17.10.2004

Dreigliederung ohne Demokratie?

Ein Fragment


Immer wieder schreiben Anthroposophen Artikel, die sich mit der Dreigliederung beschäftigen – oft für andere Anthroposophen, teils für den weiteren Umkreis. Ziel ist es meist, die Idee der Dreigliederung und ihre (möglichen) Folgerungen bekannter zu machen und zu vertiefen – verbunden mit dem Wunsch, dies möge auch eine weitere Vorbereitung ihrer künftigen Realisierung sein. 

Doch gerade wenn man sich dieser Idee so verbunden fühlt, daß einem die bisher oft geradezu entgegengesetzte Realität ständig schmerzlich bewußt wird, ist es wichtig, sich klarzumachen, was denn diese Dreigliederungsidee umfaßt, was andererseits zunächst eigene Schlüsse sind und was die je eigenen Ziele, Ideale und Motive sind.

Warum kehren im „Goetheanum“ die Artikel zur Dreigliederung immer wieder? Will ich (als Autor) die übrigen Anthroposophen aufklären? Hoffe ich, daß sich viele zusammentun, um eine Stimme mit Gewicht zu haben? Oder hoffe ich, daß Nicht-Anthroposophen (möglichst die Regierungschefs persönlich) das „Goetheanum“ lesen? Wie dem auch sei, das grundsätzliche Motiv ist es, Ideen und Gedanken, deren Bedeut- und Heilsamkeit man erlebt, auszusprechen, auf daß andere sie sich zueigen machen können, wenn sie an ihnen Ähnliches erleben.

Dennoch ist oft zu beobachten, daß wir als Anthroposophen „im eigenen Saft schmoren“. Warum erzählt mir da zum hundertsten Male ein Aufsatz etwas, was ich schon weiß? Und vielleicht wird sogar noch ausdrücklich gesagt, daß aber leider die Dreigliederung heute im Großen keine Aussicht auf Verwirklichung hat. Auch und gerade für den zufällig mitlesenden Nicht-Anthroposophen prägt sich dann unaufhaltsam (und mit Recht) der bekannte Eindruck ein, wie die Anthroposophen daherkommen: „Wir haben die Ideen, aber uns hört ja keiner...“. Belehrend, dogmatisch, resignierend, aber seine Hände in Unschuld waschend.

Die Idee der Dreigliederung wird es weiterhin schwer haben, weil jeder aus ihr andere Folgerungen zieht und es dennoch implizit so darstellt, als sei das alles auch noch „die“ Dreigliederung. Sie wird es aber auch – und erst recht – dann schwer haben, wenn sie eine allgemeine Idee bleibt. Ich möchte zuerst auf den ersten Aspekt eingehen.

Günter Henke hat in seinem Aufsatz „Arbeit und Brot“ im „Goetheanum“ Nr. 42 prägnant die Faktoren benannt, die das Problem der Arbeitslosigkeit verursachen und ständig anwachsen lassen: Rationalisierung und technischer Fortschritt, ein an die Lohnarbeit gekoppeltes Steuersystem und die „Freiheit“ der Unternehmen, die Löhne (aber auch Rechtsregelungen) verschiedener „Standorte“ gegeneinander auszuspielen.

Bei der Frage, was aus dem „Spannungsfeld zwischen Mensch und Kapital“ heraushelfen könnte, schlägt er eine Lösung vor, die „einfach, schlüssig und überraschend“ ist: Da die Wirtschaft ohnehin alle Menschen ernähren muß, ist diese Aufgabe ihr auch rechtlich zu übertragen. Dann, so Henke, würden die Unternehmen nicht mehr Arbeitskräfte „freisetzen“, sondern möglichst viele Menschen – für deren Unterhalt ja so oder so aufzukommen ist – zur Arbeitsleistung heranziehen. „Auf solche Weise in die soziale Pflicht genommen, erhielte die Wirtschaft den Keim der Brüderlichkeit eingepflanzt.“ Dieser Anstoß in Richtung Dreigliederung zöge schrittweise auch die anderen gesellschaftlichen Bereiche nach sich.

Dies ist zu bezweifeln. Ich sehe nicht einmal den Keim der Brüderlichkeit, sondern nur eine Gesellschaft, in der nicht mehr der Staat, sondern die Unternehmen die Aufgabe haben, alle Menschen zu „ernähren“.

Es ist auch keineswegs, wie Henke schreibt, „gesellschaftlicher Konsens, daß kein Bedürftiger [in äußerster Not] allein gelassen“ wird. Ob die Sozialhilfe „ein menschenwürdiges Dasein, wenn auch auf niedrigem Niveau“ gewährleistet, ist fraglich. Zumindest wäre die alltägliche Schikane gegenüber den Betroffenen mit zu berücksichtigen. Und es ist abzusehen, daß die Kürzungen, die Diskriminierungen und alles, was schon heute absolut menschenunwürdig ist, sich kontinuierlich verschärfen werden. Wir leben nicht in einer Zeit, in der Menschenwürde tatsächlich und bis ins Konkrete Konsens wäre! Die Beamten auf den Sozialämtern sind selbst unter Druck, und sie geben diesen immer stärker „nach unten“ weiter. Der Beamte wird immer mehr zum Rädchen, der einzelne Betroffene immer mehr nur eine Akte und Nummer. Wer nicht widerspruchslos alles über sich ergehen läßt, fliegt raus aus dem „sozialen Netz“. Das geht schnell und ereignet sich täglich.

Wenn in der heutigen Gesellschaft den Unternehmen das „soziale Netz“ übertragen wird, würde „die Wirtschaft“ ihrer „sozialen Pflicht“ sehr wohl nachkommen. Und sie würde auch, wie Henke schreibt, möglichst viele Menschen zur Arbeitsleistung heranziehen. Aber warum nicht zu Sozialhilfe-Sätzen? Oder mit Ein-Euro-Jobs, wie sie jetzt in Deutschland für Arbeitslose eingeführt werden? Das System wird so oder so zusammenbrechen, jedoch erst, nachdem die Profiteure alles, was möglich ist, herausgepreßt haben. Und selbst, wenn die Rechtssphäre einen Mindestlohn festsetzt: Wo bleiben bei dem genannten Ansatz die kreativen, von Erwerbsarbeit befreiten Freiräume, wo bleibt die so nötige Arbeit für Kinder, für alte und kranke Menschen?

Zur Dreigliederung gehört also mehr, als „überraschend einfache“ Lösungen. Aber weder konkrete Vorschläge noch die allgemeine Idee werden auf politischer Ebene ernst genommen. Steiner hat ja darauf hingewiesen, daß die konkrete Ausgestaltung aufgrund der Lebensumstände erfolgen muß. Dennoch kann das Gerede, man wolle „das Konkrete aus dem Leben selbst sich entwickeln lassen“ nur abschrecken. Zu oft täuscht es darüber hinweg, daß man selbst nicht bis zuende gedacht hat – und seien es auch nur Möglichkeiten. Oder es liegt eine scheinheilige falsche Bescheidenheit darin. Vielleicht hofft man auch wirklich nur, daß die Idee in ihrer Allgemeinheit zunächst sympathisch genug erscheint. Doch auch ich – wäre ich Politiker – würde kein unausgegorenes Konzept umsetzen wollen, dessen wenige Anhänger es in höchsten Tönen loben (und meist zugleich belehrend fordern), es aber ganz im Allgemeinen lassen bzw. im Konkreten sich sogar selbst sehr uneinig sind.

Diese Kritik man vielen sehr unsympathisch sein. Es ist gewiß leichter und angenehmer, sich im eigenen Kreis einig zu wissen (oder zu meinen) und es dabei zu belassen – aber dies führt nicht in die Zukunft. Wenn wir als Anthroposophen den Anspruch haben, wirkliche Impulse in die Welt tragen zu wollen, müssen wir auch untereinander in der Sache – das heißt um die Sache – (freundschaftlich) streiten.

Wollen wir also über die Haltung „Wir haben die Lösung“ oder zumindest „Wir wissen die Richtung“ hinausgehen? Wollen wir aufhören, uns die Hände in Unschuld zu waschen – und anfangen, uns die Hände schmutzig zu machen? Loskommen vom letztlich resignativen, aber angenehmen Standpunkt, „jeder kann im Kleinen etwas tun“? Warum geht es denn um das Kleine? Weil alles Kleine zusammen wieder das Große ausmacht und viele kleine Anstöße zu großen Veränderungen führen (können). Die Hoffnung geht immer auf das Ganze. Also warum nicht ehrlich sein und die gegenwärtigen Hindernisse benennen – und ihnen ins Auge schauen?


Die Dreigliederung hat gegenwärtig keine Chance, weil die Gesellschaft eben bisher gegen diese Idee funktioniert. Machtvolle Interessen (und auch Beharrungskräfte) haben größtes Interesse daran, daß alles so bleibt, wie es ist. Veränderungen, die das Ganze betreffen, werden von Politikern beschlossen. Das soll nicht heißen, daß Ansätze im Kleinen – etwa lokale Anfänge wirtschaftlicher Assoziationen – wirkungslos seien. Sie werden nur mehr als konterkariert von jenen Prozessen, die so machtvoll sind, daß selbst die Politik sie als „Sachzwänge“ bezeichnet. Es bleibt natürlich die Hoffnung, daß das je eigene Handeln im Kleinen dem doch etwas entgegensetzt. Doch der Ort, wo täglich gravierende, allgemein-verbindliche Entscheidungen gefällt werden, sind die Parlamente.

Nun ist ja offensichtlich, daß nicht nur die Anthroposophen mit der Idee der Dreigliederung, sondern auch viele andere zukunftsweisende Ideen und Ansätze keine Aussicht haben, auf politischer Ebene erfolgreich aufgegriffen zu werden. Zahllose Menschen wünschen sich eine „andere Welt“, sind der Überzeugung, daß „eine bessere Welt möglich ist“, und man kann deutlich erleben, daß die Ideale der meisten dieser Menschen in eine ähnliche Richtung weisen. Das heißt, mag man sich über die konkreten Wege noch nicht klar oder einig sein, das ideale Ziel ist nicht das Trennende, und dieses ist eindeutig anders als die gegenwärtige Realität und widerspricht auch der Richtung, in die sich diese Realität bewegt.

Man kann also durchaus von einer „Ohnmacht der Vielen“ sprechen. Natürlich sind auch viele dieser „Idealisten“ durch ihre alltäglichen Egoismen daran beteiligt, daß die Realität so bleibt wie sie ist. Wenn sie aber zwischen verschiedenen Wegen konkret wählen könnten, sähe die Sache ganz anders aus. Es gibt also keinen Mangel an Einsicht und an Idealen, sondern es mangelt an ihrer Verwirklichung im Großen. Die Ohnmacht der Vielen offenbart ein eindeutiges Defizit an Demokratie!