05.08.2004

„Working poor“

Über das Buch von Barbara Ehrenreich: Arbeit Poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft. Rowohlt, 2003. 

Barbara Ehrenreich wollte dem Phänomen der „Working poor“ auf den Grund gehen und versuchte einige Monate lang, als „ungelernte Arbeitskraft“ Einkommen und Ausgaben in Deckung zu bringen. Sie arbeitete als Serviererin in Florida, als Putzkraft in Maine und als Verkäuferin in Minnesota.


Studien kamen zu dem Ergebnis, daß ein Erwachsener mit zwei Kindern ein Jahreseinkommen von 30.000 Dollar bzw. einen Stundenlohn von 14 Dollar benötigt. 60% der Amerikaner verdienen weniger... Fast 30% arbeiten für einen Stundenlohn von maximal acht Dollar, doch konnte man sich schon 1998 im Schnitt erst mit neun Dollar eine Zwei-Zimmer-Wohnung leisten.  

„Arbeit poor“ als Serviererin

Zunächst arbeitet Barbara Ehrenreich zwei Wochen lang als Bedienung für 2,43 Dollar pro Stunde plus Trinkgeld. An manchen Tagen kommen sie und ihre Kolleginnen auf diese Weise nur auf den gesetzlichen Mindestlohn von 5,15 Dollar. Sie wohnt in einer Billigbehausung, die fast 50 km von ihrem Job entfernt liegt, für 500 Dollar im Monat. Damit geht es ihr noch gut: Eine Kollegin von der Frühschicht zahlt für einen Ein-Personen-Trailer, den sie zusammen mit ihrem Freund bewohnt, pro Woche 170 Dollar. „Billy, der mit 10 Dollar Stundenlohn am meisten Geld hat, besitzt einen eigenen Trailer und zahlt deshalb nur eine Stellplatzmiete von monatlich 400 Dollar. ... Tina und ihr Mann zahlen 60 Dollar pro Nacht für ihr Doppelzimmer in der Pension Days Inn. Mangels Auto haben sie keine andere Wahl... Die Hosteß Joan...wohnt in einem Lieferwagen, den sie nachts hinter einem Einkaufszentrum parkt. Sie duscht in Tinas Motelzimmer...“ Überall ist auch kleinster Wohnraum extrem teuer, „wo die Touristen und die Reichen mit den Leuten, die ihre Toiletten putzen und ihre Bratkartoffeln zubereiten, um knappen Wohnraum konkurrieren.“

Viele ihrer Kolleginnen sind zu den viel teureren Wochenmieten gezwungen, weil sie sich die hohe Anfangsausgabe einer Monatsmiete und Kaution für eine Wohnung nicht leisten können. Die Armen zahlen am Ende immer noch drauf: „Und wenn du nur einen Raum hast – mit bestenfalls einer Kochplatte –, kannst du nicht sparen, also etwa Riesenmengen Linseneintopf kochen, den du für den Rest der Woche einfrieren kannst. Statt dessen ißt du Fastfood...“. Der Freund einer Kollegin verlor seinen Job wegen zu langer Krankheit, nachdem er eine Schnittwunde am Fuß erlitten hatte und sich die verschriebenen Antibiotika nicht leisten konnte.

Findet Sie unter ihren Kolleginnen nun aber minderbemittelte Menschen, die dumpf dahinleben? Keineswegs. Sie stößt aber auf ein zweifaches Phänomen. Zum einen nehmen ihre Kolleginnen ihre Lage gleichsam als naturgege­ben hin und verteidigen oft noch die Ausbeutungsverhältnisse. Zum anderen begegnet Barbara Ehrenreich gerade hier tiefer Mitmenschlichkeit. Von einer Frau berichtet sie: „Von ihrem eigenen Trinkgeld kauft sie Kekse und Fleisch­soße für einen arbeitslosen Mechaniker, der sein ganzes Geld zum Zahnarzt getragen hat...“ In einer Wohnung sah sie ein Poster mit den Worten: „Wenn du das Glück für dich selbst suchst, wirst du es nie finden. Nur wenn du das Glück für andere suchst, wird es auch zu dir kommen.“ – Diese „Working poor“ können sich nicht die für andere Menschen normalste Ausgabe leisten. Barbara Ehrenreich fällt bald auf, „daß keine der Kolleginnen je von potentiell kostspieligen Unternehmungen wie einem Kinobesuch oder einem Einkaufsbummel berichtet. Als einziges Freizeitvergnügen erwähnen sie private Partys, wozu man nicht viel mehr braucht als ein Bier, einen Joint und ein paar gute Freunde.“

Die reale Arbeitssituation ist oft katastrophal. Wenn die Tische im Restaurant in den regelmäßig wiederkehrenden Stoßzeiten voll besetzt sind, hilft nichts anderes, als „jede Schicht wie eine einmalige Notstandsübung anzugehen... Vergiß, daß du es morgen wieder machen mußt... Im Idealfall setzt irgendwann das ein, was...die Psychologen einen flow state nennen, bei dem die Signale direkt...von den Sinnesorganen in die Muskeln gelangen, was eine Zen-artige Empfindung der Leere bewirkt.“ Dennoch reicht ihr Lohn nicht zum Überleben und sie nimmt einen Zweitjob an. „Alle meine Kolleginnen, die nicht mit einem berufstätigen Ehemann oder Freund zusammenleben, scheinen einen zweiten Job zu haben.“ Außerdem sucht sie eine näher gelegene Wohnung: „Trailer Nummer 46 ist etwa 2,40 m breit, aber der Innenraum hat den Grundriß einer Kugelhantel: ein durch Spülbecken und Herd verengter Gang bildet die Verbindung zwischen der Schlafkoje und dem anderen Bereich... Dies ist keine Gegend für Menschen im eigentlichen Sinne, sondern für eine Art Arbeitskraftkonserven, die zwischen den Schichten so gelagert werden, daß sie die Hitze überstehen.“

Die nächste Stufe in der Hierarchie nehmen kleine „Manager“ ein, die ehemals die gleichen Arbeiten verrichtet haben, deren Aufgabe jetzt aber bei einem Wochenlohn von rund 400 Dollar darin besteht, das Verhalten der anderen ständig auf Anzeichen von Faulheit, Diebstahl, Drogenmißbrauch oder noch Schlimmerem zu beobachten. Dazu kommt das Verbot von „Klatsch“, worunter jedoch alles zählt, was die Angestellten untereinander reden. Es geht einfach um ein Redeverbot. Kein Arbeitgeber will, daß die Menschen etwa über die Löhne zu sprechen beginnen – oder aber anfangen, einander ihre gesund­heitlichen Probleme zu erzählen. „Beim Eintritt in das Reich der Niedriglöhne...gibst du deine Bürgerrechte an der Pförtnerloge ab...und lernst, das Maul zu halten, bis deine Schicht zu Ende ist.“

Barbara Ehrenreich merkt bald, daß sich ihr Wesen verändert. In einem Streit des Managers mit einem Kollegen ergreift sie nicht dessen Partei, obwohl er ungerechtfertigt verdächtigt wird. „Warum...habe ich mich nicht eingemischt? ... Es hatte sich ein ganz neuer Zug, etwas ekelhaft Serviles an mich ge­heftet...“ Die zwei Vollzeit-Schichten hält sie nur mit größter Mühe durch: „Um acht Uhr schnappen Ellen und ich uns einen Imbiß..., aber ich schaf­fe nur zwei oder drei Mozzarella-Scheiben, obwohl ich zu Mittag nur eine Handvoll McNuggets gegessen habe. Ich rede mir ein, überhaupt nicht müde zu sein, aber vielleicht ist da einfach kein „Ich“ mehr übrig, das meine Übermüdung registrieren könnte.“ Als dann in einer Schicht wieder das abso­lute Chaos ausbricht und sie mit dem Koch aneinandergerät, kann sie nicht mehr: „Ich gehe. Ich verlasse meinen Arbeitsplatz nicht unter Protest, nein, ich gehe einfach. ... Mein Auszug verläuft ohne Rechtfertigungsorgie..., ich verspüre lediglich ein übermächtig dumpfes Gefühl des Scheiterns...“

... als Putzfrau

Als nächstes versucht sie es in Maine. „Für 120 Dollar pro Woche kann ich ein Wohn-Schlafzimmer haben, an das eine Küche angebaut ist.“ Bei den Vorstellungsgesprächen geht es äußerst unpersönlich zu, manch eine Sekretärin bringt vor dem „Interview“ nicht einmal einen kurzen Gruß über die Lippen. Dafür kehren immer dieselben Fragen wieder, die die Gesinnung der künftigen Angestellten prüfen wollen und auch der Einschüchterung dienen. Barbara Ehrenreich weiß sofort, wie die Fragen beantwortet werden müssen: „Arbeite ich gut mit anderen Angestellten zusammen? Aber gewiß doch, wenn auch nie so gut, daß ich zögern würde, die Geschäftsführung über das kleinste Vergehen zu informieren. Bin ich fähig, selbständige Entscheidungen zu treffen? O ja, aber das heißt natürlich nicht, daß mich diese Fähigkeit je an der sklavischen Befolgung dienstlicher Befehle hindern könnte.“ Obwohl zahllose Unternehmen Arbeitskräfte suchen, gibt es auch hier überall nur sechs bis sieben Dollar in der Stunde. Oder gerade deswegen? Ehrenreich über die angebliche Selbstregulierung des „Marktes“ sarkastisch: „Die neue Version des Gesetzes von Angebot und Nachfrage besagt demnach: Die Jobs sind so...schlecht bezahlt, damit sich die Arbeitsuchenden gezwungen sehen, so viele Jobs anzunehmen, wie sie nur können.“ Außerdem kam ihr angesichts der Drogentests, bei dem Arbeitssuchende einen halben Tag verbringen, um irgendwohin zu fahren, zu warten und dann teilweise unter Aufsicht urinieren zu müssen, „der Gedanke, daß diese Drogentests unter anderem die Wirkung haben, die Arbeitskräfte an einem allzu häufigen Jobwechsel zu hindern. Und vielleicht ist das sogar ihre beabsichtigte Funktion.“

„Nachdem ich meine Bewerbungen zwei Tage lang über den Großraum Portland ausgestreut habe, zwinge ich mich, in meinem Zimmer im Motel...auf das Telefon aufzupassen.“ Als sie dann einen Job hat, zieht sie aus dem elenden Motel um in eine etwas bessere Behausung. Doch auch da muß sie „da das Bad nur einen guten Meter von dem winzigen Küchentisch entfernt ist, die Tür geschlossen halten, um nicht das Gefühl zu haben, in einer Latrine zu essen; zweitens ist das Kopfende des Betts nur zwei Meter vom Herd entfernt...“ Und dabei sind die meisten Mieter dieser Wohnsiedlung Ehepaare mit Kindern! Als Putzkraft verdient sie 6,65 Dollar, während ihr Arbeitgeber jede Putzkraft für 25 Dollar pro Stunde vermittelt. Auch hier wieder dieselbe Armut unter ihren Kolleginnen. Eine ißt in den Pausen kaum etwas: „Sie sagt immer nur, es sei eben nichts anderes im Haus gewesen..., aber in Wirklichkeit hat sie schlicht kein Geld für ein Mittagessen. Das wird mir klar, als ich ihr Mineralwasser von einem Supermarkt mitbringen will und sie zugeben muß, daß sie die 89 Cents nicht hat.“

Weil die Putzkräfte an ihren Einsatzorten weder essen noch trinken dürfen, ändert sich die Sicht auf die Dinge nochmals grundlegend: Barbara Ehrenreich kommt „die Frage, ob Mrs. W. jemals wird begreifen könne, daß jeder Fummel und jedes Objekt, das ihr einzigartiges, ganz individuelles Ich ausdrücken soll, aus der Sicht einer Putzfrau nur den Zeitpunkt hinausschiebt, an dem sie endlich ein Glas Wasser trinken kann.“ Dazu kommen weitere demütigende Arbeitsbedingungen: „`Wir reinigen die Böden auf die altmodische Weise – auf unseren Händen und Knien´, tönt eine Konkurrenzfirma in ihrem Werbeprospekt.“ – Die Arbeit der Putzfrau ist so mißachtet, daß die an ihrer Kleidung kenntlichen Frauen auch woanders wie ein Nichts behandelt werden: Einmal versuchte Ehrenreich, „an der Theke für das ganze Team Eistee zu bestellen, aber die Kellnerin stand wie angewurzelt da und unterhielt sich mit einer Kollegin. Mein mehrfaches „Entschuldigen Sie“ wurde einfach überhört. Ähnlich erging es mir in dem Supermarkt...“

Die Gesundheit der Angestellten wird gnadenlos geopfert: „Ich weiß zwar nicht, wie meine Kolleginnen mit ihrem Geld klarkommen..., aber ich weiß alles über ihre Rückenschmerzen, ihre Wadenkrämpfe, ihre Arthritis-Anfälle. ... Wenn ich in der Lage bin, stundenlang durchzuarbeiten, so verdanke ich dies allein der überdurchschnittlichen medizinischen Versorgung, die ich über Jahrzehnte genossen habe, sowie einer proteinreichen Kost und meinen regelmäßigen Trainingseinheiten im Fitneß-Center... Wenn ich momentan ein produktives Mitglied der Arbeiterklasse sein kann, so nur deshalb, weil ich bislang nicht so viel harte physische Arbeit leisten mußte, daß sie meinen Körper hätte ruinieren können.“

Die Frauen nehmen ihr Schicksal als gegeben hin. Eine Frau, die sich vor lauter Eile den Fuß verstaucht, will um jeden Preis auf einem Bein weitermachen – weil sie das Geld braucht und weil sie von ihrem Mann verprügelt wird, wenn sie Ausfallstunden hat. Als Barbara Ehrenreich gegen diese Situation nichts tun kann, kündigt sie – aus Verzweiflung: „selbst jetzt...habe ich nicht den leisesten Schimmer, wie ich mich in der Situation hätte verhalten sollen. ... Nur eines weiß ich sicher: Dies war der absolute Tiefpunkt in meinem Putzfrauenleben, und wahrscheinlich nicht nur in dem.“ Von ihren Kolleginnen erntet sie nur Unverständnis: „„Aber wir brauchen dich“, sagt Marge, und dann, als hätte der Satz zu zärtlich geklungen: „Du kannst doch Ted [den Arbeitgeber!] nicht im Stich lassen.““ – Barbara Ehrenreich rätselt über die Ursprünge einer solchen Einstellung und Identifikation mit dem Arbeitgeber: „Ein neuer Arbeitsplatz bedeutet eine oder wahrscheinlich sogar zwei Wochen ohne Lohnscheck; hinzu kommt, daß unsere Schicht für Mütter besonders günstig liegt, obwohl wir in der Praxis oft erst nachmittags um fünf Uhr fertig werden. Ein weiterer, weniger greifbarer Anreiz ist die Gunst von Ted. ... Soweit ich es mir erklären kann, ist ihr Bedürfnis...eine Folge chronischer Entbehrung.“ Dazu kommt natürlich die Angst, eine bekannte gegen eine unbekannte Hölle einzutauschen, in der man zudem weder eingearbeitet ist, noch befreundete Kollegen hat. 

Noch am letzten Tag fragte sie die ehemaligen Kolleginnen, was sie von den Hausbesitzern halten, bei denen sie putzen. Eine junge Frau, die bereits mit 22 eine kaputte Bandscheibe und ein Minus von 8000 Dollar auf ihrem Konto hat, sagt: „Ich denke da immer nur, wow, so was würde ich irgendwann auch mal gerne haben. Es spornt mich an, und ich empfinde überhaupt keinen Haß oder Neid, denn mein Ziel ist ja, dahin zu kommen, wo sie schon sind.“ Eine andere: „...ich möchte was anderes, und zwar möchte ich mir ab und zu einen Tag freinehmen können... wenn ich nicht mehr kann... und dann am nächsten Tag immer noch Geld zum Einkaufen haben.“

... bei Wal-Mart

Als nächstes versucht Barbara Ehrenreich, einen Job in Minnesota zu finden, wo die Löhne bei mindestens acht Dollar liegen. Doch auch hier wieder das Problem der Mieten: „Ich könnte sofort ein Zimmer ohne Kochnische haben, aber das liegt im Kellergeschoß, und der Preis von 144 Dollar pro Woche scheint mir ein bißchen übertrieben.“ Ihre endgültige Unterkunft kostet dann sogar 245 Dollar in der Woche, was mehr ist, als sie verdienen wird. Sie landet bei der weltweit größten Einzelhandelskette Wal-Mart. Bei den „Einführungsveranstaltungen“ werden die neuen Arbeitskräfte, die offiziell als „Partner“ (!) bezeichnet werden, mit großem Aufwand gezielt eingeschüchtert. „Ein Video über „Partnerehrlichkeit“ zeigt einen Kassierer, der von der Überwachungskamera ertappt wurde, wie er ein paar Geldscheine...verschwinden läßt. Schicksalsschwere Trommelwirbel untermalen die Szenen, wie er in Handschellen abgeführt und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wird.“ In einem anderen Video „bezeugen verschiedene Mitarbeiter das „absolute Gefühl, eine einzige Familie zu sein, für das Wal-Mart so bekannt ist“, was in die Schlußfolgerung mündet, daß wir keine Gewerkschaft brauchen.“

Hier und auch bei anderen Arbeitgebern kommt die Lohnfrage (bei Wal-Mart 1.120 Dollar brutto) oder auch anderes auf geschickte Weise einfach nicht zur Sprache. Man gibt dir ein Bewerbungsformular, und ein paar Tage später gibt man dir die Arbeitskleidung und ermahnt dich...nicht zu klauen. Aber dazwischen gibt es nie einen Zeitpunkt, wo du dem potentiellen Arbeitgeber als freie Akteurin gegenüberstehst, die das Recht hat, auf ihre eigenen Interessen zu pochen.“

Als sie es auch hier wieder mit zwei Jobs versucht, hält sie das nur einen Tag durch: „Meine Knie zittern, mein Hirn ist zerlaufen wie ein Spiegelei. ... Ich nehme die Welt nur noch schnappschußartig wahr, in grellen Bildern ohne jede erzählerische Kontinuität.“ Ihre eine Arbeit ist anstrengend genug. Was die Kunden in der Kleiderabteilung hinterlassen, muß sie wieder ordnen – Einkaufswagen voll Kleider wieder an die richtige Stelle hängen. Obwohl sie bequeme Turnschuhe trägt (ihre Kolleginnen haben oft nur dünnsohlige Mokassins), tun ihr schon nach vier Stunden die Füße weh. Und auch in diesem Job verändert sich schließlich ihr Blick: „Aber irgendwann zwischen sechs und sieben Uhr, wenn das Bedürfnis, mich hinzusetzen, zur regelrechten Begierde wird, setzt eine Dr.Jekyll/Mr.Hyde-artige Verwandlung ein. ... In dieser geistigen Verfassung will ich auf gar keinen Fall eine Kundin sehen, die überall rumgrabscht und wieder alles durcheinanderbringt. ... Am liebsten würde ich die ganze Abteilung in eine riesige Plastikfolie einschweißen und zu einem sicheren Ort abtransportieren lassen, etwa in ein Museum für die Geschichte des Einzelhandels.“

Die Arbeit ist nur unter Aufgabe des Ich-Bewußtseins zu schaffen: „Und dann geschieht es – dieses magische Fließen, diese Bewegung, bei der die Kleider beginnen, sich von selber einzuräumen. ... In meinem Kopf entsteht ein Bild des Artikels, dieses Bild überträgt sich auf das äußere Gesichtsfeld, und schon bewege ich mich zu genau der Stelle, wo das Bild in der dinglichen Welt sein Pendant vorfindet.“ Und bei einer anderen Gelegenheit: „In dem einzigen Vollspiegel...sehe ich eine mittelgroße Gestalt über einen Einkaufswagen gebeugt, mit einem von grotesker Anspannung verzerrten Gesicht. Das kann ich nicht sein.“

Und auch hier findet sie unter den Kolleginnen wieder die gleiche Einstellung: Melissa, die sich nicht einmal ein fleckiges, heruntergesetztes Wal-Mart-Hemd für einige Dollar leisten kann, wird einmal für drei Stunden in eine andere Abteilung versetzt, wo sie jedoch überhaupt nicht eingearbeitet ist – und beklagt sich hinterher bei Barbara Ehrenreich: „„Ich möchte einfach nicht ihr Geld vergeuden... Sie bezahlen mich schließlich, und da drüben habe ich rein gar nichts gemacht.““

Kurz bevor sie ihren Versuch endgültig abbricht, zieht sie folgende Bilanz:

„Mir ist soeben eine bedeutende Einsicht über die Arbeit im Niedriglohnsektor gekommen...: daß nichts passiert, oder besser, daß immer das gleiche passiert, was sich dann Tag für Tag für Tag zu diesem Nichts addiert. ... Wenn du anfängst, deine Zeit stundenweise zu verkaufen, bekommst du das Entscheidende nicht unbedingt gleich mit: daß nämlich das, was du verkaufst, in Wirklichkeit dein Leben ist.“

Zwei Welten

Das unterste Zehntel in den USA verdiente im Jahr 2000 gerade sechs Dollar in der Stunde, der Reallohn lag 10% unter dem Wert von 1973! Doch die Welt der Armen kommt allen anderen nicht in den Blick: „Wenn man sich von der untersten 20-Prozent-Schicht in die oberste...begibt, ist das so, als betrete man eine Wunderwelt, in der persönliche Bedürfnisse befriedigt und auftretende Probleme gelöst werden, ohne daß man selbst viel damit zu schaffen hat. ... In dieser feinen Welt ist Schweiß zwar eine Metapher für harte Arbeit, aber nur ausnahmsweise ihre reale Folge. ... Was mich...vor allem beängstigt, ist die Erfahrung, wie rasch und wie endgültig sich das Kaninchenloch [Anspielung auf Alice im Wunderland] nach meiner Rückkehr in die obere Mittelklasse wieder hinter mir geschlossen hat. So daß ich mich selber frage: Wo warst du da? Und was hast du da gemacht? In unserer extrem polarisierten und ungleichen Gesellschaft gibt es diesen merkwürdigen optischen Effekt, der die Armen für diejenigen, die ökonomisch über ihnen stehen, nahezu unsichtbar macht.“ Nach einer neueren Meinungsumfrage sind 94 Prozent aller Amerikaner der Meinung, daß „Menschen, die ganztags arbeiten, genug Geld verdienen sollten, um ihre Familien vor der Armut zu bewahren“.

Nachdem Clinton 1996 die Sozialfürsorge drastisch reduziert hat, hoben die Medien beharrlich gelegentliche Erfolgsgeschichten hervor und spielten die eindeutig steigende Zahl der Hungernden herunter. „Um die Zeichen des sozialen Elends zu entziffern, muß man sich die Mühe machen, eine Unmenge Zeitungen...abzugrasen. Da kann man zum Beispiel die Information finden, daß die Suppenküchen im Staate Massachussetts für das Jahr 1999 eine um 72 Prozent höhere Nachfrage als 1998 zu vermelden hatten. ...daß sich in den letzten zehn Jahren in Wisconsin der Prozentsatz der „extrem armen“ Familien mit Anspruch auf Lebensmittelhilfe verdreifacht hat und nunmehr bei über 30 Prozent liegt. ... Und daß nach einer Studie...67 Prozent der erwachsenen Bürger, die Nahrungsmittelhilfe in Anspruch nehmen, Menschen mit einem Job sind – also tatsächliche „working poor““.

Auch in Deutschland liegen die Löhne heute etwa auf dem Niveau von 1976 (alte BRD), obwohl das Sozialprodukt sich preisbereinigt in dieser Zeitspanne verdoppelt hat. 1998 verdiente knapp die Hälfte der Deutschen unter 2200 DM, während der Sozialhilfesatz für eine Familie mit zwei Kindern bei 1.976 DM lag...