11.03.2007

Wer braucht eine weltweite Waldorfbewegung?

Die Waldorfschule – ein Kulturfaktor. Mit dieser Intention war die von Rudolf Steiner gegründete erste Waldorfschule in Stuttgart angetreten. Es sollte eine Schule sein, in der die Schüler sich wahre Gedanken über die Welt aneignen, ein reiches, tiefes Empfindungsleben ausbilden und ihre sich entwickelnden, von warmem Weltinteresse getragenen Willensimpulse mutvoll verwirklichen lernen...


Die Waldorfschule sollte die Speerspitze, der Grundimpuls für ein freies Geistesleben sein. Nur ein freies Geistesleben kann neue, Zukunftskeime bergende Impulse in die Gegenwart hineintragen. 

Vom Ernst der Lage

Rudolf Steiner verwies immer wieder auf die Niedergangskräfte, die in unserer Zivilisation wirken. Nach der Begründung der ersten Waldorfschule 1919 folgten die Schreckenszeit der Nazi-Herrschaft, der Zweite Weltkrieg und die lange Zeit des Kalten Krieges. Daß unsere Generation in relativem Frieden und Wohlstand aufgewachsen ist, führt allzu leicht dazu, daß wir die Untergangskräfte nicht mehr wahrnehmen (wollen). Dabei kann man in verschiedener Hinsicht eine deutliche Kulmination beobachten: Zusammenbruch der sozialen Netze; eine neue Phase der Profitmaximierung; Erosion des Völkerrechts und der Menschenrechte; globaler Klimawandel; Verlust der Bodenfruchtbarkeit; Vernichtung der Biodiversität durch die Gentechnik; Erstarken fundamentalistischer Bewegungen...

Die Untergangskräfte sind heute stärker denn je – und es kommt mehr denn je auf die volle Kraft und die individuellen Impulse jedes Einzelnen an. Wirken die gegenwärtigen Tendenzen weiter wie bisher, werden wir die Welt vielleicht schon in 30 Jahren kaum wiedererkennen. Und was sind 30 Jahre in Maßstäben der Menschheitskultur?

Vereinzelt sind auch Aufgangskräfte wahrnehmbar – zum Beispiel da, wo aus der Kraft der Individualität neue soziale Impulse hervorgehen. In wie vielen Menschen schlummern genau die richtigen, die wichtigen Impulse! Doch ohne ein wirklich freies Geistesleben können diese Impulse nicht kulturverändernd wirken. Erst ein freies Geistesleben könnte eine wirklich neue Menschheitskultur heraufführen – ein neues Denken, ein neues Fühlen, ein neues Wollen.

Ein „Weltschulverein“ als Vorkämpfer eines freien Geisteslebens

Die Waldorfschule also wurde von Rudolf Steiner als Speerspitze gesehen, um ein freies Geistesleben zu erreichen – nicht die eine, erste Stuttgarter Waldorfschule, sondern die Waldorfschule als Bewegung. Erst eine starke Waldorfbewegung würde aufhören, eine „Nische“ im Bildungssystem zu sein, eine „alternative Winkelschule“ von Staates Gnaden – sie würde als eigenständige Bewegung beispielhaft zeigen, wie ein freies Geistesleben aussehen kann, und einem solchen den Weg bereiten.

Eine solche Waldorfbewegung wiederum könnte nur entstehen, wenn weite Kreise von Menschen ihre Notwendigkeit erkennen und ihre Entstehung aktiv unterstützen würden. Menschen aus den verschiedensten Ländern müßten sich zu einer Art „Weltschulverein“ zusammenschließen. In mehreren Vorträgen versuchte Steiner, den Hörern diesen Gedanken ans Herz zu legen. Im Mai 1921 sagte er:

Aber ein Schul- und Erziehungswesen, welches wiederum lebendigen Geist in die Menschheit hineinbringen will, das muß ein so freies Schulwesen sein, wie ich es geschildert habe. (...)

Daher betrachte ich es (...) als unbedingt notwendig, um viele Niedergangskräfte, die in unserer modernen Zivilisation sind, durch Aufgangskräfte zu beseitigen, daß auf internationaler breitester Grundlage etwas entstehe wie dasjenige, was ich nennen möchte einen Weltschulverein. (...)

Aber wir wünschen nicht, daß man möglichst viele Winkel­schulen nach dem Muster der [Stuttgarter] Waldorfschule errichtet, sondern was wir wollen, ist, daß in weitesten Kreisen auf internationalem Gebiete die Einsicht entsteht: (...) Man muß danach streben, es zu erzwingen, daß das freie Geistesleben seine vollberechtigte freie Schule schaffen könne. Wir wollen nicht von Staates Gnaden Winkelschulen errichten (...), sondern was notwendig ist, das ist ein Verständnis für einen solchen Völkerbund, wie er spirituell-geistig in einem Weltschulverein liegen würde.

(Vortrag vom 24.5.1921, GA 297a, S. 64-66)

Es sollte noch 50 Jahre dauern, bis dieser Impuls durch Ernst Weissert (1905-81) anfänglich in die Tat umgesetzt wer­den konnte. Weissert war eine außerordentlich prägende Persönlichkeit für die Waldorfbewegung. Als junger Mensch hatte er sich durch die Begegnung mit Rudolf Steiner zum Lehrerberuf entschlossen. Die Nazi-Zeit warf die ge­­rade zart gewachsene Waldorfbewegung wiederum ins Keimstadium zurück. Ab 1946 war Weissert dann an der Stuttgarter Waldorfschule tätig, ab 1969 leitete er den damals noch kleinen Bund der Freien Waldorfschulen, „erfand“ die jährlichen Lehrertagungen und gründete 1971 den Verein „Freunde der Waldorfpädagogik“.

Fünf Jahre später übergab Weissert diesen Verein vertrauensvoll in die Hände einiger junger Menschen, die gerade ihre Waldorfschulzeit beendet hatten und die Idee eines „Weltschulvereins“ aufgreifen wollten. Der Verein bekam den Namen „Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners“, und sein von zunehmenden Spenden gespeister „Internationaler Hilfsfonds“ wurde bald ein entscheidender Faktor für die Ausbreitung und Stabilität der im Entstehen begriffenen weltweiten Waldorfbewegung.

(...)

>> Zur vollständigen Fassung auf der Homepage der Freunde der Erziehungskunst.