14.12.2003

Moderne Sklaverei und ihre Grundlagen

Vom internationalen Mädchenhandel und der Perspektivlosigkeit der Opfer

Nicht im „Goetheanum“ veröffentlicht, weil zeitgleich eine Filmbesprechung und ein thematischer Artikel erschienen.


In der Adventszeit kam der Film „Lilja 4-ever“ in die deutschen Kinos, der eines der schlimmsten Verbrechen unserer Zeit thematisiert – den Mädchenhandel. Die 16-jährige Lilja wächst „irgendwo in der ehemaligen Sowjetunion“ auf. Es handelt sich um eine namenlose Vorstadt aus trostlosen Plattenbauten – ohne Zukunft für die dort lebenden Menschen. Liljas Mutter geht mit einem reichen Russen in die USA und läßt ihre Tochter weinend in einer Schlammpfütze zurück. Eine Tante zwingt sie dazu, in eine völlig heruntergekommene Wohnung umzuziehen, in der bald sogar der Strom abgestellt wird. Sie empfiehlt ihr, in die Stadt zu fahren und „die Beine breit zu machen“. Bald bleibt Lilja tatsächlich nichts anderes übrig... Die völlige Ausweglosigkeit teilt sie mit Millionen anderer Mädchen und Frauen. Haben sie noch Familie, so hat diese meist insgesamt keine Perspektive, und in zahllosen Fällen werden Kinder von ihren eigenen Eltern verkauft. 

Lilja lernt einen jungen Mann kennen, der sich liebevoll um sie zu kümmern scheint. Er sagt, er arbeite in Schweden und voller Freude nimmt Lilja seinen Vorschlag an, mit ihm zusammen dort zu leben. Kurz vor der Abreise behauptet er, seine Großmutter sei erkrankt, und läßt Lilja alleine fliegen. Sein angeblicher Chef nimmt sie auf dem schwedischen Flughafen in Empfang, fährt sie zu ihrer neuen Wohnung – und sperrt sie dort ein. Am nächsten Morgen vergewaltigt er sie und zwingt sie mit Drohungen und Gewalt, ihren Körper den täglich wechselnden Kunden zur Verfügung zu stellen.

In Träumen begegnet ihr der einzige Freund, den sie in ihrer Heimat hatte. Es ist der zwei, drei Jahre jüngere Wolodja, der ebenfalls von seiner Familie verstoßen wurde. Nach Liljas Abreise hat er sich mit Tabletten das Leben genommen, und nun hat er Engelsflügel. Im letzten Traum bringt Wolodja ihr ein Geschenk mit – ihr Zuhälter hat vergessen, die Tür abzuschließen. Dies erweist sich als richtig: Lilja ist zum ersten Mal frei in Schweden. Doch sie hat niemanden und ist außerdem illegal eingereist. So rennt sie ziellos durch die Straßen, bis sie an eine Autobahnbrücke kommt. Hier nimmt auch sie sich das Leben. – Während die Notärzte vergeblich um ihr Leben kämpfen, ist sie wieder mit Wolodja vereint. Beide haben nun Engelsflügel und spielen auf einem Häuserdach glücklich mit dem Basketball, den Lilja ihm von ihrem ersten Geld gekauft hatte.

Jedes Schicksal ist eine Frage

Lilja gibt dem Verbrechen des Mädchenhandels ein Gesicht, und der Film zeigt den tragischen Verlauf eines einzigen Mädchenschicksals.[1] Der junge schwedische Regisseur Lukas Moodysson sagte in einem Interview: „Ich habe den ganzen Film nie geplant – plötzlich wußte ich einfach, daß ich ihn machen muß.“[2] – Für den Zuschauer bleibt es nach dem Film nicht bei der Erkenntnis, sondern diese ist bis tief in die Gefühlsebene gedrungen, daß jedes einzelne dieser Schicksale eines zu viel ist – und daß jedes dieser Schicksale eine Frage an jeden von uns ist.

Es ist ein Irrtum, daß es Sklaverei in unserer Zeit oder zumindest hierzulande nicht mehr gebe. Allein in Deutschland wurden im Jahr 2000 rund 1.200 Mädchen und Frauen als Opfer von Menschenhandel erfaßt – über die Hälfte waren unter 21, rund 60% kamen aus nur vier Ländern: Ukraine, Polen, Rußland und Litauen. Tatsächlich werden nach Schätzungen aber nicht Tausende, sondern jährlich 500.000 Mädchen und Frauen in die EU-Länder geschleust, und die Gewinne im Frauenhandel werden allein in Europa auf rund 10 Milliarden Euro jährlich geschätzt.[3]

Noch in ihrer schwedischen Gefangenschaft betet Lilja in einer Szene vor ihrem mitgebrachten Schutzengel-Bild das Vaterunser. Doch als sie fertig ist, schleudert sie das Bild in die Ecke, und es zerbricht. – Die Gottheit vollbringt keine Wunder mehr, die Menschheit ist in die Freiheit entlassen. Der Mensch ist des Menschen Wolf, sagte schon Plautus. Rudolf Steiner wußte, daß das Böse in unserer Zeit seinen Höhepunkt erreicht.

Das Böse und seine Strukturen

Das Böse durchdringt sowohl den einzelnen Menschen – den gewissen- und gefühllosen Menschenhändler und Zuhälter, den korrupten Beamten, der das Verbrechen deckt, den von seiner Lust getriebenen „Freier“ –, als auch die Strukturen unserer Gesellschaft und Wirtschaft. Dieses strukturell Böse ist fast mit Händen zu greifen, wenn ein „Händler“ durch den Verkauf eines moldawischen Mädchens in den Westen 3000 Euro verdient und eine moldawische Lehrerin für diese Summe 15 Jahre arbeiten muß – wenn sie ihren Lohn immer bekäme. Auch Polizisten bekommen in Osteuropa oft monatelang keinen oder verspäteten Lohn – und spätestens dann beteiligen sich viele am Drogengeschäft, am Organhandel, am Mädchenschmuggel...

Im Westen wiederum werden die Mädchen und Frauen nochmals zum Opfer gemacht, indem sie kriminalisiert werden. Bis vor kurzem gab es in der Regel kaum irgendeine Hilfe, sondern es drohte die unmittelbare Abschiebung, so daß Zeugenaussagen gegen die Hintermänner gar nicht möglich waren. Selbst jetzt, wo es verschiedene Regelungen zur vorläufigen „Duldung“ der Opfer gibt, werden die wirklichen Schuldigen kaum erreicht. Viele Frauen sind eingeschüchtert oder wissen sogar, dass sie oder ihre Familien in ihrer Heimat den Menschenhändlern und ihren Komplizen schutzlos ausgeliefert sind.

Die Hauptursache für Menschenhandel aller Art ist im Grunde immer die Armut. Und in diesem Sinne sind wir alle mitschuldig. Allein durch die Asienkrise 1998 – ausgelöst durch Devisenspekulanten! – wurden im fernen Osten weitere 20 Millionen Menschen unter die Armutsgrenze gezwungen. Die Menschheit wird durch wachsendes menschliches Elend und zunehmendes Verbrechen immer stärker zur Brüderlichkeit gemahnt werden – und staatliche Strukturen werden zugleich immer mehr zur reinen Abwehr tendieren. Westliche Firmen werden weiterhin ihre Konkurrenten im Osten aufkaufen, die Gewinne aus dem Land ziehen und Osteuropa zur „verlängerten Werkbank“ der EU werden lassen.[4]

Die großteils marode Wirtschaft und die Korruption in Osteuropa sind nur zwei Faktoren des Elends. Dazu kommt die auf maximalem Profit basierende Weltwirtschaft, in der die reichen Länder uneinholbar die besseren Ausgangsbedingungen haben. Dies alles bildet ein Wirkungsgefüge, in dem sich Reich und Arm immer mehr sondern werden. Der Einzelne kann daran nur im Kleinen etwas ändern – vor allem als Konsument kann jeder zumindest „Tropfen auf heiße Steine“ geben. Viele Zusammenhänge aber werden gar nicht erkannt, und so unterstützt fast jeder auf die eine oder andere Art auch immer wieder die Strukturen des Bösen. Und es werden noch viele „Liljas“ verkauft und gekauft, mißbraucht und in ihrem Menschsein verachtet werden.

Diese Mädchenschicksale könnten nur verhindert werden, wenn sich  vieles  ändert. Zu manchen Zeiten hat sich das Menschheitsgewissen geregt. Die Menschenrechte wurden formuliert, Kriege wurden geächtet, heute entsteht eine globalisierungskritische Bewegung. Immer wieder aber wird den Regungen des menschheitlichen Gewissens die Spitze gebrochen, es wird hintergangen, alte Wege werden erneut beschritten. Dauerhafte Änderungen könnten sich jedoch langsam und Schritt für Schritt ereignen, wenn Alternativen in größerem Maßstab vorgelebt werden: Regionalwährungen oder etwa die Sekem-Initiative des alternativen Nobelpreisträgers Abouleish machen einen Anfang.

Fußnoten


[1] Ein ebenso erschütternder, realer Tatsachenbericht findet sich unter http://www.solwodi.de/219.0.html

 

[2] www.skip.at/AT/filme/interviews/interview.php?intnr=246

 

[3] Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (www.fes.der/fulltext/id/00565006) verdient nach Kalkulationen von Interpol ein Zuhälter an jeder Prostituierten jährlich rund 100.000 Euro.

 

[4] Vgl. Hans Hofbauer (2003): Osterweiterung. – Verlag Promedia.