04.01.2004

„An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“

Vorträge oder Gemeinschaftsbildung?

Diese Gedanken entstanden im Zusammenhang mit der Situation in der Gemeinde Berlin-Wilmersdorf der Christengemeinschaft und meinem Erleben in Bezug auf die Freitagabend-Vorträge.


Was ist Sinn und Ziel der Vorträge? Sollen sie den Hörern eine geistgemäße Weltbetrachtung näherbringen? Wollen sie das Ich der Menschen wachrufen? Wird jenes nicht von selbst dieses mit der Zeit bewirken? Was nützte auch eine geistgemäße Weltanschauung, wenn nicht das Ich erwachen würde? 

Wenn aber das Ich erwacht – braucht es immer weiter eine Seelennahrung durch Vorträge? Oder vielmehr: braucht es nur diese? Oder wird es (im besten Falle) nicht aktiv und selbständig sich ein solches Umfeld schaffen wollen, in dem es weiter wachsen kann, in dem es auch anderen Ichen begegnen kann?

Oder sollen die Vorträge reine Seelennahrung sein? Sollen die Anwesenden stets nur „Hörer des Wortes“ bleiben? Wie aber, wenn das Bedürfnis nach wirklicher Begegnung untereinander erwacht oder erwachen will? Letztlich geht es in allem Christentum um Begegnung, und nur in dieser kann es sich offenbaren und erfüllen. Aber Begegnung ist schon da nötig, wo Begegnung erst gelernt werden will und muß. Dieses Bedürfnis fühlt die Seele in sich. Sie ist mit Vorträgen allein nicht mehr zufrieden, sie findet in der Seelennahrung nicht mehr ihren Frieden. Alles persönlich Erbauliche ist ihr dann nur eine Grundlage, um sich ihrer eigentlichen Aufgabe und Bestimmung zuzuwenden: Der Begegnung.

Und so verlieren die Vorträge geradezu ihren Wert und ihre Bedeutung, wenn ihnen nicht in geistiger Folgerichtigkeit das andere an die Seite tritt, was der Seele notwendig ist: Raum für Begegnung. Gibt es diesen nicht, droht sehr plötzlich das Umschlagen in eine gegenteilige Entwicklung. Die erwachende Seele wird in eine reine Passivität zurückgestaut und sie versinkt in einer Konsumenten-Haltung.

Man könnte einwenden, dann war sie eben noch nicht reif. Nur verkennt man dabei, wie sehr jede Seele auf ihrem Weg Hilfe anderer Menschen bedarf, und wie sehr tatsächlich die Vorträge bzw. ihre fehlende notwendige Ergänzung Ursache für eine passive Gemeinde und ein trauriges Konsumententum sind. So entsteht ein ungeheurer Widerspruch: Die Vortragenden haben den Anspruch, den Menschen Seelennahrung zu geben, ihre Ichwerdung zu unterstützen. Doch die Vorträge bewirken, daß diese Entwicklung gerade verhindert oder zurückgeworfen, jedenfalls immer unwahrscheinlicher wird! Da man Gutes wollend kaum das Ungute erkennen oder dies ertragen kann, wird man meinen, daß die „Hörer des Wortes“ sehr zufrieden sind, daß sie anderes nicht bedürfen, daß sie womöglich noch gar nicht so weit sind, um anderes zu brauchen. Und so gibt es das Argument, daß zu mehr als drei, vier Gesprächsabenden im Jahr „die Menschen ja gar nicht kommen“. Der Blick ist vollkommen umgewandt, die eigene Verantwortung außerhalb jeder Sichtbarkeit.

Ebenso bei dem Argument, jene, die wirklich das Gespräch suchen, könnten doch außer Freitag jeden anderen Tag der Woche nehmen und sich selbst Möglichkeiten der Begegnung schaffen. Wer so spricht, weiß eben nichts von der großen Passivität, die – vielleicht durch ihn selbst! – Jahr für Jahr veranlagt wurde und wird. Er weiß nichts oder will nichts wissen von den Stufen der Seelenentwicklung. Selbst wenn die Seele bereit ist, die nächsten Schritte zu gehen, braucht sie die Hilfe ihrer Mitbrüder. Und die meisten Menschen, die schon bereit wären, das Mysterium der Begegnung miteinander erfahren und üben zu wollen, werden diesen Impuls nicht so stark ausgebildet haben, daß sie auch eigenständig den Raum dazu schaffen und sich aktiv mit anderen Menschen zu verbinden suchen.

Doch über die Frage der Schuld und der Verantwortung zu streiten, wäre angesichts der Schwere der hier berührten Fragen geradezu unerträglich. Fest steht, daß im Bereich des Christentums unterlassene Hilfeleistung mindestens so schwer wiegt wie ein Versäumnis der unmittelbar Betroffenen.

Selbst wenn die Seele bereit ist, die nächsten Schritte zu gehen, braucht sie die Hilfe ihrer Mitbrüder. Und die meisten Menschen, die schon bereit wären, das Mysterium der Begegnung miteinander erfahren und üben zu wollen, werden diesen Impuls nicht so stark ausgebildet haben, daß sie auch eigenständig den Raum dazu schaffen und sich aktiv mit anderen Menschen zu verbinden suchen. So werden zu einem Gespräch zunächst nicht annähernd so viele Menschen kommen wie zu einem Vortrag. Doch ist dies gerade kein Beweis für die größere Wichtigkeit von Vorträgen, sondern ein Hinweis auf bisherige Versäumnisse! Denn will sich das Christentum in Vorträgen ausleben oder in Begegnung? Wo stehen wir also? Und woran liegt das?

Wenn nun die Vorträge ihren eigentlichen Zweck gar nicht erfüllen – was bleibt dann? Rhetorische Gestalten von teilweise großer intellektueller Brillanz. Viele Menschen werden diese weiterhin als bereichernde Seelennahrung erleben, und die Vortragenden werden überzeugt sein oder sich einreden, das ihnen Mögliche getan zu haben und zu tun. In Wirklichkeit aber dienen die Vorträge – wenn das, was sie notwendig ergänzen und auf sie folgen müßte, fehlt – immer auch den Widersachern.

Egal, welches „Niveau“ die Vorträge haben – ihre Früchte sind das Wesentliche. Die innere Entwicklung der einzelnen Menschen ist es. Das was sich jeder wirklich zueigen gemacht hat. Und in dieser Hinsicht müßten wir alle schon viel weiter sein – auch und gerade im Sozialen. Daher muß ich wieder ein zumutendes Urteil fällen: Die Vorträge verfehlen ihr Ziel und arbeiten dem Gegenteil in die Hände, weil sie eine große Einseitigkeit darstellen und ihre notwendige Ergänzung von Tag zu Tag mehr fehlt.

Was ist die Aufgabe der Christengemeinschaft? Wenn sie eine wahrhafte Bewegung für religiöse Erneuerung sein will, dann darf Bewegung sicher nicht nur von den Pfarrern ausgehen. Dann reicht es mit Sicherheit nicht, wenn nur die Pfarrer Vorträge halten, Kurse anbieten und selten genug einen „Gesprächsabend“ leiten. Wenn in dieser Weise die Christengemeinschaft im wesentlichen eine Pfarrerkirche bleibt, hat die Bewegung für religiöse Erneuerung ihr Ziel verfehlt – sowohl eine Bewegung zu sein, als auch religiöse Erneuerung hervorzubringen.

Mit den Sakramenten ist etwas Neues in die Welt getreten, mit ihnen sind die kultischen Formen erneuert. Damit man aber von Erneuerung wahrhaftig sprechen kann, muß diese ein lebendiger Prozeß sein. Das Neue muß im einzelnen Menschen wirklich lebendig werden – und es muß sich weiterentwickeln. Ich meine nicht die Formen des Kultus, sondern ich meine die Früchte eines in den einzelnen Menschen lebendig gewordenen Kultus.

Was heißt es, wenn der Kultus im einzelnen Menschen lebendig wird? Welche Früchte warten darauf, im Menschen zu reifen?

Wie können wir für die Gegenwart des Christus aufnahmefähig werden? Und wie können wir unser religiöses Erleben und dann auch unser religiöses Leben auch außerhalb des Kultus lebendig machen und vertiefen? Wie können wir darin einander auch helfen und jeweils Stücke unserer individuellen Wege gemeinsam zurücklegen bzw. andere daran Anteil haben lassen?

Bedeutet Christengemeinschaft nicht, an die allererste Christengemeinschaft anzuknüpfen? An die Gemeinschaft derer, die sich nach der Menschwerdung des Christus, nach seinem Tod und seiner Auferstehung in Liebe und Brüderlichkeit zusammenfanden? Wie sehr aber sind wir davon entfernt! Haben wir doch oft anonyme Gemeinden, wo viele es nicht wagen würden, über ihre religiöse Erfahrungen zu sprechen, wo Einzelne sich aufgrund persönlicher Konflikte vielleicht nicht einmal mehr grüßen! Was aber hat dies noch mit Christentum zu tun? Nichts mehr!

Wir stehen in bezug auf das Christliche, das immer mit den Mitmenschen zu tun hat, noch ganz, ganz am Anfang. Wir müßten schon viel weiter sein, aber wir sind es nicht und müssen uns dies in aller Klarheit eingestehen. Großteils wissen wir wahrscheinlich sogar kaum, was „weiter“ eigentlich bedeuten würde.

Für das religiöse Leben genügt es nicht, zum Kultus zu kommen und wieder zu gehen. Man muß immer tiefgründiger verstehen, was im Kultus geschieht, und immer wesenhafter daran Anteil nehmen und diesen Kultus mitvollziehen. Für das religiöse Leben genügt es nicht, kleine Büchlein oder große Werke von Rittelmeyer oder Bock, auch nicht von Steiner, zu lesen, sondern es käme darauf an, das dort Geschriebene, was diese Menschen sich (und für andere) erarbeitet haben, sich zu-eigen zu machen. Das erkennt man daran, daß man ähnliche Bücher dann im Grunde ebenfalls schreiben könnte. – Es genügt nicht, sich Vorträge anzuhören, wenn man eine Woche später nicht einmal mehr das Thema weiß; es käme darauf an, sie selber halten zu können. Es genügt nicht, an einem sogenannten Arbeitskreis teilzunehmen, wenn man nicht innerlich arbeitet, wenn man an den Fragen nicht auch zwischen den Treffen arbeitet, mit ihnen lebt und ringt.

Es genügt nichts, das nicht aus dem Ich heraus getan wird und für dieses eine bleibende Frucht bringt. Es genügt aber auch nichts, was der Mensch nur als Wissen aufgenommen hat. Nur das ist von Wert, das auch das Gefühls- und Willensleben ergreift. Erst dann kann von einem religiösen Erleben gesprochen werden. Und erst der in seinem ganzen Menschen ergriffene Mensch fängt an, dem Christus eine Wohnung zu bereiten. Und es gibt noch ein untrügliches Zeichen: Der Christus-Impuls findet Wohnung in jenen Menschen, in denen die Liebe zunimmt – die Liebe zur Welt und vor allem die Liebe zu den Menschen.

„An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“. Hier zeigt sich, wie ernst wir es mit der Vertiefung unseres religiösen Lebens meinen. Wir können noch so oft zum Kultus kommen, noch so viele Vorträge hören, Bücher lesen, Wissen ansammeln – wenn wir nicht mehr und mehr in Liebe zueinanderfinden, offenbart sich nur, daß wir den Christus nicht wirklich aufnehmen können oder wollen. Im Zueinanderfinden beginnt erst die wirkliche Christengemeinschaft. Und in einer solchen Gemeinschaft wäre erst eine weitere unendliche Vertiefung des religiösen Lebens möglich. Denn jetzt erst könnte jeder voller Liebe und Vertrauen das Seinige zur Gemeinschaft beitragen. Und das ist die eigentliche Aufgabe.

Christengemeinschaft bedeutet eine Gemeinschaft von Menschen, die gemeinsam nach religiöser Vertiefung streben wollen. Der lebendige Kern der Christengemeinschaft ist dort zu finden, wo Menschen sich nicht mit der Seelennahrung der Vorträge zufriedengeben, sondern dürstend nach dem Geiste selbst Fragen bewegen, selbst Antworten suchen und finden – und dies miteinander in gemeinsamem Streben.

Es wäre die hervorragende Aufgabe der Pfarrer, solche Fragen zu fördern und dem eigenständigen Ringen und Tun Raum zu geben und es zu unterstützen. Der Christus sucht Ich-Menschen und ihre Gemeinschaften. Das Ich aber, das der Christus sucht, lebt nur in wahrer Aktivität – ganz im Gegensatz zu dem Ich, das die Widersacher sich erhalten wollen. Die vielleicht wichtigste Aufgabe der Pfarrer ist es, den Menschen darin zu helfen, sich selbst in ihrem wahren Ich zu ergreifen. Dazu gehörte, Impulse zu unterstützen, die auf eigenständiges Ringen und Fragen zurückgehen. Und dazu gehört das immer wiederkehrende Hinweisen darauf, daß es gerade auf dieses ankommt. Dazu gehört das schöpferische Schaffen von Formen, in denen sich solches Tun und Ich-Werden ereignen kann. Dazu gehört der klare Hinweis darauf, daß die eigenen Vorträge und Kurse eigene Aktivität niemals ersetzen, sondern immer gerade anregen sollen („die Aktivität des Pfarrers muß abnehmen, das Ich der Mitglieder muß wachsen“). Dazu gehört vielleicht auch das Bekenntnis, daß manches aus den Vorträgen auch vom Redner selbst noch nicht wirklich zueigen gemacht werden konnte und daß man überhaupt auch als Pfarrer in vielem nicht wesentlich weiter ist als die Mitbrüder.

Erst durch wirklich gemeinsames Tun, durch Begegnung, die sowohl das gemeinsame Streben wie auch das zweckfreie Erleben des anderen Menschen zum Inhalt hat, bildet sich „Christengemeinschaft“ – und damit die lebendige Substanz, aus der heraus die erneuerten Sakramente von einer bloßen Form immer wieder zu einer Weltenkraft werden, die nicht nur den Menschen zu einer fortwährenden Wandlung führen, sondern auch dem Christus bei seiner Verwandlung der Erde helfen.