11.11.2003

„Wo sind denn die Menschen gleich?“

Diese Gedanken entstanden im Zusammenhang mit der Situation in der Gemeinde Berlin-Wilmersdorf der Christengemeinschaft.


Es ist von der Zeit her notwendig, daß eine Gemeinde ihr Schicksal, ihre Biographie gemeinsam gestaltet – so zum Beispiel die Vorträge, die Frage, wie oft ein Gesprächsabend stattfindet und über was gemeinsam gesprochen werden soll. Aber auch: wie man die verfügbaren Geldmittel verwenden soll. 

Oft wird unterschwellig oder ganz direkt darauf verwiesen, daß diejenigen entscheiden sollten, die die entsprechenden Fähigkeiten und Verantwortung haben. Um dies zu untermauern wird in Vorträgen dann vielleicht die Frage gestellt: „Wo sind denn die Menschen gleich?“.

Ja – wo sind die Menschen gleich? In ihren mitgebrachten Begabungen und im Laufe des Lebens erworbenen Fähigkeiten sicher nicht – eben deshalb nicht, weil jede Einzelne ein unver-gleich-bares Individuum ist. Aber gerade in ihrem Individuum-Sein sind die Menschen gleich – im tiefsten Ringen nach Fähigkeiten, in ihrem Bedürfnis, ernst genommen zu werden, umfassend gesprochen: darin, geistige Wesen zu sein.

Dürfen oder sollten nun nur die Fähigsten gestalten und etwas tun und entscheiden? Diese Anschauung kommt 5000 Jahre zu spät. Zur Zeit der Pharaonen war es so. Im positiven Sinne: Zur Zeit der Priesterkönige. Da gab es im umfassenden Sinne Menschheitsführer, die auch mit Recht an Stellen standen, wo sie die Menschen führen konnten, durften und mußten. Menschheitsführer, weil die Menschheit noch unmündig und unfähig war wie ein Kind, weil die Menschheit noch nicht aus Menschen – d.h.: Individuen – bestand.

Heute darf es in diesem Sinne keine Menschheitsführer mehr geben, denn solche Führer (!) würden dem Ziel unseres Zeitalters entgegenarbeiten: daß die Menschen Individuen werden.

Ja, die Menschen sind verschieden, aber – alle haben gleiche Rechte. Die Gleichheit ist gerade das Prinzip der Sphäre des Rechtslebens. Gleiche Rechte, ernstgenommen zu werden, gleiche Rechte mitzugestalten, gleiche Rechte, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen oder zu entwickeln (daß der eine den anderen darin sogar unterstützt, wäre brüderlich).

Heute kann es nicht mehr um Befehle oder Weisungen gehen – seien sie auch noch so verbrämt als „weise Entschlüsse“ irgendeiner Führung, selbst wenn sie sich „geistig“ nennt. Sondern es geht um ein gemeinsames Gestalten – mit dem hohen Ideal der Einmütigkeit. Dies jedoch nicht als eine entmündigende Feststellung der Mächtigen – „wir sind uns doch alle einig“ –, sondern als mögliches Ziel und ausgehend von der absoluten Vielfalt aller Einzelnen innerhalb der Gemeinschaft.

Wo sind denn die Menschen gleich – ja, sie sind ungleich. Manche sind Pfarrer, die meisten sind nur „gewöhnliche“ Gemeindemitglieder. Und nur die Pfarrer entscheiden, wer z.B. in den Gemeinderat darf, und nur der Gemeinderat entscheidet dann alle wichtigen Fragen der Gemeinde; aber eigentlich entscheiden auch hier nur die Pfarrer, wie im letzten Jahr zugegeben wurde.

Ich frage mich wirklich: Wenn aus der Gemeinde z.B. Impulse kommen, auch einmal Vorträge zu halten, mehr Gespräche zu haben – oder anderes –, wie kann es dann sein, daß die Pfarrer sich hinstellen und das Ganze abblocken, versanden lassen, totschweigen, oder wenn das alles nicht geht, dennoch darauf zu beharren, daß sie entscheiden, was geschieht? Sind sie sich im klaren darüber, daß hier den Forderungen der Gegenwart entgegengearbeitet wird? Daß sie hierbei verträumen, daß sie einen Absolutismus aufrechterhalten? Wollen sie gewissermaßen ein „Pharaonentum light“?

Was wäre das Christliche? Die Impulse meines Bruders – und d.h. aller Menschen – ernst zu nehmen und ihnen Raum zu geben. Außerdem zu erleben, wo diese Impulse Bedürfnissen auch anderer Menschen entgegen kommen. Das Christliche wäre, vom Thron des (immer luziferischen) Amtes herunterzusteigen – nicht die Macht der Entscheidung zu beanspruchen, nicht das Vor-Recht zu beanspruchen, sondern ein zeitgemäßes Rechts-Emp­finden auszubilden. Das unzeitgemäße Vorrechts“bewußtsein“ ist ja immer sehr gut ausgebildet – besser gesagt, die Illusion, auch im Zeitalter der Bewußtseinsseele stünde einem – womöglich noch von Amts wegen – irgendein Vorrecht zu, an irgendeiner einsamen Spitze Entscheidungen zu treffen. Das ist ja dann mit so schönen Illusionen verbunden wie: man hat ja auch die gesamte Verantwortung, ich trage die gesamte Last des Gemeindeschicksals. Welch ein Hochmut! Welche Tragik, dies wirklich zu glauben und sich angegriffen zu fühlen, wenn die Forderungen der Gegenwart einen einholen.

Vorrechte von Amts wegen? Wenn wir endgültig zur Amtskirche erstarren wollen – bitte. Wenn wieder eine Institution das Ende der Wege des Menschen sein soll – bitte. Nur sollte man dann nicht mehr von Erneuerung sprechen. Es sei denn, von einer Erneuerung des Pharaonentums, denn nur philosophische Verbrämungen können darüber hinwegtäuschen, daß wir in der Praxis kaum etwas anderes haben als eine neue katholische Kirche.

Da gibt es das Argument, die Vorträge dienten auch der Seelsorge, daher seien sie Sache der Pfarrer. Was liegt in einer solchen Argumentation vor? Da haben wir zunächst die Aufgabe der Pfarrer zur Seelsorge? Und was wird nun aus dieser Aufgabe gemacht? Ein Argument, wiederum eine Art Vor-Recht zu beanspruchen! Aus der innerlichen, moralischen Pflicht zur Seelsorge wird das alleinige Recht zur Seelsorge. Aus der Aufgabe der Seelsorge wird abgeleitet das beanspruchte Vorrecht auf die Vorträge. – Der Alleinvertretungsanspruch der katholischen Kirche und die selbstherrliche, als selbstverständlich an(sich)genommene Macht von Pharaonen, Päpsten und Klerikern lassen grüßen.

Und niemandem kommt der Gedanke, ob es nicht die dringendste Seelsorge wäre, den Impulsen des Einzelnen die Freiheit zu lassen. Ob nicht auch andere Menschen mit ihren Gedanken (und Vorträgen) Seelsorge betreiben könnten. Ob nicht die seelsorgerische Aufgabe der Gegenwart – ja eine jede Seelsorge noch weit übergreifende Aufgabe – die ist, die Menschen zur Eigenaktivität anzuregen, Wege zu eröffnen und sich einander darin zu unterstützen. Nicht, indem man weise in eigenen Vorträgen betont, wie wichtig Eigenaktivität ist, sondern indem man für diese Aktivität, für möglicherweise schon längst vorhandene Impulse des anderen, Raum gibt. (Wenn die Pfarrer die Vorträge schon als ihr Vor-Recht betrachten, sollten sie wenigstens ernst nehmen, wie Herr Sondermann „christliches Recht“ charakterisierte: als Zurücktreten von eigenen Ansprüchen).

Wenn sich aber die Bewegung für religiöse Erneuerung schwerpunktmäßig als seelsorgerisch begreift, wird sie die Forderungen der Gegenwart, wird sie den Ruf Michaels wohl weiter überhören. Die Bewegung für religiöse Erneuerung hat abgesehen vom Kultus wahrlich mehr Aufgaben als nur Seelsorge und Verkündigung, erst recht, wenn diese nur als Aufgaben oder gar Vorrechte der Pfarrer verstanden werden.

Die Christengemeinschaft will eine Bewegung sein, in der die Mitglieder gemeinsam um Erkenntnisfragen ringen, in der die Mitglieder um eine Vertiefung des religiösen Lebens – auch im Alltag – ringen, und deren Mitglieder die ernsten und wichtigen Fragen ihrer Zeit bewegen. Wenn Michaels Hand deutet: Folge mir, dann meint das nicht: Folge mir in die Kirche. Sondern es ist die Frage: Wie stehst Du in der (apokalyptischen) Gegenwart? Bist Du Zeitgenosse? Oder bist Du wie die meisten anderen in weiten Teilen ein Opfer des Zeit-Ungeistes, der illusionären, träumerischen Bürgerlichkeit, die sich schon kämpferisch dünkt, wenn sie innerlich oder äußerlich auf die Politiker schimpft?

Unsere Zeit stellt Fragen, Michael stellt Fragen, die wir kaum alleine beantworten können – und auch nur vielleicht gemeinsam. Aber das wäre zumindest die große Aufgabe!