11.11.2006

Ein leiser Ruf aus Afrika

Buchbesprechung: Irmgard Wutte: Ein leiser Ruf aus Afrika. Die Gründung der ersten Waldorfschule in Äquatorialafrika. Verlag junger Autoren, 2006.

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 8.12.2006


„Ein leiser Ruf aus Afrika“, so nannte Thomas Krauch auf einer Waldorf-Delegiertentagung Ende 1988 eine aus Kenia kommende Bitte um Hilfe bei der Gründung der ersten Waldorfschule zwischen Kairo und Johannesburg. Und so nennt Irmgard Wutte ihr Buch, in dem sie den Leser an zehn Jahren ihrer Biographie teilhaben läßt, die zugleich ein wesentlicher Teil der Biographie der drei Waldorfinitiativen in und um Nairobi ist. Denn die damals 28-jährige Waldorflehrerin hörte den „leisen Ruf“ und entschied sich mit ihrem Mann Vojko, ihm zu folgen. Die „Freunde der Erziehungskunst“ halfen unter anderem mit 5.000 DM Startkapital. 

Obwohl sie Afrika vorher nicht kannte, wusste sie, daß sie die sich hier stellende Aufgabe übernehmen sollte. Und wie tief sie sich in den folgenden Jahren mit dem Wesen dieses Kontinents verband, das spiegelt sich in allem, was sie schreibt. Wutte schildert erfüllende Jahre, die nicht einfach waren – ganz im Gegenteil!

Schnell stellte sich heraus, daß die „Gründerin“ Nani Croze, die den „leisen Ruf“ sandte, zu viele andere Projekte hatte, um am eigentlichen Aufbau der Waldorfschule mitzuwirken, und daß es nicht einmal einen wirklichen Kreis interessierter Eltern gab – der Kindergarten eröffnete mit drei Kindern! Dennoch gaben Wutte und ihr Mann nicht auf. Ihre Schilderung des kenianischen Schulsystems macht dies sofort verständlich: Bis heute kann nur die Hälfte aller Kinder überhaupt eine Schule besuchen, nur 17% beenden die ersten acht Klassen. Nach englischem Vorbild wird standardisiertes Wissen ständig mit Multiple-Choice-Fragen getestet. Alle Schüler einer Klasse, alle Schulen des Landes wissen stets, wo sie in der aktuellen Rangliste stehen...

Herausforderungen, Begegnungen und viele Fragen

Doch der Aufbau einer Alternative erweist sich als riesenhaftes Abenteuer. Seite um Seite verfolgt der gespannte Leser die zu bewältigenden Schwierigkeiten. Auf dem außerhalb von Nairobi gelegenen Grundstück muß jeder einzelne Nagel, jedes Loch für einen Zaunpfosten bestellt, in Auftrag gegeben und kontrolliert werden. Damit auf der trockenen Erde etwas wachsen kann, braucht es Kompost, für Kompost braucht es Schatten, also Bäume, außerdem regelmäßige Bittgänge zu Gemüsehändlern und Großküchen... Und bei allem: Kein fließendes Wasser, kein elektrisches Licht, kein Kühlschrank, für jedes Telefonat in die Stadt, erst nach fünf Jahren eines der ersten extrem teuren Mobiltelefone.

Ein zweiter roter Faden des Buches sind die menschlichen Begegnungen, Wuttes Erlebnisse mit der afrikanischen Men­talität. Da ist zum Beispiel der befreundete Elektriker, der das Mobiltelefon stiehlt, ohne eindeutig überführt werden zu können. Die Polizei läßt ihn unterschreiben, es wiederzubringen, und freudestrahlend verkündet er Wutte am nächsten Tag, der unbekannte Täter hätte es über Nacht reumütig an seine Tür gehängt...! Allmählich erschließt sich ihr die afrikanische Seele. Schicksalsergebene Lebensfreude inmitten nackter Ohnmacht. Sie fühlt sich von Anfang an unmittelbar durchschaut und immer wieder auf die Probe gestellt, aber dann auch immer öfter angenommen.

Ein dritter Aspekt des Buches, der etwas in den Hintergrund tritt, sind die pädagogischen Erlebnisse und Fragen. Etwa die Suche nach einer kenianischen Form für die Jahresfeste in einem Land, dessen Jahreszeiten sich viel zarter unterscheiden als unsere. Oder in der Beschreibung von Kindern wie Benson, der jahrelang alles wie tief träumerisch aufnahm, später kaum die Aufnahmeprüfung einer konventionellen Oberstufe bestand, dann aber von Jahr zu Jahr besser wurde und schließlich ein College besuchte. Solche Kinder würden in einer normalen Grundschule schon in den ersten Jahren gnadenlos „durchs Raster fallen“.

Lange Zeit stellte Wutte sich die Frage, ob sie unter den anfangs vorgefundenen Bedingungen nicht „Waldorf-Missionare“ wären. Doch ihre Schilderungen beantworten diese Frage von selbst: Wenn sie beschreibt, wie sie von den afrikanischen Kindern niemals hörte „keine Lust“, wie diese alle Wiederholung liebten, alles Gehörte tief aufnahmen und andächtige Stimmungen mit ganzem Herzen miterlebten. Wenn sie erzählt, wie viele Direktoren und Lehrer privater Schulen gestehen, daß sie sich oft nur dem Druck der Eltern beugen, die im Selektionskampf „das Beste“ für ihre Kinder wollen.

Das entscheidende Kriterium für „Missionare“ im schlechten Sinne ist Zwang und Überredung, wo das Gebrachte weder gewollt wird, noch gut und richtig ist. Wenn es auch einige Zeit dauerte, bis mehr als ein, zwei Dutzend Eltern wirklich den Mut hatten, sich dieser neuen Pädagogik anzuschließen – die Kinder hatten längst auf sie gewartet...

Dunkle Stunden und neue Aufgaben

Wutte verschweigt schließlich auch nicht die dunklen Stunden und Monate: Die stete, riesige Anspannung der Pionier-Situation zehrt an den Kräften; ein Privatleben ist kaum vorhanden, ein Gast aus England sät Zwietracht und Misstrauen gegenüber den Gründern, die angeblich nicht „loslassen“ könnten; Wuttes Mann gesteht ihr eine Affäre. Am Ende ihrer Kräfte bricht sie zusammen, und geht für ein Jahr zurück nach England. Es folgen starke Erlebnisse: Sie fühlt sich teilweise in endlose Tiefen versinken, teilweise wie geborgen hinaufgehoben in einen goldenen Lichtregen: Das Märchen von Frau Holle als seelische Realität. Langsam schöpft sie neue Kraft und kann dankbar auf die hinter ihr liegenden Jahre zurückblicken.

Als Wutte Anfang 1995 nach Kenia zurückkehrt, zieht sie sich schnell aus den Angelegenheiten der Schule heraus, und läßt sich auf viele neue Aufgaben ein. Sie baut die eigene Farm auf, entwirft ein Programm für Kenia-Reisen, trägt viel zur Organisation der Lehrerfortbildung bei, adoptiert zwei afrikanische Babys und hilft 1998 als Mentorin und Erstklasslehrerin an der neu gegründeten Hekima Waldorfschule in Tansania. Und als sie in Nairobi im näher zur Stadt hin gelegenen Waldorfkindergarten die Vorschulklasse übernimmt, führt dies Ende 1999 direkt zur Gründung der zweiten Waldorfschule.

Als ihre Ehe endgültig zerbricht, kehrt Wutte zurück nach München. An der Waldorfschule in Is­maning inspiriert sie die Gründung des ehrenamtlichen Schülerunternehmens „Nyendo“, das durch den Verkauf von Waren aus Kenia die Waldorfinitiativen in Nairobi unterstützt. So schließt sich der Kreis und so endet die Erzählung dieser engagierten Waldorflehrerin, die – wie sie im Vorwort erwähnt – beim Schreiben ausdrücklich auch junge Leser vor Augen hatte.

Wutte beschließt ihr Buch mit einem Zitat von Ralph Waldo Emerson, das folgende Worte enthält: „Tue was dir aufgetragen ist, und du kannst niemals zuviel hoffen oder zuviel wagen. ... Bleib in der schlichten, edlen Sphäre des Lebens, folge deinem Herzen, und du wirst neu erschaffen, was vor Anbeginn der Welt war.“ – Ihr Buch ist eine Ermutigung, eben diesem Ruf zu folgen.