03.01.2004

Über das „Hausrecht“ und das Wesen Christengemeinschaft

Diese Gedanken entstanden im Zusammenhang mit der Situation in der Gemeinde Berlin-Wilmersdorf der Christengemeinschaft.


Fast jedes Unternehmen hat Chefs und Vorgesetzte, die die wesentlichen Entscheidungen treffen und die Richtung vorgeben. Sind in der Christengemeinschaft die Pfarrer die Chefs? Oder ist nicht gerade hier dieses hierarchische Prinzip zu überwinden? Sagt dies nicht schon der Name: Christengemeinschaft? – Im alten Ägypten führten Priesterkönige die Masse des Volkes nach weisen Inspirationen, bis das Pharaonentum in der Dekadenz versank. Seit Jahrhunderten ist es nun die Aufgabe der Menschheit, das individuelle Ich zu entwickeln. Doch nur langsam verabschiedet sich das Prinzip, nach dem wenige für alle entscheiden und bestimmen. Zeitgemäß ist es nicht mehr, es sei denn, der Chef erklärt die übrigen für unmündig bzw. nicht entscheidungsbefugt. Hat er sein Unternehmen selbst aufgebaut, darf er dies natürlich tun – und die übrigen können sich überlegen, ob sie in einem solchen sozialen Gebilde tätig sein wollen. 

Wo aber eine Unternehmung von allen gemeinsam getragen wird, sind auch alle gemeinsam entscheidungsbefugt. Dieses Recht zur Entscheidung können sie auf bestimmte Menschen übertragen (Delegation von Aufgaben/-bereichen) und es ihnen auch wieder entziehen. Grundsätzlich aber ist in einer Gemeinschaft, die sich sogar selbst so bezeichnet, jeder Einzelne ein Gleicher unter Gleichen.

Was bedeutet dies für die Christengemeinschaft? Die Antwort muß berücksichtigen, daß sich hier drei Bereiche durchdringen: der kultische (priesterliche Aufgabe), der Pflichtenbereich der Pfarrer und das Gemeindeleben im eigentlichen Sinne. Der vor dem Altar handelnde Priester hat seine Aufgabe durch die Weihe vom Siebenerkreis und durch diesen von der geistigen Welt übertragen bekommen. Auch die Aufgabenfelder als Pfarrer – Seelsorge, Verkündigung – bringen diese Geweihten mit und gestalten sie selbständig. Hier ist die Gemeinde aber bereits insofern entscheidend, als etwa die Gestaltung der Aufgaben sich ja nach den Bedürfnissen innerhalb der Gemeinde richten sollen. Im Gemeindeleben schließlich, das sich durch die Aktivitäten der vielen Mitglieder erst begründet und gestaltet, sind alle einzelnen Gleiche unter Gleichen.

Die Frage ist nun dennoch, was zum Gemeindeleben und was zum Aufgabenfeld der Pfarrer gehört. Nehmen wir das Beispiel eines festen Vortragsabend. Ist der Vortrag des Pfarrers vornehmlich für die Öffentlichkeit gedacht und von dieser besucht, handelt es sich ohne Zweifel um den Bereich der Verkündigung. Wird der Vortrag im wesentlichen von Gemeindemitgliedern besucht, gehört er zum Gemeindeleben. Der Pfarrer kann einen Tag der Woche für seine Vorträge in Anspruch nehmen wollen. Wenn aber auch andere Mitglieder Vorträge halten oder Gespräche organisieren möchten, wird daraus eine Frage, die die Gemeinschaft gemäß den Bedürfnissen ihrer Mitglieder zu entscheiden hat.

Wenn allerdings die meisten Mitglieder gar keine speziellen Bedürfnisse äußern oder auch bestehende Angebote rein gewohnheitsmäßig in Anspruch nehmen, so ist es die besondere Aufgabe der Pfarrer und anderer weitblickender Mitglieder, in gemeinsamer Erkenntnisarbeit eine Antwort auf die Frage zu finden, was jeweils not tut, um zeitgemäße Entwicklungen anzuregen. Vielleicht ist es gar nicht der wöchentliche Vortrag? Leicht sichtbar sind die regelmäßig Anwesenden. Doch schwerer ersichtlich sind die Motive der Abwesenden. Welche Bedürfnisse haben diese? Was täte not, auch für die regelmäßigen Vortragshörer? Wäre diese Frage nicht einen Gemeindeabend wert?

Die Pfarrer selbst sollten natürlich in jedem Fall ein Gefühl für die Bedürfnisse in der Gemeinde haben und das ihrige tun. Spricht es aber von Weitblick und warmem menschlichen Umgang, wenn ein engagierter Brief eines Mitglieds an die Pfarrer in bezug auf den Freitagabend in diesem Moment bereits sieben Wochen auf irgendein Zeichen der Erwiderung wartet? Wie kommt es überhaupt, daß ein Wort an die Pfarrer zunächst die einzige Möglichkeit ist, eine Frage aufzuwerfen? Eigentlich müßte es regelmäßig Zeit und Raum geben, wo die Gemeinde selbst über die in ihr lebenden Frage und Bedürfnisse ins Gespräch kommt. – In keiner Weise haben die Pfarrer ein Vorrecht, das Gemeindeleben zu prägen und etwa neue Impulse mit Verweis auf das Althergebrachte auf die „hinteren Plätze“, z.B. ungewohnte Wochentage, zu verweisen oder nicht genauso wie ihre eigenen Angebote in das Gemeindeprogramm aufzunehmen. Doch in unserer Gemeinde ist dies alles noch anders. Die Gemeinde hat nicht einmal ein schwarzes Brett, wo etwas selbständig aufgehangen werden könnte, ohne vorher durch prüfende Augen gehen zu müssen.

Doch haben die Pfarrer überhaupt irgendein Hausrecht? Nein! In den Gemeinderäumen hat die Gemeinde – jedes einzelne Mitglied und alle in ihrer Gesamtheit – Hausrecht! Was in den Räumen geschieht, welche Gestaltung sie bekommen, all das beschließen die Gemeindemitglieder in ihren Versammlungen. Das scheinbare Hausrecht der Pfarrer hat einen einzigen Grund: Gewohnheit. Wenn sich in Anfangszeiten einer Gemeinde niemand findet, der sich verantwortungsvoll auch um technische und andere Fragen kümmert, gehören diese Dinge auch zum Aufgabenbereich der Pfarrer – irgendwer muß es ja tun. Doch wie leicht wird dieser Anfangszustand zur Gewohnheit – und neben der Pflicht entsteht scheinbar das Hausrecht der Pfarrer.

Wo aber kämen wir hin, wenn Gemeinden selber entscheiden, wie dies und jenes gestaltet, geändert, renoviert, verbessert werden soll? Wir kämen – zu mündigen Gemeinden voller verantwortlicher Mitglieder. Wo kämen wir hin, wenn ganz „frische“ Mitglieder schon entscheiden können, wie etwas gemacht wird? Nun, sie können nicht entscheiden, sie können gemeinsam mit ihren Mitbrüdern mit-entscheiden. Und was sollte daran falsch sein? Hat jemand, der den Entschluß zur Mitgliedschaft gefaßt hat, dies nicht in vollem Ernst, mit großer Verantwortung und nach entsprechender Vorbereitungszeit getan? Und heißt es nicht: „Die Letzten werden die Ersten sein“? Bekommt nicht auch der späte Arbeiter im Weinberg den vollen Lohn? Was hätte das hierarchische Verdienst- und Aufstiegssystem mit seinen wachsenden Rechten und Privilegien in einer Christen-Gemeinschaft zu suchen?

Überhaupt steckt in allen Überlegungen, die „der Gemeinde“ oder „unerfahrenen“ Mitgliedern ihre Rechte absprechen wollen, im Kern ein Mißtrauen gegenüber den Mitbrüdern, das selbst mit Mißtrauen beobachtet zu werden verdiente. Oder ist es vielmehr das – bewußte oder unbewußte – Bestreben, die bisherigen Privilegien, die ja eine Machtposition begründen, beizubehalten? Sicherlich darf in einer Gemeinde nicht alles zugelassen werden. Aber das betrifft Pfarrer und übrige Mitglieder gleichermaßen. Jeder Mensch ist fehlerhaft und auch Pfarrer wurden schon suspendiert. Auf allen Seiten jedoch ist Mißtrauen fehl am Platze. Dennoch geht es um die Frage: Wer erkennt, was der Christengemeinschaft gemäß ist, und wer entscheidet darüber?

Zunächst ist zu betonen, daß es in der Christengemeinschaft keine Dogmen gibt, also keine allgemein gültigen Überzeugungen, die das Geistesleben einengen könnten. Auch sonst gibt es keinerlei dogmatischen Definitionen, was „der“ Christengemeinschaft entsprechend sei und was nicht. – Damit ist im Grunde alles in die Freiheit der initiativen Einzelnen gestellt und nur abhängig davon, wie die Gemeinde als Ganzes mit solchen Initiativen umgeht bzw. auf diese antwortet. Es gibt keine Definitionen, was Christengemeinschaft ist und was nicht. Es mag kurze Einführungen geben, die im Auftrag des Siebenerkreises oder anders entstanden sind. Aber auch diese sind nicht allgemeingültig, nicht abschließend und nicht als einzige oder auf ewig verbindlich.

Das Wesen der Christengemeinschaft existiert – es ist ein Wesen, und nicht Menschen haben festzulegen, was es ist oder nicht ist. Menschen können sich aber bemühen, sich innerlich so frei von persönlichen Ambitionen zu machen, daß das Wesen der Christengemeinschaft sich in ihnen aussprechen kann. Letztlich ist dies natürlich Aufgabe jedes einzelnen Mitgliedes. Wie aber spricht sich dieses Wesen aus. Das kann nie vorhergesagt werden. Sonst hätte man wieder eine Stellvertreter-Kirche. Niemand weiß im voraus, wie sich dieses Wesen jeweils aussprechen und offenbaren wird, und niemand weiß, in welchen Menschen dies jeweils geschieht.

Sollte es Streit über die Frage geben, was diesem Wesen entspricht, ist zunächst nur klar, daß es sich gerade nicht offenbart, denn wirklicher Streit ist mit Gemeinschaft nicht vereinbar. Allerdings kann Uneinigkeit sehr wohl geistig einen Raum öffnen, in dem althergebrachte oder neue Urteile und Vorurteile zunächst beiseite zu treten haben, so daß sich inmitten der widersprechenden Meinungen das Wesen vielleicht wiederum offenbaren kann. Uneinigkeit ist also nicht unfruchtbar, sondern ein Hinweis darauf, daß es wichtige Fragen zu beantworten gibt und man sich gerade in einem Zustand der Geburtswehen befindet.

Neue Impulse kommen sehr oft durch neue und/oder junge Menschen in eine Gemeinschaft. Oft werden sie von den „alten“ Mitgliedern abgelehnt, doch ist es nicht wahrscheinlich, daß viele solcher neuen Impulse gerade hineinkommen sollen und mit dem Wesen der Christengemeinschaft in gar enger Verbindung stehen? „Der Geist weht, wo er will“. Und ebenso wirkt das Wesen der Christengemeinschaft in und durch die verschiedensten Menschen. Die Pfarrer hätten die hervorragende Aufgabe des Erkennens – ein Recht zu einem alleinigen Urteil haben sie nicht.

Die Pfarrer haben ihre Einschätzungen mit der Gemeinde zu teilen und in allen Fragen gemeinsam zu beraten und zu beschließen. Haben die Pfarrer besondere Fähigkeiten, wird dies in der Gemeinde erkannt werden und man wird ihrem Urteil entsprechendes Gewicht beimessen – ein Recht darauf, einen Anspruch darauf haben sie nicht. In der Gemeinschaft sind sie Gleiche unter Gleichen. Oder wir sind wieder bei der Amtskirche und dem alten Pharaonentum. Wer sich mit dem „Gleicher unter Gleichen“ unwohl fühlt, geht wieder aus vom Mißtrauen. Davon abgesehen sind Sicherheit und Lebendigkeit nicht miteinander vereinbar. Man kann einen „inneren Kern“ postulieren, der die „reine Lehre“ bewahrt und mit entsprechenden Machtbefugnissen ausgestattet ist. Nur hat man dann keine Christengemeinschaft, sondern ist bei einem System angekommen, daß auch den Kommunismus zur Hölle machte.

Die Pfarrer als Gleiche unter Gleichen, als Priester vor dem Altar handelnd, ihre eigenen Aufgaben selbständig ergreifend und nach den Bedürfnissen der Menschen orientierend, und im Gemeindeleben gemeinsam mit ihren Mitbrüdern strebend, beratend, beschließend und handelnd – auf diese Weise werden die Pfarrer Vorreiter sein in einem Christentum der Zukunft. Gerade dann wird ihr Urteil – wenn dies berechtigt ist – entsprechendes Gewicht haben, weil die übrigen Menschen es fühlen, wer in welcher Frage, besonders urteilsfähig ist.

Wer aber auf eine Durchsetzungsmacht Anspruch erhebt, gleicht einem Cäsaren. Vom Christus heißt es in der Menschenweihehandlung, daß die Menschen in „erkennen in Freiheit als ihren helfenden Führer“. Sollte dies nicht um so mehr in bezug auf die Pfarrer eine Frage sein, ob die Gemeinde ihnen in bestimmten Fragen eine Führung zuspricht oder nicht? Wollten die Pfarrer von sich aus beanspruchen, was der Christus in die völlige Freiheit jedes einzelnen gibt?

Die Christengemeinschaft ist eine Gemeinschaft mündiger Ich-Menschen, die ihr Gemeindeleben gemeinsam gestalten. Wo die mündige Ich-Haftigkeit mehr Ideal als gegenwärtig ist, ist gleichwohl nach diesem Ideal zu handeln, und auf diesem Wege wird ihm gerade der Boden bereitet. Wenn man dem Wesen der Christengemeinschaft entsprechend handelt, wird es sich mehr und mehr offenbaren.