25.07.2004

Die gegenwärtige „Reformdebatte“ und ihre Entlarvung

Entwurf eines Wahlkampf-Papiers für die „Wahlalternative“ (AG Wirtschaft).


Seit wenigen Jahren beherrscht eine Debatte die öffentliche Diskussion, die die Menschen verunsichert und von der Mehrheit nicht verstanden wird – mit Recht.

Da wird gesagt: „Wir“ müssen uns von liebgewordenen „Besitzständen“ trennen, die „Lohnnebenkosten“ müssen gesenkt werden, der Sozialstaat müsse „verschlankt“ werden, das Gesundheitssystem sei zu „reformieren“, der Einzelne müsse „mehr Verantwortung“ übernehmen. Der Sozialstaat sei in seiner bisherigen Form nicht mehr aufrechtzuerhalten, jeder müsse sich auf „Einschnitte“ einstellen und so weiter.

Warum das alles? Es wird gesagt: Der „Standort Deutschland“ sei sonst nicht mehr wettbewerbsfähig, die Arbeitslosigkeit könne sonst nicht bekämpft werden, angesichts einer „alternden Gesellschaft“ würde sonst bald alles zusammenbrechen.

Wir werden zeigen, daß dies falsche Behauptungen sind – aufgestellt aus Unwissen oder als bewußte Halbwahrheit oder Lüge, um ganz bestimmten Interessen zu dienen.

Schon die Kohl-Regierung hat verschiedene Steuern abgeschafft, die vor allem die Reichen belastet hatten. Schröder senkte den Spitzen­steuersatz, strich die Besteuerung von Gewinnen bei Unternehmensverkäufen usw. – Viele Unternehmen zahlen keine Steuern mehr, obwohl sie Gewinne machen! Jetzt werden Millionen Arbeitslose in die Sozialhilfe abgedrängt, obwohl sie jahrelang Beiträge in die Arbeitslosen­versicherung eingezahlt hatten. Schröder läßt sich von den Arbeitgeberverbänden feiern und will den beschrittenen Weg weitergehen. Die CDU würde an der Regierung sogar noch weit drastischere Maßnahmen durchsetzen!

Der normal denkende Mensch fragt sich: Wenn es sich wirklich um „Reformen“ und sinnvolle „Einschnitte“ handelt, dann müßte die Wir­kung doch irgendwann sichtbar sein? Wenn man den „Arbeitgebern“ jahrelang nur entgegenkommt, wenn die Reallöhne im Gegensatz zu den Unternehmensgewinnen schon lange nicht mehr steigen, wenn Millionen in diesem Land in die Armut gedrängt und auf Arbeitsämtern (oder Agenturen) schikaniert werden – dann müßte die Arbeitslosigkeit doch irgendwann abnehmen, anstatt immer weiter zu steigen? Oder sind es etwa ganz vergebliche Maßnahmen, die zwar Gewinne mehren, aber keineswegs zu mehr Arbeitsplätzen führen?

Die „Reformdebatte“, die ständig wiederholten Forderungen, die in Zeitungen, Interviews, Talkshows und wo sonst noch immer wiederkehren, das alles ist rational nicht mehr zu begreifen. Diese Diskussion hat überhaupt keinen Bezug mehr zu den realen Lebensumständen von Millionen Menschen und sie leistet keinen Beitrag zu den wirklichen Problemen: Arbeit und Gerechtigkeit.

Die „Reformdebatte“ nährt sich selbst, „Experten“, „Fachleute“, Politiker und Presse spielen sich gegenseitig den Ball zu. Was einer gesagt hat, wird von anderen aufgegriffen und bestätigt. Dennoch sind es immer die gleichen Menschen, die als „Meinungsbildner“ auftreten. Wer etwas anderes behauptet oder auf Unstimmigkeiten, Widersprüche oder klare Fehlaussagen hinweist, wird totgeschwiegen – in den großen Medien nicht zitiert, in Talkshows nicht eingeladen. Wenn aber dieselben Behauptungen fünfmal in der Zeitung zu lesen waren, bleibt den meisten Menschen kaum etwas übrig, als das Gesagte für Wahrheit zu nehmen. Es brauchen nur viele das Gleiche zu sagen, dann wird Lüge zur Wahrheit, wußte schon George Orwell.

„Wir müssen...“, damit wir „wieder mehr Arbeit“ haben und „wieder wettbewerbsfähig“ werden. Wirkungszusammenhänge werden nicht erläutert, es bleibt bei Behauptungen. Was allein die Hartz-Debatte angerichtet hat, merkt keiner der „Meinungsführer“: Millionen Menschen, die bisher noch mit ihrer Arbeit zufrieden waren, haben inzwischen nur noch Angst um ihren Arbeitsplatz und leiden an einem völlig veränderten Betriebsklima. Diejenigen, die keine Arbeit haben, kommen sich endgültig wie Ausgestoßene vor. Die angeblichen „Faulenzer“, die sich bisher von der Arbeitslosen- oder Sozialhilfe ein „schönes Leben“ gemacht haben. Wie weit können sich Schröder, Merkel, Hartz und Co wohl noch von der Lebenswirklichkeit der Betroffenen entfernen!?

Man verlangt „Mut zu Reformen“, ist aber meilenweit davon entfernt, wirklich darüber nachzudenken, wohin die Reise gehen soll und ob die Route zum behaupteten Ziel führt. Doch wer Zweifel äußert oder zu Vorsicht mahnt, wird zum „Betonkopf“ und „Besitzstandswahrer“ erklärt. Dennoch merken die meisten noch immer nicht, wie weit wir uns schon von einer offenen Diskussion und einem demokratischen Pluralismus entfernt haben. Teilweise erinnern die Verhältnisse an die Inquisition des Mittelalters oder an futuristische Meinungs-Diktaturen.

Uns geht es ebenfalls um ein klares Ziel: Arbeit und Gerechtigkeit. Wie wir sehen werden, können diese beiden Aspekte nicht getrennt betrachtet werden. Oberster Grundsatz ist für uns Wahrhaftigkeit. Dies ist das genaue Gegenteil von Opportunismus, aber auch von Ideologie und Dogmatismus. Wir wollen Arbeit und Gerechtigkeit mit Maßnahmen erreichen, die wirklich zum Ziel führen und schon von Anfang an diesem Ziel näherkommen. Wir lehnen die Argumentation „wenn `wir´ erst Einschnitte ertragen haben, dann wird es uns auch wieder besser gehen“ als irreführend, unsachgemäß und ideologisch ab.

Widerlegung verbreiteter "Reformvorschläge"

Betrachten wir die verbreiteten Behauptungen und „Lösungsvorschläge“, um sie zu widerlegen: a) „Deutschland muß wettbewerbsfähiger werden“, b) „Die Lohnnebenkosten müssen sinken, um die Inlandskonjunktur anzuregen“, c) „Der Staat muß schlanker werden und sparen“, d) „Der Arbeitsmarkt muß flexibler werden“, e) „Deutschland überaltert - das Rentensystem muß privatisiert werden“.

 

a) „Deutschland muß wettbewerbsfähiger werden“

Deutschland ist Export-Weltmeister! Wie wettbewerbsfähig soll es noch werden? Erstmals seit der deutschen Einheit haben die Exporte sogar die der viel größeren USA wieder überholt – und machen mittlerweile 10% des gesamten Welthandels aus! Jährlich übersteigt der Wert der Exporte den der Importe um rund 100 Milliarden Euro (Außenhandelsüberschuß). Deutschland ist Weltspitze bei der Nutzung und der Qualität von Informations- und Kommunikationstechnologie durch Unternehmen. Und bei den Innovationen: Beim Europäischen Patentamt werden jährlich rund 20.000 deutsche Patente angemeldet, dreimal so viel wie der stärkste europäische Konkurrent Frankreich. In bezug auf die Produktivität der Wirtschaft liegt Deutschland vor den USA und weit vor Großbritannien oder Japan. Im übrigen ist Deutschland inzwischen auch vor Frankreich das für ausländische Investoren attraktivste Land der EU.

Das Argument der „Wettbewerbsfähigkeit“ zielt also einzig und allein auf die „Lohnkosten“. Wollten wir aber mit den Löhnen der Billiglohnländer in Osteuropa und Asien konkurrieren, dann wäre Hartz IV nur der Auftakt zu einer Armutsspirale für alle Arbeitnehmer in Deutschland und damit zu einem völlig unverhüllten Kapitalismus.

Wenn Großkonzerne wirklich ins Billigausland abwandern wollen – sollen sie es tun! Je eher, desto besser, nicht erst nach einem Hartz V oder VI. Nach einer wirklichen Reform werden kleine und mittlere Unternehmen nachrücken, ohne daß Deutschland weiter in ein Billiglohnland mit Riesenprofiten für wenige verwandelt wird.

b) „Die Lohnnebenkosten müssen sinken, um die Inlandskonjunktur anzuregen“

Auch hier ist die erste Frage, die gestellt werden muß: Regen sinkende Lohnkosten die Unternehmen wirklich zu neuen Investitionen an, die auch Arbeitsplätze schaffen? Oder geht es bei dieser Forderung nur um die Steigerung der Gewinne?

In den letzten 20 Jahren stiegen die Reallöhne einschließlich der Lohnnebenkosten deutlich geringer als die Produktivität. In vielen Branchen machen die Lohnkosten nur einen kleineren Teil der gesamten Kosten aus – eine Senkung der Lohnnebenkosten würde in jedem Fall die Gesamtkosten nur um einen Bruchteil senken (oder will man etwa die Lohnnebenkosten ganz streichen und auch die Löhne weiter senken?).

Wenn man den Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Lohnnebenkosten direkt vergleichen wollte, könnte man auch gleich den Rückgang der Störche und der Geburten in Verbindung bringen! Denn Investitionen und damit Arbeitsplätze hängen von vielen Faktoren ab: Vom erwarteten und vom tatsächlichen Umsatz und Gewinn, von der Entwicklung der Zinsen, der Qualifikation möglicher Arbeitnehmer, der Steuerbelastung und auch von den Lohn- und Lohnnebenkosten.

Daß die Löhne sehr zurückhaltend gestiegen sind und angesichts der Inflation teilweise sogar gesunken sind, wurde eben erwähnt. Die Unternehmensgewinne sind jedoch kontinuierlich gestiegen! Das heißt, selbst bei steigenden Gewinnen werden inzwischen oft keine Arbeitsplätze mehr geschaffen, sondern nur die Profite einbehalten!

Ein weiterer Faktor für Investitionen ist das allgemeine Wirtschaftsklima. Niemand wird investieren, wenn alle von einer Rezession sprechen. Deutschland hat wirtschaftlich beste Bedingungen, doch eine „meinungsbildende“ Koalition redet diese schlecht, um ihre „Reformen“ durchzusetzen. Alle ökonomischen Denkschulen aber (Adam Smith, Schumpeter, Keynes...) wissen, daß für gute Wirtschafts­entwicklung eine optimistische Sicht auf die Zukunft mit die wichtigste Bedingung ist. Mit anderen Worten: Die angeblichen „Mahner“ und „Modernisierer“ sind in Wirklichkeit Schwarzmaler, die die Krise erst herbeiführen. Weil sie sie herbeireden! (Dies gilt natürlich auch für ausländische Investoren. Vor einem Jahr fragte Der Spiegel, warum japanische Autohersteller ihre Werke in Großbritannien und Frankreich bauten und zitiert Porsche-Chef Wiedeking: „Bei uns haben zu viel zu lange den Standort schlechtgeredet.“)

Mit der Umsatz-Erwartung als Faktor für neue Investitionen sind wir schließlich am entscheidendsten Punkt angelangt. Deutschland gerät in die Krise vor allem deshalb, weil die Massenkaufkraft stetig abnimmt. Immer weniger Menschen können sich das leisten, wonach sie eigentlich Bedarf hätten. Immer mehr Menschen können sich nicht einmal mehr das leisten, was für viele andere zu einem nur niedrigen Lebens­stan­dard zählen würde! Das betrifft nicht nur jene, die keine Arbeit haben. Das betrifft auch jene, die „Billigjobs“ haben, in denen sie etwa im Wachdienst oder als Putzfrau weit über 40 Stunden pro Woche arbeiten müssen, um überhaupt an 1000 Euro Nettoverdienst heranzukommen, von ähnlich niedrigen Löhnen in vielen anderen Branchen ganz zu schweigen. Wenn die Menschen aber nicht mehr das kaufen können, was sie eigentlich brauchen, dann kommt es zur allgemeinen Wirtschaftskrise.

Ein Großteil der kommenden Krisen beruht auf der Verteilungsungerechtigkeit. Es ist Unrecht, den „Billiglohnsektor“ weiter auszubauen, weil ein solcher Sektor überhaupt ein menschenunwürdiges Unrecht ist. Heute verdienen in Deutschland die reichsten 10% fast ein Drittel des Volkseinkommens, die reichsten 20% fast die Hälfte, die unteren 60% (!) ebenfalls nur ein knappes Drittel, und das ärmste Fünftel unter 6%. Das bedeutet zum Beispiel: Würde das Einkommen der reichsten 10% um nur 10% sinken, könnte das der ärmsten 20% um die Hälfte steigen. Am schnellsten stiegen die Gehälter für sogenannte Spitzenmanager. Für deren Jahresgehalt müßte ein Facharbeiter teilweise 100 Jahre und mehr arbeiten. Niemand kann behaupten, daß die Arbeit der Manager so viel mehr wert sei – nicht einmal für das einzelne Unternehmen! Weitere Kürzungen fordert man jedoch nur von denen, die schon jetzt am wenigsten erhalten.

Fazit: Die Löhne müssen steigen, um zu mehr Leistungsgerechtigkeit zu kommen! Dies würde ganz nebenbei auch die Wirtschafts­krise beenden.

c) „Der Staat muß schlanker werden und sparen“

Deutschland hat heute bereits eine der niedrigsten Steuerquoten unter vergleichbaren Ländern. Der Anteil des Staatssektors an der Wirtschaftsleistung ist nicht höher als 1975, im Westen sogar niedriger. Eine Privatisierung der Sozialversicherung ließe den Staatssektor schlagartig schrumpfen, ohne daß aber tatsächlich mehr Geld für den Konsum bliebe. In den stärker privat finanzierten USA brauchen die Sozialausgaben einen ähnlich hohen Anteil der Wirtschaftsleistung auf – bei oft schlechteren Leistungen! Für Polizei oder Verwaltungspersonal hat Deutschland nicht mehr Ausgaben als die USA.

Ein „Sparkurs“ in Zeiten drohender Wirtschaftskrise führt diese erst recht herbei – am Ende steht ein weiterer Verlust an Volkseinkommen, höhere Arbeitslosigkeit und mehr statt weniger Schulden für alle. Man kann hier an die Verhältnisse im deutschen Reich erinnern, die direkt in die Nazizeit geführt haben. Man kann auch fragen, was leichter zu ertragen ist: 5% Inflation oder 5% mehr Arbeitslosigkeit? Doch diese Fragen sind für die herrschende „Ökonomie“ geradezu ein Tabu. Man sollte aber wenigstens auf einen Wirtschafts-Nobelpreisträger hören. Joseph Stiglitz, einer der wichtigsten Wirtschaftsberater Clintons, beschreibt in seinem neuen Buch „The Roaring Nineties“, wie Clinton aus einer Rezession heraus das Haushaltsdefizit abbaute, die Wirtschaft ankurbelte und die Arbeitslosigkeit senkte: Durch niedrigere Zinsen, größere Bereitschaft der Banken zur Kreditvergabe, Ausbildung von Zukunfts-Vertrauen, Verringerung der Einkommensungleichheit, Steuererhöhungen überwiegend für die „Reichen“! Genau das Gegenteil geschieht derzeit in Deutschland.

Nicht zuletzt von den Kürzungen betroffen ist auch das Bildungswesen, das schon jetzt darniederliegt und immer mehr an Qualität verliert. Dabei sind Kinder, Jugendliche und Studenten die Zukunft! Kurzsichtiger kann man nicht handeln. Der positive Sinn des „Sparens“ (nämlich für Zukunftsinvestitionen) ist hier am eindeutigsten in sein Gegenteil verkehrt worden. Die sogenannte Staatsquote ist etwa in Schweden und Finnland sehr viel höher als in Deutschland. Nachdem diese Wohlfahrtsstaaten in den 80ern in eine tiefe Krise gerieten, verteilten sie die notwendigen Einschnitte in die Sozialsysteme gleichmäßig auf alle. Zugleich investierten sie langfristig mehr als alle anderen Länder in Forschung und Bildung. Heute hat das Wirtschaftswachstum zugelegt und die Arbeitslosigkeit ging zurück. Vor allem aber haben diese Länder eine ausgeglichene Einkommensverteilung und eine exzellente Ausbildung für alle. Die hohe Steuerbelastung ist hier nicht Teil irgendeines Problems, sondern Teil der Lösung.

Was die Privatisierungs-Debatte angeht, sind ganz klar Profit-Interessen ausschlaggebend. Die Privatisierung der öffent­lichen Daseinsvorsorge ist oft mit weniger und schlechterem Service verbunden – und führt teilweise sogar zu lebensgefährlichen Zuständen, wie das Beispiel der englischen Bahn zeigt. Solange die Rahmenbedingungen nicht stimmen, wird jegliche Privatisierung fast immer nur zu einer Abwärtsspirale in bezug auf Qualität und Angebot führen. Dennoch ist die (von Profit-Interessen gesteuerte) Debatte um „Öffentlich oder Privat“ in Deutschland über weite Strecken von einer Staatsfeindlichkeit geprägt, die teilweise schon fast verfassungsfeindlichen Charakter hat.

d) „Der Arbeitsmarkt muß flexibler werden“

Das heißt doch wohl: Die Arbeitnehmer müssen „flexibler“ werden. Sie müssen noch mehr zu jeder Zeit an jedem Ort zu allen Arbeitsbedingungen und zu jedem Lohn zur Arbeit bereit sein. Nicht nur die Sozialhilfe-Empfänger, die quasi schon mit Zwangsarbeit konfrontiert werden können, sondern alle. Warum? Damit ein paar Arbeitslose doch wieder eingestellt werden, obwohl sie eigentlich überflüssig sind, weil sie keine weitere Rendite erbringen. Diese Flexibilisierungs-Debatte geht in eine völlig falsche, unmenschliche Richtung.

Im übrigen stieg im Westen die Zahl der Arbeitsplätze seit 1995 kräftig an und geriet erst durch die weltweite Konjunkturkrise ins Stocken. Im Osten sank die Zahl der Arbeitsplätze dagegen in fast jedem Jahr – und ausgerechnet dort sind inzwischen 90% der Unternehmen nicht mehr an den Flächentarif gebunden! Flexibilisierung schafft also keine Arbeitsplätze, sie macht jedoch aus bisher guten Arbeitsplätzen schlechte.

Eine echte Flexibilisierung wäre es zum Beispiel, wenn Teilzeit-Modelle ausgebaut würden. Genau das würde nämlich auch Arbeitsplätze schaffen. Selbst die OECD schätzt den Anteil von Arbeitszeitverkürzung am Rückgang von Arbeitslosigkeit auf 20%. Statt dessen wird jetzt wieder die 40- oder gar die 50-Stunden-Woche gefordert – ein reiner Irrsinn!

e) „Deutschland überaltert - das Rentensystem muß privatisiert werden“

2050 werden in Deutschland immer noch viel mehr Menschen leben als 1950. Zwar lag 1950 der Anteil der unter 20-Jährigen bei 30% und 1995 nur noch bei 22%. Doch wenn die Arbeitsproduktivität jährlich um nur 1,5% steigt (was selbst Pessimisten für realistisch halten), können auch in Zukunft alle an einem weiter wachsendem Wohlstand teilhaben! Doch solche Überlegungen werden ignoriert.

Vor allem aber: Das „demografische Problem“ kann durch eine Änderung des Finanzierungssystems nicht gelöst werden! Ob die Alters­si­cherung über Steuern oder über private Ausgaben finanziert wird – der Aufwand ist rechnerisch der gleiche. Ein Interesse an der Priva­tisie­rung haben allein die Versicherungsunternehmen. Sie allerdings erwarten gigantische Profite und treiben die Debatte in der von ihnen gewünschten Richtung machtvoll voran! Dabei liegen die Verwaltungs- und Vertriebskosten beim privat finanzierten Kapitaldeckungsverfahren 3-4x höher als beim jetzigen Umlageverfahren. Und die Qualität privater Lösungen ist nicht besser (Beispiel USA).

Die Meinungsmacher – zwei Beispiele für „Reforminitiativen“ und ihre Public Relations

Die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) wurde im Jahr 2000 von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie aus der Taufe gehoben und mit 50 Millionen Euro ausgestattet. Um als Finanzier nicht in Erscheinung zu treten, gründete man pro forma ein Kuratorium, dem unter anderem Edmund Stoiber und Ex-Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer angehören. Die INSM warb in einer flä­chen­deckenden Anzeigenkampagne unter anderem mit Lothar Späth und Uli Hoeneß und dem Slogan „Sozial ist, was Arbeit schafft“. Regelmäßig versendet INSM Themenvorschläge an Dutzende Fernsehsender. Die Strategiezentrale in Köln ist eine von Dieter Rath (Ex-Pressechef des BDI) und Tasso Enzweiler (Ex-Chefreporter der Financial Times) geleitete „Agentur für strategische Öffentlich­keits­arbeit“. In bezug auf das „Fachwissen“ beruft sich die INSM auf das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln. Im Vorstand sitzen mehrere Hauptgeschäftsführer der Metall- und Elektroindustrie und ein Tochterunternehmen des institutseigenen Verlages ist eben jene Agentur...

2003 machte der „Bürgerkonvent“ Schlagzeilen, dessen Urheber ebenfalls im Dunkeln bleiben. Sprecher des „Bürgerkonvent“ ist Meinhard Miegel, ein aus Talkshows bekannter Wirtschaftsprofessor. 1977 gründete er mit Kurt Biedenkopf das neoli­be­rale Bonner Institut für Wirtschaft und Gesellschaft (IWG, voll finanziert durch die Deutsche Bank) und weist seit 20 Jahren darauf hin, daß wegen Überalterung die Rente künftig nur noch auf Sozialhilfeniveau finanzierbar ist. Außerdem ist Miegel Berater der Versicherungsbranche... Geschäftsführer des „Bürgerkonvent“ ist Gerd Langguth (in den 90er Jahren geschäftsführender Vorsitzender der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung). In die Schlagzeilen kam der „Bürgerkonvent“ durch eine 6-Mio-Euro-Kampagne im Mai 2003. Diese wurde angeblich völlig unabhängig vom „Bürgerkonvent“ durch die Agentur „Abels & Grey“ durchgeführt, die mit dem konservativen US-Thinktank „Rand Corporation“ kooperiert.

Wahrhaftigkeit gegen strategische Lügen

Selbst im „Wirtschaftsbericht 2003“ des Bundeswirtschaftsministeriums kommt die mangelnde Binnenkonjunktur als Ursache für die Wach­stumsschwäche schlichtweg nicht vor. Dies zeigt deutlich, daß man diesen entscheidenden Faktor nicht wahrhaben will, um die Unrechts-Agenda 2010 durchzudrücken. Die Wahrheit wird entstellt und totgeschwiegen, damit bestimmte Interessen bedient werden können – auf Kosten derer, die sich am wenigsten wehren können.

Die derzeitigen Debatten werden beherrscht von einem relativ geschlossenen Kreis, dessen Macht und Einfluß alle abweichenden Meinungen unterdrückt. Die zunehmend kommerzialisierten Medien sind Teil des Problems. Erstens beruhen die Medien immer weniger auf eigenem Journalismus und werden zunehmend mit Artikeln und Analysen bedient, die nicht objektiv, sondern interessegeleitet sind. Zweitens kann in der kommerzialisierten und zentralisierten Medienlandschaft immer weniger kritischer Journalismus erwartet werden (von Verlegern wie Bauer und Springer ebensowenig wie von Murdoch oder Berlusconi). Was in wenigen Zeitungen immerhin noch steht, sucht man in allen anderen vergeblich. Eine Zeitung, die ganzseitige Anzeigen von Versicherungs- und anderen Unternehmen erhält, bekommt fast von selbst eine bestimmte Ausrichtung – dazu braucht es gar nicht eine bestimmte „Zensur“ seitens des Verlegers. Hinzu kommt, daß immer weniger Medien glauben, es sich leisten zu können, aus der Reihe zu tanzen. Das Ganze kann man schon fast als „Selbst-Gleichschaltung“ bezeichnen.

Die „Meinungsführer“ der gegenwärtigen Debatte, wie der Bund der Deutschen Industrie (BDI) geben keineswegs die Ansicht derer wieder, die sie zu vertreten behaupten, sondern nur die der großen Konzerne, die sich am meisten dem Profit verschrieben haben. Die große Zahl der Unternehmer sieht sehr wohl, daß das „deutsche Modell“ einschließlich der Rechte von Arbeitnehmern eine wichtige Stütze der Produktivität und Exportfähigkeit ist. Immer mehr Menschen ist auch soziale Gerechtigkeit bzw. Leistungsgerechtigkeit ein Anliegen an sich. Wer aber von „Leistungsgerechtigkeit“ spricht und im selben Atemzug einen „Niedriglohnsektor“ fordert, der benutzt Sprache zur Täuschung und instrumentalisiert andere Menschen für seine Profitgier.

Sofern die Akteure der „Reformdebatte“ an ihre Konzepte wirklich glauben, sind sie zu bedauern. Sie sind Gefangene der fixen Idee, „Struk­turreformen“ würden helfen, obwohl sie alles nur viel schlimmer machen und der zentralen Idee sozialer Gerechtigkeit widersprechen. Sei es, daß einige Opfer von Denkfehlern oder einfach nur Mitläufer der „Reformlüge“ sind: Wie Drogenabhängige wollen sie, sobald das Ziel verfehlt wurde, die Dosis erhöhen – statt nachzudenken, ob sie nicht vielleicht auf dem völlig falschen Weg sind.

Wie die fehlende Kaufkraft des „Normalbürgers“ werden auch verschiedene andere Faktoren totgeschwiegen, mit denen gerade Deutschland zu kämpfen hat. Allein die Spätfolgen der schlecht gestalteten Wiedervereinigung sind laut dem „Sachverständigenrat“ für zwei Drittel der gegenwärtigen Wachstumsschwäche verantwortlich. Als mit dem starken Wirtschaftswachstum Anfang der 90er auch die Inflationsrate anstieg, erhöhte die Bundesbank drastisch die Leitzinsen, worauf die Rezession begann. Zugleich erhöhte die Kohl-Regierung im Krisenjahr 1992 die Steuern und Sozialabgaben und erdrosselte damit die Inlandsnachfrage. Die Einführung des Euro bedeutete weiterhin, daß Deutschland mit seiner geringen Inflation die höchsten Realzinsen innerhalb der EU hat. Und als 2003 fünf große deutsche Banken hohe Verluste verzeichneten, reduzierten sie die Kreditausgabe erstmals seit der Nachkriegszeit. Diese Faktoren sind für die deutsche Wirtschaft tatsächlich problematisch, ohne daß auf sie einmal hingewiesen wird. Bei einer Umfrage des manager magazins unter 350 Mittelständlern in wirtschaftlichen Schwierigkeiten gaben 40% an, die Kreditvergabe sei ein Hauptproblem. Der Arbeitsmarkt rangierte weit dahinter, und nur 15% hielten den Flächentarifvertrag für hinderlich.

Die Forderungen nach Billiglohnsektor und „Flexibilisierung“ werden von denen gestellt, die gar keine wirtschaftlichen Probleme haben, sondern nur noch mehr Profit erzielen wollen!