20.05.2004

Aus 1 mach 3

Wie Wirtschaft und Staat wieder dem Ganzen dienen können

Beitrag zu einer Diskussion in der Wochenzeitung „Freitag“ im Frühjahr 2004. Der Beitrag sollte eigentlich veröffentlicht werden und erschien dann doch nicht – siehe dazu die >> Korrespondenz mit dem Verleger.


Die bisherigen Beiträge lassen sich zwei Schwerpunkten zuordnen: Plädoyers für ein grundsätzliches Umdenken und umfassende, teilweise sehr abstrakt anmutende Utopien. Beides ist wichtig: Darüber nachdenken, wie ein grundsätzlich anderes Denken aussehen könnte, und mutig Utopien ins Auge fassen, die auf einem anderen Denken aufbauen. Als Drittes wäre wichtig, diese Utopien in manchem noch näher zu konkretisieren. 

Ich glaube, daß alle, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, ein Empfinden eint, das Franz Schandl als kategorischen Imperativ formulierte: Niemand soll unter die Räder kommen. Stefan Meretz schrieb: Es geht um nicht weniger als um die individuelle Wieder-Aneignung von "einfach nur Mensch sein". Es geht um Mensch­lich­keit. Diese läßt sich nicht erzwingen, denn Zwang gehört bereits zu den Feinden der Menschlichkeit. Ihr Geheimnis ist, daß sie sich tatsächlich jeder nur individuell aneignen kann. Das Ganze ist und bleibt eine Bewußtseinsfrage. Deswegen aber ist es gut, in die Zukunft zu denken: Auch wenn Utopien oft mehr die momentane Ohnmacht zu spiegeln scheinen – die Schilderung einer menschlicheren Welt kann bereits Augen öffnen und ist konkrete Aufklärung.

Viele können nachdenklich werden, wenn ihnen konkret bewußt wird, wie reich unsere Gesellschaft sein könnte: daß eigentlich für jeden Menschen ein Einkommen von 1800 Euro bei einer 30-Stunden-Woche möglich sind, daß im Durchschnitt für jeden 150.000 Euro Vermögen und sogar eine Eigentumswohnung vorhanden wären (Thie). Niemand bräuchte unter die Räder kommen! Wenn die Mehrheit es will, haben wir sehr schnell eine sehr viel gerechtere Gesellschaft. Die weitere Frage wäre dann, welche Strukturen es braucht, um nicht bald wieder beim Alten zu sein. Welche Strukturen braucht eine menschliche Gesellschaft, um Macht und krasse Auswirkungen von Egoismus immanent zu begrenzen?

Menschlichkeit – aber wie?

Niels Boeing hat Unrecht, wenn er meint, die Ideale der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit genügen nicht. Seine Trias der Offenheit, Gewaltlosigkeit und Leidenschaft konkretisiert die drei Ideale nur, in denen die ganze Sehnsucht nach Menschlichkeit, der ganze Impuls, aus dem heraus auch alle „Menschenrechte“ formuliert wurden, bereits enthalten ist. Jene drei Ideale wurden nicht realisiert, sondern pervertiert. Es geht immer nur um eins: Um das Wesen des Menschen, um das Wesen der Menschlichkeit. Ich würde es mit zwei Begriffen umschreiben: Freiheit und Liebe. Beides ist ohne das andere unmöglich bzw. wiederum eine Perversion des Eigentlichen. Niels Boeing beschreibt mit seinem „Prinzip Bohème“ eigentlich das Gleiche: Die konkrete Utopie wäre das freie Schöpfertum jedes einzelnen Menschen, in dem Leben, Kunst und Tätigsein wieder vereinigt sind. Nicht Ich-AG, sondern Zusammenarbeit, Respekt und Austausch von Fähigkeiten. Es geht auch ihm nicht um einen weltfremden Hedo­nis­mus, sondern um die Realisation des tiefen menschlichen Bedürfnisses, die Selbstentfaltung mit der Förderung anderer Menschen zu verbinden. Arbeit ist eigentlich immer Arbeit für andere. Gerade die moderne Arbeitsteilung würde dieses Prinzip klar offenbaren, wenn es nicht durch die Idee der Lohnarbeit und die Tatsache der Ausbeutung vernebelt würde.

Dennoch zeigen Ausführungen zur Idee der Menschlichkeit nur, daß ein Umdenken möglich ist. Ein „Prinzip Bohème“ kann man nicht verordnen. Auch jedes Klagen über seine heute noch geringe Verbreitung hilft nichts, sondern würde höchstens moralisierend wirken. Es gibt genug Menschen, die dieses Prinzip leben wollen. Die Frage ist: Welche Strukturen würden dies unterstützen? Ich bin mir im klaren darüber, daß auch meine Vorschläge zunächst rein theoretisch sind. Genau wie die richtigen Ideen der vorangegangenen Aufsätze – etwa die Abschaffung der Vererbung von Eigentum, ja von absolutem Eigentum an Produktionsanlagen überhaupt (Jäger) oder radikale Neuverteilung des bestehenden Eigentums (Thie) – könnten sie nur dann – dann aber sofort – realisiert werden, wenn eine Mehrheit von Menschen dies wirklich wollte. Wäre eine solche Mehrheit tatsächlich vorhanden, gäbe es mit Sicherheit auch eine entschlossene „Wahlalternative 2010“, die das Mandat entsprechend dem Wählerwillen ausüben würde.

Ich widerspreche Schandl, wenn er die Politik generell für machtlos hält und dem Geld vorwirft, nicht zur sozialen Sicherstellung aller zu taugen. Das ist nicht die Schuld des Geldes. Er muß sich fragen lassen, wie er sich eine Welt ohne Geld, Markt, Arbeit und Wert denn wirklich vorstellt. Als ein Paradies des Altruismus, in dem jeder von heute auf morgen für den anderen arbeitet? Die soziale Sicherstellung aller ist Aufgabe der Politik. Sie ist es auch, die das Geld zu einem machtlosen Tauschmittel machen könnte – z.B. durch einen Negativzins, der das Geld auf einen Schlag all seinen vergänglichen Gegenwerten gleichstellen würde.

Die ganze hier geführte Debatte ist überwiegend eine politische. Die immer wiederkehrenden Fragen nach Menschlichkeit sind Rechtsfragen und die Rechtssetzung ist das Feld der Politik. Der politische Ansatz ist nicht falsch, sondern die Frage ist, wie er bis zur Umsetzung gelangt. Wie wird das, was die Rechtsgemeinschaft beschlossen hat, gegenüber individuellen (bzw. transnationalen) Konzernen durchgesetzt? Wie ein überforderter Familienvater oder Lehrer steht die Politik vor der Aufgabe, von einem Kasperle wieder zu einer Autorität zu werden. Das hieße zum Beispiel: Vergesellschaftung von Unternehmerfunktionen – aber wie? Es braucht Strukturen, die dazu führen, daß Regeln das sein können, was sie sein sollen – und kein schlechter Witz, an den sich nur die halten müssen, die nichts zu lachen haben.

Die Erpressung beenden – die „Leistungsträger“ in die Verantwortung nehmen

Solange wir noch mit Nationen leben und ohne ein Weltkartell- und Weltsteueramt (Boeing) auskommen müssen, möchte ich andere Vorschläge machen: Nach meiner Wahrnehmung werden alle sozialen Fragen von der Grundtatsache verursacht, daß die großen gesellschaftlichen Bereiche in unheilvoller Weise miteinander verknüpft sind: Die Wirtschaft, die Politik und der geistig-kulturelle Bereich. Alle konkreten Utopien zielen mindestens darauf, die Politik der Vergewaltigung durch die Interessen der Wirtschaftsbosse zu entreißen. Generell geht es darum, sie jedweden Partialinteressen zu entreißen. Wenn es richtig ist, daß die „Linken“ von der Frage nach der Menschlichkeit bewegt werden, ist das Projekt, keine Partialinteressen zu vertreten, noch nicht gestorben. Ebensowenig wie die Ideale der französischen Revolution wurde bisher das Ideal der Politik verwirklicht!

Akteure à la BDI und Siemens verweisen in gelogener Besorgnis auf die stetig steigende Arbeitslosigkeit, die sie selbst verursachen, und erpressen von der Politik eine Agenda 2010 und ihre weitere Steigerung.  Die Idee der Menschenrechte ist ja interpretierbar und notfalls auch mit Armut und Zwangsarbeit vereinbar, wenn man diese nicht so nennt... Die erpreßte Politik gibt den Druck außerdem weiter an den geistig-kulturellen Bereich und kürzt Bildungsetats, verschärft gleichzeitig die direktiven Vorgaben ans Schulsystem und versucht (mit immer weniger Personal!) immer unverhüllter, schon die Kleinsten auf die künftigen Interessen „der Wirtschaft“ zuzurichten.

Politik hätte zuallererst die Aufgabe, den Begriff der Menschenwürde ernst zu nehmen und durch konkrete Rechtsnormen mit Inhalt zu füllen – und nicht als Handlanger von Profitinteressen dafür zu sorgen, daß man am Bildungsgrad und am Gebiß die Vermögensverhältnisse unter den Menschen erkennen kann. Wenn Bildung und Gesundheit elementares Menschenrecht sind und Geld kosten, muß es ein Bürgergeld geben, das die Menschenwürde finanziell garantiert. Daß dies auch ohne radikale Gleichverteilung der Vermögen möglich ist, zeigen alle seriösen Berechnungen, die nicht von Profitinteressen bestimmt oder finanziert sind. Mit einem Bürgergeld könnten zahllose Menschen das „Prinzip Bohème“ verwirklichen, die Unternehmen würden sich plötzlich um Arbeitnehmer reißen, die Löhne würden von selbst steigen...

Die für dieses Bürgergeld nötigen Gelder kommen natürlich von denen, die sie jeweils besitzen. Jetzt aber die entscheidende Pointe: Diese „Leistungsträger“ übernehmen auch die Verantwortung für die Machbarkeit! Bisher ist ja der Staat als Steuereintreiber der Prügelknabe, dem alle die Mittel zu entziehen versuchen, mit denen er doch das umsetzen soll, was demokratisch beschlossen wurde. Wie wäre es, wenn es auch ein Wirtschaftsparlament gäbe? Da müßten dann Unternehmens­vertreter untereinander besprechen, wie sie die Gesamtbelastung gerecht verteilen wollen – und wie sie verhindern, daß schwarze Schafe sich entziehen! Die demokratische Rechtsgemeinschaft gibt die Normen vor, die die Menschenwürde schützen sollen – und die Wirtschaftsgemeinschaft hat die Aufgabe und Verantwortung, aber auch den inhaltlichen Gestaltungsraum, sie umzusetzen.

Ein anderes Beispiel: Die Rechtsgemeinschaft beschließt das Recht auf eine 30-Stunden-Woche, einen Mindestlohn und Rente mit 55. Im Wirtschaftsparlament säßen Arbeitnehmer- und Unternehmensvertreter gleichberechtigt nebeneinander und müßten nun gemeinsam überlegen, was geschehen muß, um diese Regelung, die rechnerisch völlig unproblematisch ist, in die Wirklichkeit umzusetzen. Insbesondere müßten die Unternehmensvertreter wirksame Mechanismen finden, wie die sozialen Kosten der Arbeitslosigkeit wieder denen angelastet werden, die sie verursachen. Die Wirtschaftsakteure hätten plötzlich ein absolutes Eigeninteresse daran, solche Lösungen zu finden, die dem Verursacher-Prinzip entsprechen und etwa jene Unternehmen oder Branchen mit den höchsten Gewinnen in die gemeinsame Verantwortung einbinden. Und dadurch daß Vertreter von Großunternehmen, Klein- und Mittelbetrieben, von Produzenten, Händlern und Konsumenten gleichberechtigt dieses Wirtschaftsparlament bilden, müssen und werden Lösungen gefunden werden, die jeder dieser Gruppierungen gleichermaßen gerecht werden.

Es wird sich bei diesem „Parlament“ weniger um einen Ort abgehobener Reden handeln, als um ein Organ, in dem Fachleute gleichberechtigt miteinander diskutieren, dadurch überhaupt erst ein Bewußtsein für die konkrete Situation der anderen „Gruppen“ gewinnen und schließlich zielorientiert praktikable Lösungen finden. – Ein solches „Parlament“ wäre ein Organ, das Konkurrenz strukturell begrenzt bzw. Kooperation strukturell anregt und ermöglicht.

Jedem das Seine

Auf diese Weise könnte sich das „normale“, das normen-setzende Parlament der Legislative plötzlich seiner eigentlichen Aufgabe voll widmen: Die Formulierung von Gesetzen, die das Leben menschlich und gerecht machen. Die Fragestellungen der Menschenwürde würden nicht mit ihnen fremden Fragen überfrachtet, die Parlamentarier bräuchten nicht verzweifelt auf das starke Bedürfnis der Wähler nach einem gesicherten Arbeitsplatz schielen und Fragen etwa der Bildungspolitik, Gentechnik etc. nicht mehr der Dominanz wirtschaftspolitischer Aspekte unterwerfen. Damit können für die dortigen Herausforderungen Antworten gefunden werden, die von Vernunftsgründen bestimmt sind und dadurch sicherlich öfter mit der wirklichen Einstellung der Wähler zu diesen Fragen übereinstimmen.

Aber – halt! Bildungspolitik ist ein Unwort, denn auch Bildungsfragen sind im Kern nicht Sache des Staates – sie sind es nur in bezug auf rahmengebende Normen, die die Menschenwürde betreffen. Der Staat überschreitet bereits seine Kompetenzen, wenn er Schulen in freier Trägerschaft gegenüber „seinen eigenen“ diskriminiert. Waldorf-, Montessori- und andere Schulen wollen keine Eliteschulen sein – im Gegenteil. Bei Zuschüssen von nur z.B. 70% der Gesamtkosten werden sie aber vom Staat immer wieder in dieses Fahrwasser gezwungen, weil sie von jenen Eltern, die Alternativen zur Staatsschule suchen, ein Schulgeld von 200, 300 oder gar 400 Euro erheben müssen. Echter Wettbewerb um die besten Lösungen im Bildungswesen ist offenbar nicht gewünscht. Die Staatsschule ist nur deshalb die Regel(schule), weil die Alternativen massiv benachteiligt sind. In manch anderem Land ist Staatsschule schon heute die Ausnahme – nicht zum Nachteil des Bildungswesens.

So wie der normen-setzende Rechtsstaat aus den Zwängen und Fängen des Wirtschaftslebens, so muß das Bildungs- und Kulturleben aus der Hand des Staates befreit werden. Und so braucht es noch ein drittes „Parlament“, ein Organ im Bereich des Kultur- und Geisteslebens. Hier würden Vertreter des Geisteslebens ebendieses selbst verwalten und organisieren. So würden zum Beispiel Pädagogen auch selber diskutieren, was ein Schulabgänger wissen sollte. Sie würden gemeinsam zu mehreren konkurrierenden Bildungsstandards kommen, die nebeneinander bestehen dürften und sich der Wahl mündiger Eltern zu stellen hätten. Für das Bildungswesen braucht es keine Schulbehörden und keine Kultusministerkonferenzen, sondern Gremien von Menschen, die in Bildungsberufen unmittelbar tätig sind.

Und man nehme den Bereich der Kulturförderung. Nicht das normensetzende Parlament entscheidet über die Verteilung vorhandener (oder nicht vorhandener) Mittel, sondern ein Gremium aus Vertretern der auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene tatsächlich Kultur hervorbringenden und an dieser Kultur interessierten Menschen und Einrichtungen. Auf diese Weise würden die Mittel am direktesten entsprechend der realen Bedürfnisse verteilt werden. Und wenn die Mittel nicht vorhanden sind – so wäre es Sache der Wirtschaftsparlamente, dafür zu sorgen, daß sie vorhanden sind.

Das Gute an der Gesellschaft ist ja, daß die Menschen, die sie bilden, immer die gleichen sind – ob als Inhaber von Menschenwürde, ob als Wirtschaftsteilnehmer oder ob als Produzenten oder Konsumenten von Kulturgütern. Heute ist es so, daß ich zwar meinem Nächsten gerne seine Menschenwürde (und mehr als ein „Sozialhilfe“ genanntes Almosen) zugestehen würde und mir selbst z.B. wünsche, daß das Theater um die Ecke nicht geschlossen wird, daß ich aber gleichzeitig dem Staat nicht meine Steuern geben will. Erst wenn die Dinge entflochten werden, können sie zum Guten zusammenwirken: Als Vertreter der demokratischen Rechtsgemeinschaft kann ich Normen finden, die die Menschenwürde ganz real garantieren. Als Vertreter im Wirtschaftsparlament kann ich dafür sorgen, daß die Mittel, die die Menschenwürde und ein reichhaltiges Kulturleben sichern, in gerechter Aufteilung und tatsächlich von allen erhoben werden. Als Produzent oder Konsument des Kulturlebens kann ich beeinflussen, wieviel Mittel dem Theater zugute kommen sollen.

Die Grenzüberschreitungen und Anmaßungen der ökonomischen Sphäre sind heute nur allzu sichtbar, die des Staates werden vielfach noch nicht als solche erkannt. Wenn in einem lebenden Organismus ein Organ seine Grenzen überschreitet, spricht man von einem Geschwür oder sogar von Krebs. Auch im sozialen Organismus können die einzelnen Sphären des gesellschaftlichen Ganzen nur heilsam zusammenwirken, wenn sie ihre jeweiligen Grenzen beachten. Sobald jede dieser Sphären für sich selbst verantwortlich sein darf bzw. für das Verantwortung übernehmen muß, was sie zu leisten hat, ist dem unseligen Lobbyismus der Boden entzogen, der heute das Recht des Stärkeren zementiert. Und wenn das normen-setzende Parlament sich auf die Findung von Normen beschränken darf, die direkt mit dem menschlichen Rechtsempfinden zusammenhängen, wird vielleicht auch dieses Parlament von einem Theater sich bekämpfender Sekten[1] zu einer Versammlung wahrer Politiker, die nur ihrem eigenen Gewissen verpflichtet sind.

Fußnoten


[1] Eine Partei (lat. pars = Teil) vertritt immer bestimmte Sonderinteressen und hat Zielgruppen unter der Wählerschaft. Dem Wortsinn nach kann man ebensogut von Sekten sprechen (lat. sector = Ausschnitt), zumal der Zwang zu unbedingter Gefolgschaft immer erschreckendere Ausmaße annimmt.