17.08.2004

Den Sozialstaat abbauen, um ihn zu erhalten?

Die „Reform“ in Deutschland – versäumte Fragen

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 27.8.2004.

„Hartz IV“ – eine Kurzformel, die vielleicht das Schicksal einer der beiden großen Parteien in Deutschland besiegelt. Nach aktuellen Umfragen käme die regierende SPD derzeit gerade noch über 20%. Kaum etwas hat die Gemüter in Deutschland seit der Nachkriegszeit so zerrissen, wie die „Hartz-Reformen“. Im August begannen wieder „Montags-Demonstrationen“, die 1989 den Zusammenbruch der DDR begleiteten hatten.[1]


Worum geht es? Im dreistufigen deutschen Sozialsystem - Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe - sollen die erste Stufe (60-67% des letzten Gehalts) auf 12 Monate begrenzt, die letzten beiden Stufen auf unterem Niveau zusammengelegt werden (neues Arbeitslosengeld ALG II). Für 2,1 Millionen Empfänger von Arbeitslosenhilfe[2] bedeutet dies enorme Verschlechterungen. Ab 2005 beträgt der Bedarfssatz für Alleinstehende 331 bzw. 345 Euro (Ost/West), für Paare rund 600 Euro, für Kinder unter 14 Jahren rund 200 Euro. Mit Miet-Zuschüssen hat eine vierköpfige Familie auf rund 1500 Euro Anspruch, ein alleinstehender junger Mann auf rund 660 Euro. 

Bisher war die Arbeitslosenhilfe ein durch die „Lohnnebenkosten“ begründeter gesetzlicher Anspruch. Das neue ALG II beruht dagegen ganz auf einer Bedürftigkeitsprüfung, Vermögen über 200 Euro pro Lebensjahr muß zunächst verbraucht werden.[3] Allen Bedürftigen kann künftig jede Arbeit zugemutet werden, zu der sie in der Lage sind. Einige Hunderttausende Arbeitslose sollen bei Wohlfahrtsverbänden eingesetzt werden und hier zusätzlich einen Euro pro Stunde verdienen dürfen.

Die rettenden Fragen – verdeckt und verdrängt

Die Frage ist, wie von 345 Euro eine gesunde Ernährung oder etwa eine Zahnbehandlung bezahlt werden soll, von einer Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ganz abgesehen. Unabhängig davon geht es aber um die Gerechtigkeitsfrage – um die „Schuldfrage“, die Rolle des Staates und einiges mehr. Gerade die „Bessergestellten“ fordern den Rückzug des Staates als „Rundumversorger“ – wie vielen geht es nur darum, mit dem Niveau des Sozialsystems auch das allgemeine Lohnniveau weiter zu senken? Kann der Staat sich zurückziehen, wenn der „Arbeitnehmer“ immer ungeschützter und erpreßbarer seine Arbeitskraft zu Markte tragen muß? Wird da nicht die Forderung nach „weniger Staat“ zur Lüge? Wenn „jeder Arbeit findet, der wirklich sucht“, gäbe es Millionen Faulenzer...[4]

Die Frage, ob der Staat „Rundumversorger“ sein soll (bei 345 Euro?), oder der Hinweis, daß es in anderen Ländern noch ganz anders aussieht[5], lenkt vom eigentlichen Problem ab. Es ginge um strukturelle Fragen. Warum wird ein System, das inzwischen bereits fünf Millionen Menschen aus der Erwerbsarbeit ausschließt, nicht selbst in Frage gestellt? Die ganze Hartz-Reform dient dazu, das Problem der „Massen-Arbeitslosigkeit“ weiterhin nicht als ein strukturelles zu betrachten. Das soziale Netz niedriger hängen, auch Lohnsenkungen in Kauf nehmen, dann geht es mit der Wirtschaft schon wieder aufwärts – und dann verschwindet auch die Arbeitslosigkeit.[6] Ist das Naivität, Verschleierungs-Ideologie oder krankhafte Realitäts-Blindheit?

Die Verdrängung der rettenden Fragen (!) wird auch daran sichtbar, daß im Zuge der Hartz-Diskussion – vorbereitet durch die jahrelange Rhetorik einschlägiger Interessenverbände – die ständig wiederholten Parolen nun offenbar dabei sind, das allgemeine Denken wirksam zu besetzen. Zwar fordern laut einer Umfrage von „Emnid“[7] Anfang August bereits 68%, „Hartz IV“ noch einmal zu überdenken. Doch ein gleich hoher Prozentsatz hält z.B. die Zumutbarkeit jeglicher Arbeit für durchaus richtig. In einer Umfrage[8] im Auftrag des Bundesverbandes deutscher Banken (!) waren 54% zu einem Lohnverzicht von 5% bereit. Die Sicherung des Wohlstandes ist für 41% bzw. 23% Sache des einzelnen bzw. des Staates (noch 1996 überwog die letztere Meinung). Für 63% sollen Tarifverträge auf Unternehmensebene und nicht branchenweit vereinbart werden (1994: 36%).

Pseudo-Alternativen und ein überforderter Kanzler

Die Diskussion läuft oft auf eine Pseudo-Alternative hinaus: Freiheitlicher Rechtsstaat oder bevormundender Sozialstaat. Der Sozialstaat wird dargestellt, als würde er die Freiheit und Verantwortlichkeit für die eigene Lebensgestaltung und Berufswahl einschränken.[9] Doch macht er die Menschen wirklich unfrei, wenn er es schafft, daß die massenhaft Entlassenen nicht jeden „Job“ annehmen müssen? Macht er sie lethargisch oder gibt er nicht vielmehr jedem die Grundlage für eine positive, konstruktive Freiheit „zu“, indem er die Freiheit von elementarer Not gewährleistet? Ohne Sozialstaat wäre in der Tat jeder für sein Schicksal „verantwortlich“, doch unter welchen Bedingungen? Der reine Markt würde jeden zwingen, aus der (konkreten) Not eine Tugend zu machen, so gut es eben geht. Der Sozialstaat nimmt niemandem die Verantwortung für sein Leben ab – jedoch die Sorge vor echter Not. Dies aber schafft Freiheit.[10]

Weit weg von solchen grundlegenden Überlegungen, entfaltet sich derzeit auf politischer Ebene ein hochkarätiges Theater. Während die CDU-regierten Länder noch im Bundesrat für „Hartz IV“ stimmten (und die CDU sogar deutlich härtere Einschnitte gefordert hatte!), rudern angesichts des „Volkszornes“ namhafte CDU-Politiker zurück, so daß SPD-Chef Müntefering ihnen mit Recht „Feigheit und Populismus“ vorwerfen kann. Fragwürdig wird es, wenn Minister Clement auch die Montagsdemonstrationen Zehntausender Bürger als „irregeleitete Veranstaltungen“ bezeichnet.

Kanzler Schröder ist sich vollkommen sicher, das Richtige zu tun. Anfang Juli sagte er im Fernsehen: „Ich bin wirklich davon innerlich über­zeugt, dass es eine vernünftige Alternative zu dem Umbau des Sozialstaates nicht gibt. Jedenfalls dann nicht gibt, wenn wir ihn erhalten wollen.“[11] Ein Artikel im Magazin „Der Spiegel“ vom 19. Juli deckt bemerkenswerte Details und Hintergründe auf. Der Abbau des Sozialstaates, der große Teile der eigenen Parteibasis und Parlaments-Fraktion erschüttert, das 140-jährige Bündnis mit den Gewerkschaften mehr oder weniger zerstört und zu einer neuen Partei („Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“) geführt hat, erweist sich als kurzfristig entworfenes Konzept eines von „Sachzwängen“ überrollten Kanzlers.[12]

Eines muß man der Hartz-Reform lassen: Sie macht die Menschen wirklich gleich – zumindest die Arbeitslosen. Nicht nur in der Höhe der Hilfen. Auch alle Vermögens-Unterschiede, die das Leben bis dahin hervorgebracht hat, werden wieder weitgehend eingeschmolzen. Und auch die bisherige Bildung zählt nicht mehr: Jedem ist alles zuzumuten. Das ist zwar in gewisser Weise gerecht, zeigt aber nur einmal mehr, daß die Arbeitsplätze, um die es geht, eben nicht vorhanden sind. Und hatte man diese „materialistische“ Gleichmacherei nicht dem Kommunismus vor kurzem noch heftig vorgeworfen? Nun, hierzulande betrifft es ja nur die Arbeitslosen... Und während diese „wenigen“ Millionen zunehmend „gleichgemacht“ werden, um ihre „Wiedereingliederung zu fördern“, verschärfen sich in der Gesellschaft insgesamt die Unterschiede weiter.

Der Kampf um die Schuldfrage

Es stimmt: Der „Sozialstaat“ kann kein Reparaturbetrieb für die kapitalistische „Spur der Verwüstung“ sein. Das entbindet jedoch nicht davon, die strukturellen Fragen zu stellen. Bisher war der Sozialstaat immerhin in dieser Weise verstanden worden. Nachdem sich die Folgen des (zins)kapitali­sti­schen Systems stetig verschärften und der Staat in seiner fragwürdigen Rolle tatsächlich zunehmend überfordert ist, wird nun nicht etwa begonnen, über das System nachzudenken, sondern wie in einem Kurzschluß dem Staat seine bisherige Rolle zum Vorwurf gemacht. Die These vom Staat als Freiheits- und Markt-Zerstörer wird zur Ablenkungs-Ideologie. Damit ist ihm elegant die Schuld in die Schuhe geschoben, die genau auf der anderen Seite zu suchen wäre.

Zugleich mit dem „Sozialstaat“ ist nun aber der Einzelne schuldig, der sich von ihm verführen und sein Gefühl für Verantwortung und Freiheit degenerieren ließ. Nun liegt er als Arbeitsloser den armen Arbeiterinnen (um die Reichen weiterhin aus dem Spiel zu lassen) auf der Tasche, anstatt sich ernsthafter um einen Job jeglicher Art zu bemühen! Die Strukturfrage ist zur moralisierenden Individual-Ethik geworden, die aber nichts anderes ist als ein weiterer Baustein zur perfekten Verschleierungs-Ideologie. Schon immer war die Erzeugung eines schlechten Gewissens ein Lieblings-Instrument der Herrschenden, um den Blick und das Gefühl des Einzelnen völlig zu per-vertieren. Hartz IV macht „den Armen schuldig“ (Goethe) und den unschuldig Arbeitslosen dauerhaft arm. Selbst Wirtschaftsminister Clement beteuerte im Herbst 2003: „Ich würde auch heute jede Arbeit annehmen, die mich davor schützt, untätig sein zu müssen.“

Eine Radikal-Alternative zu „Hartz IV“ wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle („Bürgergeld“ etc.). Der deutsche Staat hat 2001 für das Sozialsystem (inkl. Sozialversicherung) insgesamt 522 Milliarden Euro ausgegeben. Damit ließe sich ein Grundeinkommen von monatlich 600 Euro für jeden Erwachsenen und 300 Euro für Kinder finanzieren. Die Trennung von Arbeit und Einkommen – die Rudolf Steiner schon in seinem Sozialen Hauptgesetz vertrat – hätte umfassende Konsequenzen, die hier leider nicht mehr skizziert werden können. Stattdessen gehen öffentliche Gelder auch weiterhin merkwürdige Wege.[13]

Fußnoten


[1] Am 9. August gingen 40.000 auf die Straße, davon die Mehrzahl in Magdeburg und Dresden, am 16. August waren es bereits 100.000, inzwischen auch in Westdeutschland.

 

[2] Die Hälfte der Arbeitslosenhilfe-Empfänger lebt in Ostdeutschland, trotz fünffach geringerer Bevölkerung.

 

[3] Für ausdrückliche Altersvorsorge sind weitere 200 Euro erlaubt. Alle Betroffenen bekamen Ende Juli 16-seitige Anträge zugeschickt, in denen die eigenen Vermögensverhältnisse und die ihrer „Bedarfsgemeinschaft“ offenzulegen sind.

 

[4] Das hieße auch, sie schreiben nur zum Schein zahllose Bewerbungen, bekommen gerne zahllose Ablehnungen und kommen gerne und gut mit 345 Euro monatlich aus.

 

[5] In Grossbritannien etwa gibt es wöchentlich einen Grundbetrag von 71 Euro für Alleinstehende, bei vorhandenen Ersparnissen weniger.

 

[6] Obwohl und während Konzernvorstände weiterhin ihre Gehälter und Abfindungen „aufbessern“ und dennoch die Standorte in Billiglohnländer verlagern? Im zweiten Quartal stieg im Vergleich zum Vorjahr das Bruttoinlandsprodukt um 0,5%, während die Zahl der Erwerbstätigen um weitere 112.000 abnahm.

 

[7] www.welt.de/data/2004/08/06/315336.html

 

[8] www.welt.de/data/2004/08/16/319936.html

 

[9] In einem Kommentar der FAZ vom 29. Juli steht gar: „Indem sich der Staat jedoch schützend über den Markt beugte, deformierte er die Instinkte, die zu dessen Erhaltung nötig sind. Jetzt muß er...die kapitalistischen Energien von außen entfachen und die Marktsubjekte zum Jagen tragen.“

 

[10] Der abhängig Beschäftigte ist dagegen gerade in jedem Moment abhängig von der Gunst seines Arbeitgebers. Wird er entlassen, fällt er zunächst ins Nichts. Der Unternehmer dagegen kann bei einer drohenden Insolvenz unschwer wesentliche Teile seines Vermögens der Ehefrau überschreiben. Obwohl die Kirch-Mediengruppe in die Insolvenz ging, ist Kirch noch immer Multimillionär – im Gegensatz zu seiner ehemaligen Belegschaft.

 

[11] Am 15. August wies er seine verunsicherten „Genossen“ in Brandenburg darauf hin, daß das Sozialsystem auch von Verkäuferinnen und Arbeitern finanziert wird, die ebenfalls nur sehr wenig verdienen. Auch hier würde sich aber wieder die strukturelle Frage anschließen: Wie kommt das?

 

[12] Schröder hat demnach fünf Jahre lang als unsicherer Zauderer regiert und innenpolitisch kaum etwas angefaßt, bis ihn die „Wirtschaftskrise“ einholte. Nachdem Ende 2002 ein internes Papier seiner Staatssekretäre über den „notwendigen Umbau des Sozialstaates“ an die Presse gerät, ein guter Freund ihm von den alltäglichen Schwierigkeiten des Mittelstandes erzählt und im Februar 2003 die Opposition eine Regierungserklärung zur Wirtschaftslage fordert, geht es Schlag auf Schlag. Unter Hochdruck arbeiten die engsten Mitarbeiter an einem Konzept, und am Ende steht die „Agenda 2010“ (der Titel ist eine Idee seiner Frau). www.spiegel.de/spiegel/0,1518,309132,00.html

 

[13] Sachsen z.B. bezuschußt ein neues Halbleiter-Werk der Firma AMD in Dresden mit künftig knapp über 1000 Arbeitsplätzen mit 545 Millionen Euro – rund 530.000 Euro pro Arbeitsplatz. Würde diese „Beihilfe“ mit 5% Zinsen angelegt, könnten allein von den Zinsen jedem der künftigen Arbeitnehmer monatlich 2.200 Euro gezahlt werden. www.faktuell.de/Hintergrund/Background296.shtml