18.02.2006

Eurythmie in einem thailändischen Jugendgefängnis

Dies ist eine „Gemeinschaftsarbeit“, die aus einer Rohfassung eines Berichts von Noemi Boeken entstand, der mich sehr bewegt hatte. Die folgende Fassung wurde veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 2.4.2006 (Nr. 14) und hatte offenbar eine größere Resonanz, die dazu beitrug, dass Frau Boeken diese Arbeit fortsetzen konnte.


Eigentlich sollte ich nur neun Wochen an der kleinen Tridhaksa Waldorfschule in Bangkok arbeiten. Am letzten Wochenende bot sich mir überraschend die Möglichkeit, an einem Tag in einem Jugendgefängnis die Eurythmie vorzustellen.

Erstaunt über diese Gelegenheit sagte ich zu, bevor ich mir recht Gedanken darüber machte, was mich erwarten würde.

Das „Center for Kids and Families in Crisis“ ist eine Einrichtung zwischen Gefängnis und Reintegrationsheim. 60 junge Männer, 16 bis 19 Jahre alt, müssen hier zunächst vier Monate verbringen, dann wird zusammen mit den Richtern ihre Situation neu angeschaut. Die Jugendlichen waren, wie ich erfuhr, entweder drogenabhängig oder „gewalttätig“…

An einem Samstagmorgen reiste ich mit fünf LehrerInnen von Tridhaksa zwei Stunden lang durch die Millionenstadt Bangkok. Die Englischlehrerin sollte für mich übersetzen, zwei Musiklehrerinnen würden mich am Klavier begleiten. Es war das Schulklavier, das eigens für diesen Tag schon einige Stunden vorher durch die ganze Stadt transportiert worden war!

Als wir gegen 10 Uhr vor dem „Center“ ankamen, hatte ich keine Ahnung, was mich erwarten würde. Während wir hineingingen, stellte ich mich auf brutale, abgebrühte junge Männer ein…

In einem sterilen Raum wurden wir mit Kaffee und Kuchen empfangen. Im Raum stand sonst nur ein Rednerpult, an der Wand hing das Bild des Königspaares von Thailand. Die Leiterin des „Center“ begrüßte uns in einem grellen pinkfarbenen Kostüm, das sicherlich „modern“ wirken sollte. Sie war um die 60 und schien in gewisser Weise beeindruckt von unserem Besuch und stolz auf ihre Rolle.

Dann kamen die Jugendlichen in Reih und Glied herein. Die Drogenabhängigen trugen ein blaues Shirt, die „Gewalttätigen“ ein weißes… Sie stellten sich in einen großen Kreis, und nun hatte ich zu beginnen.

Unerwartete Erlebnisse …

Mit einer ziemlichen inneren Aufregung machte ich mit ihnen zunächst einige kleine Vorübungen. Als diese ohne Probleme beendet waren, leitete ich über in eine Kugelübung. Natürlich hatte ich keine 60 Kugeln, aber eine Kiste mit Orangen mitgebracht. Die Jugendlichen hatten an dieser Übung offenbar viel Spaß.

Schneller als gedacht verging die Zeit. Es folgte ein Ausflug zu Übungen mit Bambusstäben. Als dann das Ende der Stunde nahte, wollte ich zur elementaren Übung der Eurythmie übergehen - dem Ballen und Spreizen. Das war einer der heikelsten Momente, doch mit viel Mut blieb ich der Übung treu. Und dann erstaunten und berührten mich gerade diese Jugendlichen! Sie wurden wirklich eins mit der Bewegung, tauchten seelisch ganz in sie ein.

In der kurzen Pause kam eine alte Ärztin auf mich zu, die das Geschehen mitverfolgt hatte. Sie war beinahe fassungslos und sagte, sie würde nicht wirklich verstehen, was ich da genau gemacht hätte, aber sie habe ihre ganze Erfahrung sehen können. Soweit ich sie verstand, hatte sie erlebt, dass – genau wie sie versucht, den ganzen Menschen wahrzunehmen – durch die Eurythmie der ganze Mensch angesprochen wird. So etwas nehmen wir in Europa nicht so schnell wahr! Ich war selbst erstaunt über ihr Erleben.

Nun kamen alle Mitarbeiter des Gefängnisses in den Kreis – Ärzte, Sozialarbeiter, Psychologen und Richter. Die Jugendlichen setzten sich an den Rand und schauten zu. Anhand von fünf Intervallen und Dur und Moll gab ich einen kurzen Einblick, warum die Eurythmie sichtbarer Gesang ist. Die Menschen waren sehr interessiert und tauchten ebenfalls in die Eurythmie ein. So arbeiteten wir einige Zeit in einer konzentrierten Stimmung. Dann kam mir der Gedanke, dass wir zuletzt noch ein heiteres Fusstänzchen aus der dritten Klasse machen könnten. Den Jugendlichen bot ich an, freiwillig mitzumachen. Was geschah? Alle 60 standen wieder auf und freuten sich am Tänzchen!

… und Momente wirklicher Begegnung

Nach dem Mittagessen wollte ich zum Abschluss noch einen tieferen Eindruck von dem geben, was Eurythmie ist. Mit Kleid und Schleier zeigte ich ein Solo mit Geige und Klavier von Bach. Dann war meine Zeit zuende. Ob ich etwas vom Wesen der Eurythmie hatte vermitteln können?

Einer der Jungen stand auf und fragte, ob ich bereit wäre, Fragen zu beantworten. Natürlich bejahte ich, und schon bald waren wir in einem sehr schönen Gespräch. Die Jungen stellten interessierte Fragen über die Eurythmie, wie vielseitig man sie anwenden könne und wie man so etwas studiert! Und teilweise sprachen sie aus, was sie während dieser Stunde erlebt hatten. So verschieden diese Jugendlichen es auch formulierten, war doch das gemeinsame Erlebnis, dass sie während der einen oder anderen Übung, wenn sie sich wirklich mit ihr identifizierten, das Gefühl hatten, wahrhaftig sein zu können…

Zuletzt kam der offizielle Teil. Durch das Mikrophon wurde mir gedankt, und ich bekam eine kleine Anerkennung überreicht. Dann standen alle auf und sangen, dem Königsbild zugewandt, die thailändische Nationalhymne. Nun bedankte sich bei mir einer der Jungen im Namen aller für diese schöne Begegnung. Und dann fragten sie, ob wir gemeinsam ein Abschiedslied singen könnten.

So formten wir einen grossen Kreis, in dem die Jugendlichen auf der einen Seite standen, die Mitarbeiter auf der anderen. Plötzlich war da der Moment, der den grössten Mut von mir forderte: Ich hatte das grosse Bedürfnis, mich zwischen die Jugendlichen zu stellen! Gleich würde das Lied anfangen. Da ging ich mitten durch den Kreis und stellte mich zwischen zwei Jungs! Und was geschah? Ein kurzer Moment verging, und dann … stellten sich alle Erwachsenen zwischen die Jugendlichen! Das Abschiedslied bekam einen vollständig anderen Charakter.

Am Ende fragte mich die Leiterin des Gefängnisses, ob ich bereit wäre, bei der nächsten Gelegenheit länger mit den Mitarbeitern und den Jugendlichen zu arbeiten. Wenn ich wiederkäme, wäre ich willkommen. Diese Frage steht nun im Raum, denn ich weiß nicht, wann ich wieder einmal nach Bangkok reisen kann. Doch als Folge unseres Besuches bekam das Gefängnis vor zwei Wochen ein eigenes Klavier…

Ganz angetan von den Erlebnissen jenes Tages und tief berührt von der Offenheit dieser jungen Menschen trage ich diese Erfahrung nun in mir.

Noémi Böken