03.12.2004

Mutter eines Königs

Über den Roman von Mieke Mosmuller: Mutter eines Königs. Occident, 2004 (453 S., 22,50€).

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 9.2.2005 (ohne den letzten Absatz).


Dieser Roman ist eine Offenbarung. Eine Offenbarung des Menschen, seines Idealbildes, seines möglichen Strebens – und auch seiner Schwächen.

Im Mittelpunkt des Romans steht ein Mann, ein Arzt, der seinen Mitmenschen in seiner inneren Entwicklung weit voraus ist. In gewisser Weise stellt die Autorin den Lesern in diesem Roman das Schicksal und die Bestimmung des abendländischen Menschen überhaupt vor Augen. Und so kommen im Buch keinerlei persönliche Namen vor, was jedoch niemals gezwungen wirkt, sondern im Gegenteil dem Ganzen eine eigentümliche Reinheit und Größe verleiht.

Urbildlich ist vor allem der Beginn – urbildlich und zugleich ur-persönlich. Auf den ersten 20, 50 Seiten entfaltet Mieke Mosmuller Schilderungen, die so reich an innerem Gehalt sind, daß sie schon für sich jeweils wie ein ganzer Roman wirken.

In einfacher, aber tief das Wesentliche offenbarender Sprache schildert sie zunächst einen ganz mit dem Naturgeschehen verbundenen Jungen. Die wesenhaften Kräfte der Natur offenbaren sich ihm schließlich in einer wunderschönen Vision, einer Frauengestalt, die ihn später aber auch zu den ersten Gedankenflügen inspiriert.

Heranwachsend verliert der Junge diese Einheit mit der Natur, er steht ihr nun wie getrennt gegenüber, während sein Denkvermögen sich entfaltet. Dann hat er auf der Durchreise in einem unbekannten Bergdorf ein Erlebnis, das sein ganzes künftiges Leben prägt: Er wird Zeuge einer Beerdigung und erkennt in der Verstorbenen das Mädchen, das – so sein unmittelbares Erleben – für ihn bestimmt gewesen wäre... „Sophia war ihr Name...“

Fortan verdrängt er alle Leidenschaft aus seinem Leben. Die große Hingabe, die in ihm wohnt, lenkt er in das Studium, in die Arbeit. Weit eilt er allen davon in den Fähigkeiten als Arzt, aber auch in der inneren Disziplin, in der Fähigkeit zu denken. Nirgendwo begegnet er Menschen, die seine Anforderungen auf Dauer erfüllen könnten. Einsam auch kämpft er für eine „moralische Medizin“, die die Patienten nicht wie „Fälle“ behandelt. Doch inmitten aller Güte, die unbewußt in ihm lebt, hat er doch seine Mitmenschen, die Natur, alles außer sich selbst verloren.

Immer mehr wird ihm der Tod, gegen den er täglich kämpft, zum Rätsel, und immer mehr erscheint ihm all sein Wissen selbst wie ein toter Leichnam, der keine Antwort auf wesentliche Fragen geben kann...

Eine weitere Schicksalsfügung beschenkt ihn mit einem Freund, der gegensätzlicher nicht sein kann: Ein Meister, der niemals die Verbindung zu den Kräften des Lebens verloren hat, der dagegen zeitlebens den menschlichen Verstand als Ursache der Trennung, als Bringer des Todes bekämpft hat. Es beginnt eine tiefe Geistesfreundschaft, die zunächst aber auf die Probe gestellt wird, weil auch die Aufgabe kaum größer sein kann: den anderen – und an ihm sich selbst – zu verstehen.

Fast zeitgleich begegnet der Mann einem Mädchen, einer Frau, wohl 15 Jahre jünger als er. Auch diese beiden Menschen sind füreinander bestimmt, auch wenn sie dies zunächst nicht wissen. Und in welche Bahnen soll der Mann mit seiner vollkommenen Selbstbeherrschung seine Gefühle lenken, die er bis dahin nie zugelassen hatte?

Als klar wird, daß sich diese beiden Menschen finden, sind kaum mehr als 100 Seiten vergangen.

Hier hätte der Roman enden können, so fühlte ich, doch dann stieg er herab – oder hinauf – zu den eigentlichen zwischenmenschlichen Begegnungen.

Trotz aller innerer Größe des Mannes gibt es noch genug menschliche Schwächen, die sich in der konkreten Begegnung zwischen dem Mann und dem Mädchen offenbaren und von ihnen überwunden werden wollen. Und so verfolgt der Leser staunend, wie die eigentliche Tiefe des seelischen Weges in den folgenden Kapiteln erst sichtbar wird (und kann durch wohl jede der handelnden Personen auch viel über die ebenso in ihm verborgenen Schwächen lernen).

Immer deutlicher wird aber auch die Lebensaufgabe des Mannes: vom Denken aus – das er so meisterhaft beherrscht – den Weg zurück zur Natur, zu Natura zu finden. Dabei wird ihm gerade jener Freund die größte Hilfe sein, der zwar die Geheimnisse der Natur kennt und doch von dem Mann das lebendige Denken erst lernen muß.

Die Spiritualisierung des Denkens – das ist gleichsam der rote Faden, der immer wieder an die Oberfläche tritt. Den großen Teil des Buches aber macht die Schilderung der Liebe zwischen dem Mann und dem Mädchen aus.

Bewegend ist es, wie dieser große Mann seine noch verbliebenen Schwächen erkennt und nie stehenbleibt; bewegend die Liebe zwischen diesen beiden Menschen, aber auch die Wandlungen anderer Menschen in seinem Umkreis - denn viele stehen diesem leitenden Arzt, seiner Größe und seinen Ansprüchen, zunächst feindselig gegenüber.

Die Seelen- und Geistesbande, die sich zwischen den handelnden Menschen im Laufe des Romans herausbilden, geben ihm ein nicht zu beschreibendes Leuchten, sind sie doch das hohe Ziel der Menschheit – Verwirklichung der Liebe. Auch der Titel des Romans enthält dieses Geheimnis: „Mutter eines Königs“ – eine Zeile aus der „Chymischen Hochzeit des Christian Rosenkreutz“, die offenbar auf die Geburt der Liebe aus der Weisheit hindeutet.

Bleibt noch hinzuzufügen, daß dieser Roman vielen Lesern das Wesen der Anthroposophie näher bringen wird als manch ein Buch „über“ Anthroposophie, das aus dem Verstand heraus geschrieben wurde oder an jenem des Lesers hängenbleibt. Ich wünsche diesem Roman viele Leser und vielen Lesern diesen Roman, um ihn ganz mit dem eigenen Selbst er-lesen und erleben zu können!