22.02.2004

Mut zur Parteigründung?

Den folgenden Brief schrieb ich am 22.2.2004 an den Herausgeber der Wochenzeitung „Freitag“, weil ich noch immer intensiv das „Schwarze Loch“ auf politischem Felde empfand. Wenige Tage später gründeten sich dann während der Hochphase der Montagsdemonstrationen gegen Agenda 2010 und Hartz IV unerwartet zwei neue politische Bündnisse! Aus ihnen ging 2005 die WASG hervor, die sich 2007 mit der Linkspartei.PDS zur neuen, deutlich stärkeren Partei DIE LINKE vereinigte.


Lieber Herr Thie,

es ist nun schon fast ein Jahr her, als ich Ihnen einige Texte schickte, die die Marktwirtschaft kritisierten. Sie schrieben mir am 14.3.03, daß sie diese zu allgemein gehalten fänden. Als ich jetzt wieder Ihren Aufsatz „Mission possible“ und früher andere Aufsätze von Ihnen las, fand ich meine Überzeugungen darin stets wieder. Dies betrifft sowohl den selbstlosen, auf Gerechtigkeit unter den Menschen gerichteten Impuls als auch Ihre Ideen und Lösungsvorschläge im Konkreten.

Die Frage, die sich mir aber immer mehr stellt, ist diese: Was nützt es, daß Menschen, denen es um Gerechtigkeit und Menschlichkeit geht, ihre Stimme erheben, wenn es nur dabei bleibt? Was nützt es, wenn ein Bruchteil von Menschen dieser Gesellschaft regelmäßig die absolut wahren Gedanken liest, die Sie im Freitag veröffentlichen? Was ändert sich, wenn vielleicht sogar 5% aller Deutschen jede Woche den Freitag läsen – und wenn es 50% wären?

Was passiert, wenn sogar nur noch eine Minderheit der Gesellschaft dieser oder jener Partei die Lösung der gegenwärtigen sozialen Fragen zutraut, wie es ja bereits der Fall ist? Nichts! Es stehen demnächst wieder die gleichen Parteien zur Wahl, die gleichen Koalitionen stehen zur (Schein-)Al­ternative, die Wahl des größeren oder kleineren (!?) Übels. Was nützt es, daß immer mehr Menschen ahnen oder wissen, daß dies hier nicht die beste aller möglichen Gesellschaften ist – ja, das eine bessere Gesellschaft schon morgen möglich wäre – wenn niemand etwas unternimmt?

Stell Dir vor, eine bessere Welt ist möglich und niemand tut was! Jeder redet nur darüber! Viele wissen, wie es besser ginge (Sie zum Beispiel, ich und viele andere), jeden Tag wird es den Menschen wieder gesagt, doch dadurch wächst nur die Resignation angesichts der sich stetig nur verschlechternden Tatsachen!

Das fehlende Zutrauen der Menschen in die Politik offenbart nur, was auch Sie schreiben: Im Grunde steht die ganze Republik nackt da. Ich empfinde es wie ein gewaltiges „Schwarzes Loch“ auf politischer Ebene. Die soziale Phantasie scheint zu schrumpfen. – Nicht in den Hoffnungen und Herzen der Menschen – aber bei den Fachleuten, den Politikern, den „Machern“, denen, die die Verhältnisse gestalten und unser aller Leben in seinen sozialen Voraussetzungen bestimmen. – In dieses Schwarze Loch werden alle wahren Gedanken, alle Ideale, alle Hoffnungen, alle realen Potentiale einer schon morgen besseren Zukunft immer wieder hineingesogen, entwertet, lächerlich gemacht, „ausgesessen“ und totgeschwiegen.

Längst sind die Fronten weitgehend klar: Die große Mehrheit will eine bessere Welt. Ein Großteil dieser Mehrheit weiß, daß eine sozialere Gesellschaft absolut möglich ist, daß nur wenige Maßnahmen bereits den ersten Anstoß gäben (wie auch Sie sie nennen), daß es im Grunde „nur“ einer bewußten Entscheidung bedarf, welche Art von Gesellschaft wir wirklich wollen. Auf der anderen Seite steht die absolute Minderheit der politischen und wirtschaftlichen „Elite“ (um nicht zu sagen Diktatur), die ebenfalls zum letztendlichen „Wohl“ der Gesellschaft zu handeln behauptet, aber in Wirklichkeit und in der Konsequenz ihrer Taten zum Wohle derer handelt, die schon jetzt am meisten haben.

Dabei zeigt sich immer mehr, daß selbst drastische Zumutungen möglich sind, ohne daß ernsthafte Gegenwehr stattfindet. Um so mehr wird eine schleichende Weiterführung der gegenwärtigen Tendenzen stattfinden können, ohne daß sich echte Proteste ereignen. Die Menschen merken, daß ihre Zukunft bedroht ist, aber sie bleiben vereinzelt, ja viele werden gerade auch aus Angst still bleiben. Es wird keine Generalstreiks, keine Volksbegehren, keine Aktionen massenhaften zivilen Ungehorsams geben. – Und selbst, wenn vorerst eine Pause bei den sozialen Deformen eintritt – wird die von Sachzwängen getriebene Welt nicht schon von selbst täglich unsozialer?

Von den bestehenden Parteien ist bestenfalls Einfallslosigkeit zu erwarten, die aber in ihren Konsequenzen ebenfalls katastrophal sein wird. Die Stimmen derer, die scheinbar „visionär“ denken, in Wirklichkeit aber nur naheliegendste Wahrheiten aussprechen, weil sie sich in ihrem gesunden menschlichen Empfinden nicht korrumpieren und sich auch von „Sachzwängen“ nicht blenden ließen, scheinen auf politischer Ebene wie an einer gläsernen Mauer abzuprallen – und gehen auch in der auf intellektuelles „Fast Food“, auf Mainstream und Werbeeinnahmen ausgerichteten Medienlandschaft immer wieder hoffnungslos unter.

Meine tief ernste Frage ist: Haben die Menschen, denen diese Menschlichkeit, diese gerechte Gesellschaft ein innerstes Anliegen ist, den echten Mut, für ihre Überzeugungen wirkliche Taten in die Welt zu stellen? Taten, die diese „bessere Welt“ wirklich möglich werden lassen könnten?

Wo ist der Mut, sich auf dasjenige Feld zu begeben, wo die Entscheidungen fallen, wo die Rahmenbedingungen täglich geändert werden, wo die Abschaffung des Sozialen gestern, heute und morgen Realität wird – oder aber die Wende hin zu einem neuen sozialen Entwurf, zu einem neuen Paradigma sozialen Zusammenlebens – ich meine die politische Ebene.

Haben Sie den Mut, ein politisches Bündnis zu begründen, das das „Schwarze Loch“ auf politischer Ebene beseitigt? Das erstmals wieder für echte Alternativen eintritt, die Hoffnungen der Menschen teilt und die Rahmenbedingungen zu ihrer Verwirklichung schaffen will?

Ein solches Bündnis von Menschen, die das Soziale wollen und politisch zu keinen falschen Kompromissen bereit sind, würde in seiner Integrität eine ungeheure Kraft entfalten – was sich sehr wahrscheinlich schon bei den ersten Wahlen zeigen würde. Man stelle sich vor: Eine echte Alternative! Ein Bündnis, das der inneren Überzeugung vieler Menschen endlich entspricht, ja deren Hoffnungen teilt! Entscheidend für die Frage, ob viele Menschen ein solches Bündnis wirklich wählen oder aber fürchten, ihre Stimme zu verschenken (!), wäre jedoch, daß Menschen, die im öffentlichen Leben stehen und die angedeutete Integrität und soziale Wahrhaftigkeit besitzen, den Kern oder eine wesentliche Kraft dieses politischen Bündnis bilden würden.

Haben Sie den Mut zu einem solchen Schritt? Wie würden Sie solche Menschen zusammenbringen? Wie würden Sie den Mut und die Entschlossenheit auch bei anderen Menschen wecken, die trotz ihrer Integrität vor den Mühen eines solchen Schrittes zurückschrecken? Die denken, daß sich ja vielleicht doch etwas ändert, ohne daß sie sich beteiligen oder sogar ohne daß überhaupt etwas in der hier angedeuteten Richtung getan wird.

Lieber Herr Thie, ich schreibe Ihnen dies in der Hoffnung auf eine wirkliche Antwort. Ich trage mich schon lange mit der hier angedeuteten Idee und der Überzeugung, daß ein solches Bündnis absolut notwendig ist (auch der beigefügte Aufsatz ist schon über ein Jahr alt). Ich selbst wäre bereit, mich in den Aufbau eines solchen Bündnisses voll einzubringen. Doch als einfacher Privatmann fehlt mir zunächst der notwendige Ansatzpunkt. Es kann sich nicht darum handeln, daß aus einem idealistischen Ansatz heraus ein kleiner Kreis von nicht unbedingt kompetenten Menschen zusammenfindet und eine Splitterpartei ins Leben ruft, die nur die allgemeine Resignation vergrößert. Es geht darum, daß angesichts der „nackten Republik“ wirklich zahlreiche Menschen des öffentlichen Lebens (und natürlich viele weitere Menschen) sich zusammenfinden, weil sie aus ihrer Integrität heraus das Gleiche wollen und die Notwendigkeit erkennen, gemeinsam zu handeln oder sich zumindest hinter diesen Impuls zu stellen.

Haben Sie den Mut zu einer solchen Tat?

>> Zur Antwort von Herrn Thie und weiterer Korrespondenz in Bezug auf einen Artikel, den er stattdessen anregte, der dann aber doch nicht gedruckt wurde...