16.10.2003

Die Wirklichkeit beginnt beim Erschüttertwerden

Von „objektiver“ Distanz und persönlichem Betroffensein – was ist „anthroposophische Durchdringung“?

Im Sommer hatte ich mit dem Redakteur Axel Mannigel eine sehr anregende Korrespondenz, die sich an einem von mir eingereichten Aufsatz zur Frage der EU-Osterweiterung entzündete. Herr Mannigel schrieb mir, daß er es schätze, wenn kritische und ambivalente Themen behandelt werden, doch seien in meinen Aufsätzen Fakten und Meinung oft kaum zu trennen. Auf der anderen Seite sei die anthroposophische Bearbeitung zu wenig sichtbar. Ich möchte im folgenden meine persönlichen Überlegungen darstellen.


Müssen Aufsätze im „Goetheanum“ anthroposophisch bearbeitet sein und was bedeutet das? Ich habe in der Vergangenheit einige Aufsätze zu wirtschaftlichen und politischen Fragen verfaßt. Manches Mal hatte ich das Gefühl, an „anthroposophischer Vertiefung“ kaum etwas beitragen zu können – zumal nichts, was über einige Aspekte der „Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben“ hinausgeht oder auch sonst nicht schon vor zwei, drei Ausgaben zu lesen war. Wiederholungen dieser Art aber lähmen das Willensleben und wiegen den Leser in der Illusion, tätig zu sein, weil er ja die Weltereignisse so tiefgreifend interpretieren kann und sich – zusammen mit dem Autor – auf einer höheren moralischen Warte „weiß“. Dies ist eine große Gefahr! Wozu immer wieder „anthroposophisches“ Gedankengut, das für die Leser weder Neuigkeitswert hat, noch wirkliche Impulse in sich trägt? Sobald Wirtschaft und Politik nach Rezept „anthroposophisch“ „vertieft“ werden, erblickt man die Totenmaske der Anthroposophie. 

Die Eigenaktivität des Lesers ist notwendig

Meiner Überzeugung nach ist es vollkommen mit der Anthroposophie vereinbar, gerade bei den Fragen der Wirtschaft und Politik auch öfter einmal das Schwergewicht auf reine „Fakten“ zu legen. Denn die erschreckenden Fakten sprechen selbst schon eine eindeutige Sprache. Ein Anthroposoph wird diese Sprache deutlich empfinden und die Fakten durch eigene Gedanken vertiefen, deren Richtung sich aus den Fakten selbst ergeben kann.

Ich verstehe das „Goetheanum“ unter anderem als Organ, das Anthroposophen zur Verfügung stellt, was in der Welt vorgeht – damit sie auch mit dieser Hilfe Zeitgenossen sein können. Meine Aufsätze habe ich geschrieben, weil ich meine, daß die dort eingearbeiteten Fakten wert sind, bekannt und bedacht zu werden. Meine eigene Überzeugung war mit diesen Aufsätzen untrennbar verbunden. Doch kam es mir darauf an, daß sich anhand der Fakten ganz individuelle Willensimpulse entzünden können. Das Tätigsein (das einen Zeitgenossen ausmacht) kann sich nur entzünden, wenn die Vertiefung der Fakten, das Hineinstellen in einen größeren spirituellen und moralischen Zusammenhang, auch immer wieder durch die eigene Person geleistet werden darf – bisweilen auch ausschließlich.

Die Frage, ob das „Goetheanum“ eine anthroposophische Wochenzeitung ist, entscheidet sich weniger daran, ob auch einmal „reine Fakten“ erscheinen, sondern eher am Gleichgewicht der Aufsätze überhaupt. Es sollten nicht in fast jeder Ausgabe wirtschaftspolitische Themen behandelt werden – ob mit oder ohne anthroposophische Vertiefung!

Doch noch einmal zur Frage: Was ist „anthroposophische Durchdringung“? Ich will in meinen Aufsätzen durch die „Fakten“ hindurch auch mein persönliches Beteiligtsein unmittelbar aussprechen. Auch das ist Anthroposophie – das Erleben individueller moralischer Impulse im anderen Menschen. In manchem Aufsatz, der „anthroposophisch vertieft“ sein will, bleibt der eigentliche Mensch – sowohl der Autor, als auch der Leser – auf der Strecke, weil man sich in bekannten Deutungsmustern bewegt, die nicht wirklich die eigenen sind. Beim Lesen habe ich dann das Erleben, nicht über den Kopf hinaus zu kommen (an „Gefühlen“ tritt höchstens der eingangs angedeutete subtile Hochmut auf).

Sollen Fakten und eigene Meinung getrennt werden?

Was bedeutet anthroposophische Durchdringung nun für die „Fakten“? Der Leser sollte herausfinden können, was Eigenes ist und was referiert wird. Doch geht dies zumindest so weit ineinander über, als es eben gerade darauf ankommt, sich mit gewissen Fakten, die man für wahr hält, zu verbinden, bzw. sich zu ihnen als ganzer Mensch in irgendeiner Weise zu stellen. Ich will ja Fakten, die ich zum Beispiel für erschütternd halte, gerade nicht referierend berichten, sondern mein eigenes Empfinden mit hereintragen. Und zwar nicht als Gefühl „aus dem Bauch“, sondern schon gedankendurchdrungen, das heißt mit dem ganzen Hintergrund des Dreigliederungsimpuls, des spirituellen Menschenbildes.

Wenn ich für einen Aufsatz die Essenz eines bestimmten Buches herauszuarbeiten versuche, dann gehe ich davon aus, daß die Fülle von Fakten, die ich dort finde, den Tatsachen entspricht.[1] Verfälsche ich nun die Wirklichkeit, wenn ich Angaben als wahr annehme und dem Leser „Fakten“ überreiche, die noch dazu mit meiner eigenen Betroffenheit verwoben sind? Sollte ich mich lieber verhalten wie jemand, der möglichst objektiv ein Bild beschreiben will: „In diesem Buch macht der Autor diese Angabe und interpretiert sie auf jene Weise...“?

Diese Frage ist außerordentlich interessant. Meine Meinung ist, daß eine reine Bildbeschreibung gar nichts mehr vom wirklichen Bild hat. Das Bild ist eine Realität, insofern es eine reale Wirkung auf den „Betrachter“ hat. Das vom Betrachter getrennte Bild hat keine Wirklichkeit. Zwar kann ich mich – und das ist ja das Ideal der heutigen „Wissenschaftlichkeit“ – von dem Objekt distanzieren und es dadurch zum „Objekt“ machen. Ich kann ganz distanziert beschreiben, was ich „sehe“ – doch aufgrund meiner eigenen inneren Haltung „sehe“ ich genau das, was mich nicht berührt, was ich durch Gedankenformen erfassen und beschreiben kann, die mich wesenhaft nicht beeinflussen. Die „wissenschaftliche“ Distanz läßt frei – das ist das Positive daran. Aber sie läßt gerade dadurch frei, daß sie die Verbindung zur Wirklichkeit durchtrennt hat.

In der Distanz kann der Mensch zu sich selbst und zur Freiheit finden – die Wirklichkeit um ihn herum aber findet er nur, wenn er sich (nun ichhaft, aber selbstlos) den Dingen wieder zuwenden und die Distanz am Ende aufgeben kann.

Wenn ich also Fakten „objektiv“ wiedergebe, dann ist das für den Leser keine Wirklichkeit. Selbst wenn ich noch das unmittelbare Erlebnis hatte und nicht selbst schon ein Buch über etwas gelesen habe, kann ich dem Leser durch eine „faktenmäßige“ Wiedergabe die Wirklichkeit nicht wieder-geben. Er steht nur noch vor begrifflichen Formulierungen, die die Wirklichkeit nicht mehr enthalten.

Zum Erleben der Wirklichkeit durchdringen

Um ein Skelett kann der Leser die Wirklichkeit nicht wieder herumschaffen. Anhand von „objektiv“ wiedergegebenen Zahlen und Fakten etwas wie die Globalisierung in ihrer heutigen Gestalt beschreiben zu wollen, ist eine Illusion – und in einem solchen Aufsatz wird der Leser der Globalisierung, die eine Wirklichkeit ist, nicht im Ansatz begegnen, obwohl er meinen kann, „informiert“ worden zu sein. In Wahrheit aber zieht eine jede solche „Information“ einen weiteren Schleier über die Wirklichkeit, weil man jene mit dieser gleichsetzt. Da helfen auch anschließende Interpretationen wenig, denn auch in diesen bleibt die Distanz erhalten, die von der Wirklichkeit trennt.

Rein gedanklich kommt man an Wirklichkeiten nicht heran. Das Eigentliche ist nicht, Fakten wiederzugeben, die Wahrscheinlichkeit ihrer Richtigkeit abzusichern und sie zu interpretieren, sondern an ihnen als für wahr genommenen Phänomenen etwas von der Wirklichkeit zu erleben. Diese Wirklichkeit beginnt erst beim Erschüttertwerden, beim persönlichen Betroffensein – das ist ein untrügliches Indiz, daß man an die Wirklichkeit herankommt.

Meine Aufgabe ist es doch nicht, hinter den von mir benutzten Autor zurückzugehen – zu untersuchen, woher er seine Quellen hat, diese wieder auseinander zu dividieren und darauf aufbauend eine (neue) Interpretation zu geben. Natürlich habe ich die Aufgabe, die Verläßlichkeit der von mir herangezogenen Angaben und Autoren teilweise nachzuprüfen. Aber dann empfinde ich es als meine Aufgabe, das was ein Autor erarbeitet hat, anderen Menschen zugänglich zu machen, und insbesondere das, was man mit Hilfe des von ihm Erarbeiteten erleben kann, anderen Menschen erlebbar zu machen.

Ist es authentisch, erst in aller Ruhe „Fakten“ aufzulisten, Quellen zu nennen, sorgfältig ihre Glaubwürdigkeit zu diskutieren und dann „im zweiten Teil“ endlich der Betroffene zu sein? Ich zumindest würde die Quellen unauffällig als Fußnoten angeben und im übrigen so schreiben, wie es der Realität entspricht: Was ich schreibe, habe ich zu meiner eigenen Wahrheit gemacht. Der Leser hat gegenüber meinem Aufsatz dieselbe Aufgabe, die ich gegenüber meinen Quellen habe: sich zu fragen, was Interpretation ist, was Tatsachen sind, woher die Fakten kommen. Aber – und das ist entscheidend – der Leser kann auch unmittelbar erleben, wie sich in mir die Wirklichkeit der Globalisierung wiederspiegelt – eine Wirklichkeit, die durch mein subjektives Erleben und meine Interpretation individuell gefärbt ist, aber eine Wirklichkeit.

Fußnoten


[1] Natürlich sollte man durch weitere Quellen die Glaubwürdigkeit eines Buches zusätzlich absichern. Andererseits müßte eine Klarstellung, auf welcher Quelle die Fakten eines Aufsatzes beruhen, den Leser in die Lage versetzen, diese Fakten mit dem nötigen Vorbehalt zu betrachten und zu wissen, daß die eine oder andere Angabe falsch sein könnte. Doch sind die Fakten wiederum nur eine Illustration für übergeordnete Wirklichkeiten, die sich vor dem inneren Auge des Lesers entfalten können, selbst wenn der Buchautor den einen oder anderen Sachverhalt nicht genau richtig recherchiert haben sollte.