaus um Schmerz­mittel, worauf der Arzt zur Krankenschwester sagt: „Die da...wird nicht versorgt, bevor sie nicht doppelt sieht, sich erbricht und auf allen vieren kriecht!“ Viele Menschen mußten in den Polizeirevieren stundenlang an der Wand stehen und wurden auf ihre alten Wunden geschlagen, damit keine neuen Spuren entstanden. Oft wurde ihnen nicht einmal erlaubt, auf Toilette zu gehen...

Die Mächtigen fordern von den Globalisierungskritikern umfassende Entwürfe, wie denn die „andere Welt“ aussehen solle, die sie fordern. Doch sie beachten die konkreten Forderungen überhaupt nicht. Als 2002 rund 60.000 Menschen zum zweiten Weltsozialforum in Porto Alegre zusammenkamen, wurde detailliert formuliert, was zuallererst getan werden müßte: Abschaffung von IWF und WTO, Bekämpfung der Steuerparadiese, Einführung der Tobin-Steuer, staatliche Kontrolle von Unternehmensfusionen, Verbot von Patenten auf lebende Organismen und genmanipulierte Organismen, bedingungsloser Schuldenerlaß für die Länder der Dritten Welt, Gründung eines UNO-Sicherheitsrates für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten, Umsetzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte...

Wie in einer Miniatur zeigt sich die Abwehr gegen eine gerechtere Welt in der Geschichte des bitterarmen afrikanischen Staates Burkina Faso. Dort kam 1983 der junge Revolutionär Thomas Sankara mit drei Freunden an die Macht. Nach heftigen Regen­fällen und anschließender Dürre war das ganze Land von einer Katastrophe bedroht. Hilfslieferungen trafen kaum ein, da Sankaras Politik Frankreich mißfiel. Er verstaatlicht das Land und ließ es entsprechend den Bedürfnissen der Familien umverteilen. Die Agrarproduktion stieg innerhalb von vier Jahren drastisch, freiwerdende Mittel konnten für Straßenbau, kleine Bewässerungsdämme, Ausbildung und örtliches Handwerk eingesetzt werden. Die Hoffnung auf Würde und Gerechtigkeit strahlte auf ganz West- und Zentralafrika aus und erschütterte korrupte Regime wie die Elfenbeinküste, Gabun und Togo. Dann aber wurde auf Betreiben gewisser französischer Kreise Sankara ermordet – durch seinen ehemaligen Freund Compaoré, der heute Präsident ist.

Fußnoten


[1] im Spiegel Nr. 29/2001

 

[2] in Die Weltwoche vom 31.1.2002