18.05.2007

Kindheit in Bedrängnis

Buchbesprechung: Christian Rittelmeyer: Kindheit in Bedrängnis. Zwischen Kulturindustrie und technokratischer Bildungsreform. Kohlhammer, 2007.

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 22.6.2007 (Nr. 25).


„Kindheit in Bedrängnis. Zwischen Kulturindustrie und technokratischer Bildungsreform“ – ein Buch, das mit diesem Titel in einem großen wissenschaftlichen Buchverlag (Kohlhammer) erscheint, dürfte auf jeden Fall ein wichtiger Impuls für die Diskussion in der Fachwelt sein. In vier Kapiteln geht Rittelmeyer auf 150 Seiten auf die Bedrohung der Kindesentwicklung durch die Kulturindustrie und ihre Schädigung durch die „Bildschirm-Kultur“ ein, stellt zwei Bildungsmodelle (humanistisch-ästhetisch und technokratisch-ökonomisch) einander gegenüber und behandelt zuletzt nochmals einzelne Aspekte der Kindheit (wie die Akzeleration). 

Das Buch ist nicht ganz einfach zu lesen. Durch den Inhalt merkt man dem Autor sein Engagement unmittelbar an, doch die Sprache ist fast überall sehr „akademisch“. Dazu kommt, daß Rittelmeyer Forschungsergebnisse vorsichtig zitiert bzw. interpretiert. Beides zusammen führt dann teilweise zu sehr abstrakten Sätzen. In der Regel aber kann man dem Gesagten innerlich gut folgen, und schnell wird auch klar: Die Fakten sprechen für sich.

Im ersten Kapitel entwickelt der Autor zunächst ein Plädoyer für das freie Spiel der Kinder, das wie nichts anderes wichtigste Fähigkeiten anlegt: Soziale Empathie, ein Bewusstsein von Ideal und Wirklichkeit (im Rollenspiel), Phantasie, Kreativität und vieles mehr. Wertvoll sind die zahlreichen Quellenangaben wissenschaftlicher Aufsätze und Studien, die das jeweils Gesagte belegen und auch zeigen, daß Fachleute weltweit auf diese Problemfragen hinweisen. Es ist zum Beispiel außerordentlich aufschlussreich, wenn ein Experte der US-Raumfahrtindustrie den Mangel an fähigen Nachwuchskräften beklagt und nun aber gerade nicht „technologische Frühförderung“, sondern eine vertiefte literarische Bildung und mehr freies Spiel fordert – als Grundlage für jene Kreativität und hochkomplexe Vorstellungskraft, die für jegliche Forschung notwendig ist.

Kinder können nur durch eigenes Handeln Fähigkeiten entwickeln. Sind sie dagegen den massiven Einflüssen der elektronischen Bildmedien ausgesetzt, wird echtes Welt-Verstehen und erst recht eigenes Denken und inneres Vorstellen geradezu verhindert. Rittelmeyer belegt dies bis in die neurologischen Grundlagen. So nehmen zum Beispiel bei regelmäßigen PC-Spielern Gehirnaktivitäten zu, die normalerweise für den Ruhezustand typisch sind – eine Art Demenz-Zustand! Mit dem Mensch-Zeichentest wurde bei Vorschulkindern in Göppingen (DE) ihre Fähigkeit untersucht, eine innere Anschauung von den eigenen Wahrnehmungen zu bilden: Die Zeichnungen der Kinder, die viel fernsahen, waren wesentlich rudimentärer (repräsentative Beispiele sind im Buch abgedruckt – eklatant!).

Im dritten Teil weitet Rittelmeyer den Blick auf die Kultur insgesamt und zeigt, daß das Bildungswesen heute von kapitalistisch-ökonomischen und technokratischen Denk- und Handlungsformen (fremd-)bestimmt ist. Man glaubt, durch planbare und vorgegebene „Standards“ und Tests entsprechende „Lernziele“ erreichen zu können, die wiederum die für die „Konkurrenzfähigkeit“ des eigenen „Wirtschaftsstandort“ notwendigen „Humanressourcen“ sichern sollen... Dem nun stellt er die „humanistisch-ästhetische“ Position entgegen, der es nicht um „Instruktion“, sondern um echte Bildung geht und für die er als Beispiel Rudolf Steiner zitiert: „Nicht gefragt soll werden: Was braucht der Mensch zu wissen und zu können für die soziale Ordnung, die besteht; sondern: Was ist im Menschen veranlagt und kann in ihm entwickelt werden?“

Damit macht Rittelmeyer endgültig darauf aufmerksam, wie sehr die „Bildungsfrage“ nur ein Teil der viel größeren „Kulturfrage“ ist. Und spätestens wenn er unter Hinweis auf die modernen „Spielfiguren“ – aber dies nur als Beispiel – auf die Mechanisierung und Sexualisierung des Menschen hinweist, wird klar, wie hier die anthroposophische Betrachtung unmittelbar ansetzen und konkrete Widersacher-Mächte schildern könnte, denen es um die Vernichtung der Kindheit als solcher geht – und deren erfolgreiches Wirken wissenschaftliche Studien auf aller Welt belegen. Wichtig ist auch Rittelmeyers Hinweis auf einen Aufsatz von Adorno (Erziehung nach Ausschwitz, 1966). Unsere ganze Kultur leidet, so Adorno, unter einem Mangel an Liebe. Wer aber nicht wirklich lieben kann, entwickelt immer mehr ein „verdinglichtes Bewusstsein“, ein technisches Denken und Handeln, und macht auch andere Menschen den Dingen gleich...

Rittelmeyer weist auf das Phänomen hin, daß die kommerzielle Kulturindustrie kindliche Fähigkeiten bis in die Leiblichkeit hinein systematisch zerstört, während die zur Behebung der „Leistungsmängel“ diskutierten neuen „Bildungsprogramme“ das Problem nicht beheben, sondern verschärfen! 

Leider klingt das Buch mit einem „schwächeren“ Kapitel aus, in dem noch einige Aspekte nachgetragen werden. Zudem sind auch die ersten beiden Hauptkapitel inhaltlich nicht so klar voneinander getrennt, wie die Überschriften andeuten. Mehrere Aspekte und Ergebnisse tauchen an verschiedenen Stellen auf und hätten wohl noch besser zusammengebracht werden können. Insgesamt aber hat Rittelmeyer ein von der Fachwelt nicht abzuweisendes Werk mit einer umfassenden Perspektive in die Diskussion eingebracht. Man wünscht ihm viele Leser, die auf ihrem Lebensgebiet in der Lage sind, etwas zu tun, damit Bildung wieder selbstlos fragen kann: Was ist im einzelnen Menschen veranlagt und kann in ihm entwickelt werden?