12.10.2003

„...und hätten der Liebe nicht...“

Wie Paare wieder zueinander finden können

Die folgenden Gedanken schrieb ich nieder, als eine Freundin und ihr Mann sich in einer Beziehungskrise befanden. Ich wollte diese Gedanken eigentlich noch weiter entwickeln, sie blieben aber zunächst Fragment.


Was jeder jeweils erlebt, ist ein Faktum und real – wie subjektiv es auch immer sei und wie sehr es sich vom – ebenfalls subjektiven – Erleben des anderen unterscheidet. Man kann also nie sagen: „So war es aber nicht.“ – sondern nur: „Ich habe es aber nicht so gemeint“ oder „Ich habe es aber anders erlebt“. 

Wenn es uns darauf ankommt, unsere Beziehung zu retten, sollten wir es immer für möglich halten, daß der andere etwas völlig anders gemeint, daß er eine Situation völlig anders erlebt hat als wir. Und wir müssen die Bereitschaft aufbringen, sich auch in den anderen hineinzuversetzen und sein Erleben nach-zuerleben und vorher seine Worte ernst zu nehmen und darauf zu vertrauen, daß er dieselbe Situation tatsächlich so (anders) erlebt hat.

Wo kann man ansetzen, wenn man den Versuch wagt, die gemeinsame Beziehung zu retten?

Zunächst sei gesagt, daß mit Recht von „wagen“ gesprochen werden kann, selbst wenn beide die Beziehung retten wollen. Zuvor haben beide sich vielfach verletzt, und so ist das Vertrauen in den anderen nachhaltig erschüttert und untergraben. Die Wunden sind beiderseits offen und beide wissen zumeist auch sehr gut – ob bewußt oder unbewußt –, wo die wunden Punkte des anderen liegen und wie man ihn am besten verletzten kann, wenn es nötig ist, d.h. wenn er dasselbe mit mir gemacht hat...

Jeder Schritt nun, der dahin zielt, die Beziehung vielleicht zu retten, macht wiederum sehr verletzlich. Warum? Weil ein solcher Schritt bereits die Substanz der Liebe in sich trüge und weil Liebe reine Verletzbarkeit ist. Stellen wir uns vor, ein Schritt des guten Willens wird ausgeschlagen. Dies wäre ein erneute Verletzung – und eine, die tiefer dringt als die bisherigen, gegenseitigen Verletzungen, weil man sich in diesem Fall selbst vollkommen verletzlich gemacht hat, weil die normalen Verletzungen und Vorwürfe immer auch schon ein Selbstschutz gegen die des anderen beinhaltet hatten, da man dabei ja innerlich die „Klappen zugemacht“ und sich vom anderen distanziert hat. Ein Schritt, der dazu dienen könnte, die Beziehung zu retten, ist dagegen ein Schritt auf den anderen zu. Wird dieser abgelehnt, ist die Verletzung außerordentlich tief. Dabei spielt es keine Rolle, ob der andere diesen Schritt zurückgewiesen hat, weil er gar nicht anders konnte, weil er vielleicht noch zu sehr an seinen Verletzungen litt. Ich lebe ja  zunächst in meiner subjektiven Realität und erlebe daher meine Überwindung und gute Intention und auf der anderen Seite die Zurückweisung des anderen. Seine subjektive Realität, seine realen Gefühle, Nöte und Möglichkeiten zu erleben, bin ich zunächst nicht in der Lage.

Jedoch: Wenn man in sich den Wunsch erkennt oder den Willen erlebt, die Beziehung zu retten oder zumindest den Versuch zu unternehmen, muß man sich verletzlich machen. Wie gesagt besteht die Liebe aus reiner Verletzbarkeit. Es gehört also Mut dazu – in jedem Fall –, und zwar großer Mut. Wie groß dieser Mut sein muß, wird man im konkreten Fall erleben. Es ist viel einfacher, eine todkranke Beziehung sterben zu lassen, als sich auf den Weg ihrer Rettung zu machen. Und man wird immer wieder merken, wie schnell die alten Mechanismen greifen, die einen dazu bringen, in den Selbstschutz zu flüchten, selbst wenn man dies gar nicht wollte, gar nicht will.

Doch wenn wir gegen alle äußeren Zeichen den Mut und Willen aufbringen, die Beziehung retten zu wollen: Wo setzen wir an?

Es ist wohl notwendig, sich zunächst gemeinsam dieses beiderseitigen Willens zu versichern. Es wäre auch gut – wenn es jetzt schon gelingt –, sich einander zu sagen, daß man sich wahrscheinlich (oder mit Sicherheit) auch weiterhin verletzen wird, daß man aber versuchen will, mehr Verständnis für den anderen aufzubringen und Verletzungen zu vermeiden, wenn es einem möglich ist. Schon ein kleines Zeichen des guten Willens kann die ganzen Verhärtungen ein Stück weit aufbrechen, erste Risse in lange gewachsenen hohen Mauern ermöglichen.

Um nicht gleich alle Verletzungen auf den Tisch zu bringen, aber dennoch direkt in das Wesen der Sache vorzudringen, kann man nun eine Frage stellen, auf die beide gemeinsam hinblicken können, die eine erste gemeinsame Perspektive eröffnen kann. Diese Frage ist eine absolut objektive und hat zugleich absolut mit beiden beteiligten Menschen zu tun. Sie lautet:

Welches Ideal hast Du von einer Beziehung?

Die Antwort wird sehr individuell ausfallen, obwohl letztlich die Ideale von Menschen in bezug auf das Wesen einer Beziehung sehr ähnlich sein werden, wenn man das Wesentliche aus den konkreten Antworten herausarbeitet. Die Antwort wird zunächst sehr weitgehend ein Spiegel meiner eigenen Bedürfnisse sein.

Lebenswichtig (für die Beziehung und für den Versuch ihrer Rettung) ist es, daß diese Antworten wirklich nur von einem selbst ausgehen. Sie dürfen – wenn irgend möglich – nicht bereits wieder im Stile eines Vorwurfes formuliert sein (nach dem Motto: „Das ist mein Bedürfnis, aber das erfüllst Du ja sowieso nie“), auch nicht im Stil einer Forderung („hast Du verstanden?“ oder „Ich hoffe, Du hast gut zugehört...“). Dies muß gar nicht ausgesprochen worden sein, es kann ganz in einem deutlichen oder subtilen Tonfall verborgen sein. Wichtig wäre, diesen Stil als Stimmung in sich zu entdecken und es dann doch anders zu versuchen. Meist nimmt der Betroffene diesen Duktus in seinen eigenen Worten aber gar nicht wahr, dann kann nur der andere ihn darauf hinweisen – ebenfalls möglichst ohne Vorwurf! Alles was jetzt geschieht, ist ein Dienst an der Beziehung! Oder aber eine weitere – jetzt aber eben viel tiefere – Wunde!

Also – mein Ideal von Beziehung, beschrieben ohne Vorwurf, als wirkliches Ideal, als meine Bedürfnisse (bzw. diese gleichzeitig als Bedürfnisse des anderen, auf die ich bereit sein müßte einzugehen), beschrieben ohne den Stil einer Forderung. Es ist schwer, die eigenen Bedürfnisse ohne Vorwurf und Forderung (im Gefühl) zu formulieren – denn diese eigenen Bedürfnisse sind ja absolut essentiell und ich sehne mich ja zutiefst nach der Erfüllung dieser Bedürfnisse durch den anderen, die doch so oft verletzt wurden, und gerade auch daher will ich diese Beziehung ja retten.

Wie könnten konkrete Menschen dieses Ideal beschreiben?

- Erlebnisse teilen, miterleben, Verständnis
- gemeinsame Interessen, die eigenen Interessen wiederfinden
- Sprechen über Themen, die wesentlich sind - Rückmeldung
- Gemeinsame Grundeinstellung (z.B. in Erziehungsfragen)
- Zusammenhalten vor Dritten, Interessen/Bedürfnisse der Kernfamilie
- Unabhängigkeit des anderen, freie Entscheidung aus Liebe
- nicht nachtragend sein 

- Verständnis und Mitgefühl – für Bedürfnisse, Sichtweisen, Ängste, die eigene Gefühlslage
- Rücksicht, Hilfe, Feingefühl für Situationen
- Gemeinsames nur zu zweit tun
- Zärtlichkeit (statt Fernsehen). 

Was ist allen diesen Bedürfnissen gemeinsam? Wir nähern uns mit dieser Frage dem Wesen einer Beziehung. Es geht immer darum, etwas zu teilen, etwas gemeinsam zu haben und aufeinander einzugehen. Das „Teilen“ bezeichnet mehr äußerlich die Geste, die eine Beziehung ausmacht. Ich will mit dem anderen das Meinige teilen. Dieselbe Geste noch innerlicher betrachtet, ist das Aufeinander-Eingehen. Damit das Teilen wirklich ein Teilen ist, ist dieses Aufeinander-Eingehen nötig. Wenn ich mit dem anderen das Seinige teile, ist dies gegeben. Ich gehe auf den anderen ein, und der andere muß vorher auf mich zugehen und etwas mit mir teilen – und genauso umgekehrt. Damit ich mit dem anderen das Meinige teilen kann, muß auch er auf mich eingehen. Wenn man also mit einem Wort das Wesen von Beziehung beschreiben wollte, wäre es: Aufeinander-Eingehen. Durch dieses entsteht die Beziehung erst – und immer wieder neu.