05.11.2003

Die Bedeutung der Waldorfschulbewegung für die Zivilgesellschaft

Waldorfschulen gab es lange, bevor der Begriff der Zivilgesellschaft das erste Mal ausgesprochen wurde. Und doch sind Waldorfschulen ein Paradebeispiel für zivilgesellschaftliche Institutionen. Eine sich recht verstehende Zivilgesellschaft erschöpft sich nicht in der Opposition zum Bestehenden, sondern schafft aus sich heraus neue, kulturerneuernde Einrichtungen. Waldorfschulen sind solche Einrichtungen - es sind lebendige Beispiele für das Ringen des Geisteslebens um die notwendige Freiheit von staatlichen Reglementierungen und für das Ringen um die menschliche Individualität überhaupt.


Rudolf Steiner sagte: „Ursprung und Ziel der Freien Waldorfschule ist die soziale Erneuerung.“

Als die erste Waldorfschule am 7.9.1919 ihre Türen öffnete, sagte Steiner in seiner Eröffnungsansprache:
„Und man kann überzeugt sein, daß nur diejenigen den Ruf nach sozialer Neugestaltung richtig hören in dem verwirrenden Chaos von Forderungen der Gegenwart, die seine Wirkung bis in die Erziehungsfragen hinein verfolgen... Soll die Menschheit künftig sozial gerecht leben können, dann wird sie zunächst sozial richtig ihre Kinder erziehen müssen. Daß das der Fall sein könne, dazu möchten wir ein Kleines beitragen durch die Waldorfschule.“

Der Kampf um die Individualität

Der Impuls der Waldorfpädagogik begegnet der sozialen Frage da, wo ihr zuallererst begegnet werden muß: In der Erziehung. Dabei geht es nicht darum, die Kinder zu besseren Menschen zu erziehen, sondern den Kindern ihre ureigene Entwicklung zu ermöglichen. Dies ist der revolutionäre Aspekt der Waldorfpädagogik: Ihr erstes Ziel ist es, jedes einzelne Menschenkind Individuum werden und sein zu lassen.

Die heutigen Tendenzen der Globalisierung missachten dieses Individuum in jeder Hinsicht. Heute werden überall „Arbeitskräfte“ freigesetzt, das Ziel ist der Profit auf Kosten anderer, für die man sich nicht verantwortlich fühlt und die man nicht kennt. Die Wirtschaft fordert willige Konsumenten und willige Arbeitskräfte, die Werbung suggeriert einheitliche Schönheitsideale und Trends. Der Beamtenstaat fordert funktionierende Staatsbürger. Der Einzelne hat oftmals kaum Toleranz gegenüber Menschen, die anders sind als er selbst. Das Individuum ist in einer solchen Welt nicht erwünscht, ja - eine Gefahr.

Die Waldorfschule dagegen hat die Aufgabe, die Entfaltung der in jedem einzelnen jungen Menschen veranlagten Fähigkeiten zu fördern. Dahinter steht die Erkenntnis, dass die Kinder diese Fähigkeiten bereits mitbringen.

In bezug auf die gegenwärtige Zivilisation gab sich Rudolf Steiner keinen Illusionen hin und konstatierte klar, dass sie mit ihrem Phrasentum, mit ihren lebensfremden, an den Zeitforderungen vorbeigehenden Einrichtungen in Wirklichkeit bereits untergegangen sei. Auf einem Elternabend im Juni 1920 sagte er zu den Eltern:

"Herb und scharf ist das, was wir zu vertreten haben; aber diese Herbheit wird uns die Kraft geben, hier von der Freien Waldorfschule aus der niedergehenden Zeit ein Flammenzeichen auf die Stirne zu schreiben. Sie möge, während sie dahinlebt im Phrasentum, die Kraft finden, einen kräftigen Tod zu sterben, dass darauf fallen möge die Sonne des kommenden Tages."

Zugleich konnte er darauf hinweisen, dass das Neue stetig heraufdrängt. Es sind die Kinder, die die Impulse für das Neue, für die soziale und kulturelle Erneuerung mitbringen. Darum ist die Waldorfpädagogik nicht mit irgendeiner „Reformpädagogik“ gleichzusetzen. Die Waldorfschule ist eigentlich die praktische Antwort auf die Frage: Wie können die Kinder die Erzieher erziehen?

In den Waldorfschulen sollten keine Noten erzieherisch wirken, kein Zwang, keine Forderungen des Staates sollten hineinragen. Der Waldorflehrer übernimmt die Aufgabe, sich mit den Impulsen der Kinder zu konfrontieren und als Geburtshelfer für die ihm anvertrauten Individualitäten und ihre Impulse zu wirken. Das ist Erziehungskunst! Dazu aber muß der Erzieher selbst ein Individuum sein. In der Waldorfschule kapitulieren äußere Zwangsmittel oder Vorschriften – und der Pädagoge hat die Wahl, den jungen Menschen mit seiner ganzen Persönlichkeit zu begegnen oder seinem Auftrag nicht gerecht zu werden.

„Ursprung und Ziel der Freien Waldorfschule ist die soziale Erneuerung.“ - Unsere Zeit stellt immer unüberhörbarer die Frage: Bauen wir unsere Zivilisation auf der Individualität des Menschen auf oder fördern wir deren Vernichtung?

Der Kampf um die Selbstbestimmung

Nicht nur der Pädagoge braucht den absoluten Freiraum für seine Aufgabe – das gesamte Geistesleben kann nur lebendig bleiben, wenn es nicht vom Staat reglementiert wird.

Ein konstituierender Grundsatz der Waldorfschulen ist die Selbstverwaltung – heute ist dies überall in der Zivilgesellschaft eine Grundforderung. Die Waldorfschule selbst sollte eine Vorkämpferin für ein wahrhaft freies Geistesleben sein. Rudolf Steiner wies darauf hin, dass auch eine „selbstverwaltete“ Waldorfschule in einer Gesellschaft, in der weiterhin der Staat mit verschiedenen Mitteln das Geistesleben kontrolliert, nicht dauerhaft überleben könne.

Die Waldorfbewegung müsste und könnte gerade heute viel ernsthafter und mutiger versuchen, die Unfreiheit des Bildungswesens immer wieder konkret und demonstrativ herauszuarbeiten. Damit wären die dem Freiheitsimpuls feindlichen Kräfte gezwungen, sich zu ihren Positionen und Absichten zu bekennen und die „Öffentlichkeit“ könnte in bezug auf die damit verbundenen Fragen das notwendige Bewusstsein gewinnen.

Aufgabe des Staates hätte es lediglich zu sein, das aus dem Menschsein entspringende Recht auf Ausbildung sicherzustellen, indem die Entstehung und der Betrieb von Schulen unterstützt wird (etwa über einen "Bildungsgutschein").

Heute aber fördert der Staat „seine“ Schulen weit mehr als die Waldorfschulen – in vielen Ländern gar erhalten die Waldorfschulen keinerlei staatliche Unterstützung. Zudem nimmt der Staat über seine Förderung auch Einfluß auf die Waldorflehrerseminare. Er erzwingt Zugangsvoraussetzungen wie das Abitur – und entscheidet so selbst, wer Waldorflehrer werden darf.

Rudolf Steiner sagte: „Wer diese Dinge überschaut, für den wird die Begründung einer Menschengemeinschaft, welche die Freiheit und Selbstverwaltung des Erziehungs- und Schulwesens energisch erstrebt, zu einer der wichtigsten Zeitforderungen. Alle anderen notwendigen Zeitforderungen werden ihre Befriedigung nicht finden, wenn auf diesem Gebiet das Rechte nicht eingesehen wird.“

Im Gründungsjahr der Waldorfschule, 1919, erlebte auch die von Steiner ins Leben gerufene Bewegung für soziale Dreigliederung einen Höhepunkt ihrer Tätigkeit. Die Waldorfschule sollte ein praktisches Beispiel für das werden, was auch in der übrigen Gesellschaft allmählich Platz greifen müsste, wenn eine soziale Erneuerung erreicht werden sollte. Vor dem Hintergrund des Dreigliederungsimpulses und der notwendigen Trennung von Geistes-, Rechts- und Wirtschaftsleben – und deren Beschränkung auf ihr je eigenes Gebiet – ist etwa „staatliche Bildungspolitik“ ein reines Unwort.

Rudolf Steiner gab deutliche Hinweise, wie denn der Einfluß des Staates – der nicht zuletzt über den finanziellen Hebel durchgesetzt wird – verhindert werden könnte. Er regte die Bildung eines „Weltschulvereins“ an. Dieser könne „alle (!) Kultureinrichtungen finanzieren, wenn er in der richtigen Weise verstanden wird."(16.10.1920). Während die staatlichen Steuern gewissermaßen Zwangsschenkungen der Steuerzahler sind und dem Staat Einfluß auf das Geistesleben verschaffen, müsste dieses durch freie Spenden aller Mitglieder des sozialen Organismus finanziert werden. „Es geht ja heute durch die Lande der Ruf: Unentgeltlichkeit des Schulwesens. Ja, was soll denn das überhaupt heissen? Es könnte doch nur der Ruf durch die Lande gehen: Wie sozialisiert man, damit ein jeder die Möglichkeit hat, seinen gerechten Beitrag zum Schulwesen zu schaffen?“ (1.6.1919).

In diesem Sinne würden zu den Garanten eines freien Schulwesens zum Beispiel auch Mitglieder der Wirtschaftssphäre gehören. Unternehmer und Unternehmen, die nicht den reinen Weg der Profitmaximierung verfolgen, wären eigentlich ein wesentlicher Partner eines freien Schulwesens, zumal die Wirtschaftssphäre heute oftmals längst ganz andere Fähigkeiten sucht als das in den meisten Staatsschulen und Universitäten gelehrte fertige Wissen.

Eine Zivilgesellschaft, die Neues umsetzen will, kommt an neuen Kooperationen auch innerhalb der Wirtschaftssphäre nicht vorbei. Sobald sich aber in gesunder Weise neuartige Assoziationen dieser Art bilden, kann das Geistesleben von der unzulässigen staatlichen Einflussnahme befreit werden – und damit seine kulturerneuernden Impulse erst wirklich entfalten. Die Waldorfschulen aber waren auch in dieser Hinsicht einst als Vorreiter einer Zivilgesellschaft gedacht, deren Namen es damals noch gar nicht gab. 85 Jahre lang sind die Waldorfschulen bereits Orte, an denen das Geistesleben sich äußeren Einflüssen mehr oder weniger weitgehend entzieht, um dem Menschen zu dienen. Heute können sich die Waldorfbewegung und andere Strömungen der Zivilgesellschaft zusammenzutun, um gemeinsam für ein wirklich freies, selbstbestimmtes Geistesleben einzutreten.