31.07.2007

Portfolioarbeit – Erziehung zur Freiheit

Einführung in ein revolutionäres Konzept

Zusammenfassung aus: Ilse Brunner, Thomas Häcker, Felix Winter (Hg.): Das Handbuch Portfolioarbeit. Konzepte, Anregungen, Erfahrungen aus Schule und Lehrerbildung. Kallmeyer 2006.

 

  • Was sind Portfolios?
  • Ziele
  • Beispiele
  • Überblick: Was können Portfolios
  • Umsetzung (mit Exkurs: Zur Vertrauensfrage)
  • Portfolio und Leistungsbewertung

 

Was sind Portfolios?

Der Begriff Portfolio leitet sich ab aus dem italienischen „portafoglio“ (portare „tragen“ und foglio „Blatt“). Schon in der Renaissance haben Künst­ler und Architekten ein Portfolio mit sich geführt, wenn sie sich um Plätze an Akademien bzw. um Bauaufträge bewarben. Mithilfe der in dieser Mappe enthaltenen Dokumente konnten sie die Qualität und auch die Entwicklung ihrer Arbeit, ihrer Techniken und ihres Könnens zeigen.

Ein schulisches Portfolio zeigt ebenfalls, was sein Autor kann, wie er arbeitet und sich entwickelt hat. Es enthält Dinge, die der Schüler für wert erachtet hat, in die Mappe aufzunehmen, um sie zu unterschiedlichen Zwecken vorzuzeigen. Portfolios dienen also der mehr oder weniger selbstbestimmten Darstellung des eigenen Könnens anhand ausgewählter Leistungsprodukte.

Der Portfolio-Begriff ist im engeren Sinne mit dem Aspekt der Dokumentation (sowie Einschätzung und Bewertung) von Leistungen und Kompe­tenzen, im weiteren Sinne – durch Sichtbarmachung und Reflexion des Lernprozesses – mit deren Weiterentwicklung verbunden. In diesem weiteren Sinne kann das Portfolio-Konzept zum zentralen Instrument einer Lernkultur werden, in der die Schüler Schritt für Schritt das (selbstbestimmte) Lernen lernen und in der die individuellen Begabungen und Interessen jedes einzelnen Schülers wertgeschätzt und berücksich­tigt werden – und werden können.

Durch Portfolioarbeit können die individuellen Stärken und Talente jedes Schülers in den Vordergrund treten, bewusst gemacht werden und gezielt für die weiteren Lernwege eingesetzt werden. Dieser reflexive Aspekt ist der wesentliche Unterschied zu normalen „Projektmappen“. Bei einem Portfolio sollte jedes „Lernprodukt“ von einer Reflexion über den Lernweg und Lernzuwachs begleitet sein – und das Ganze von einer Einführung und einer abschließenden Reflexion über die Bedeutung des Gelernten und die nächsten Schritte. Portfolioarbeit betreibt also gleichsam „Spurensicherung“, um Lernwege und Lernergebnisse der Reflexion verfügbar zu machen für das weitere, zunehmend selbständigere Lernen.

Diese Art von Lernen geht wesentlich weiter als das übliche Verstandenhaben und Anwendenkönnen (im besten Fall). Es führt den Schüler auf eine selbstbestimmte Entdeckungsreise der je eigenen Fragen und Antworten. Die notwendigen Fähigkeiten können die Schüler schon früh entwickeln, wenn sie nur gemeinsam geübt werden – mit Hilfe von anregenden, unterstützenden Fragen, in Gruppenarbeit und so weiter. In diesem Sinne gehört zur Portfolioarbeit gleichermaßen das gemeinsame Erarbeiten von Lernzielen und Beurteilungskriterien.

Dieses reflexive, selbstbestimmte Element kann tatsächlich überhaupt nicht überschätzt werden. Wann geht es im sonst üblichen Schulalltag schon einmal um die Sache selbst? Wenn die Schüler eine Arbeit beendet haben, an deren Ende eine Beurteilung steht (Korrektur, verbale Stellungnahme etc.), werden sie in der Regel Vergleiche untereinander anstellen, werden sich ärgern, eifersüchtig sein, sich vielleicht aber sogar auch für jemand anderen freuen – doch um die eigentliche Frage: „Was habe ich durch dies alles gelernt? Wo stehe ich jetzt?“ geht es dabei längst nicht mehr. Der Portfolioansatz stellt genau diese Frage ins Zentrum.

Da Portfolioarbeit auf das individuelle Lernen ausgeht, gelingt mit diesem Konzept geradezu die Quadratur des Kreises bei einem Problem, wo alle anderen Konzepte an irgendeinem Punkt gescheitert sind: Wie gelingt es, die Schüler zu Lernprozessen zu motivieren und zu verhindern, dass spätestens am Ende die eigentliche Frage aus dem Blick gerät, weil die Schüler ihre Ergebnisse und insbesondere deren Beurteilungen zwangsläufig vergleichen – mit allen negativen Folgen für den Einzelnen und den sozialen Zusammenhang?

Der Portfolioansatz vermag die besten Bemühungen und Leistungen jedes Einzelnen hervorzulocken und gleichzeitig das soziale Klima in der Klasse zu fördern.

Entwicklung des Konzeptes

Wesentliche Elemente der Portfolioarbeit finden sich schon bei manchen Vertretern der Reformpädagogik („Beleghefte“ o.ä., nicht zuletzt auch die „Jahresarbeiten“ der Waldorfschulen).

1973 begründete der österreichische Pädagoge Vierlinger in Linz eine Gesamtschule, suchte ein angemessenes Instrument der Leistungsbeurteilung und entwickelte sein Konzept der „Direkten Leistungsvorlage“. Die Behörden lehnten dieses allerdings kategorisch ab. Erst 1991 gab es in Österreich den ersten offiziellen Schulversuch mit Portfolios in Salzburg.

Anfang der 80er Jahre setzte in den USA eine zunehmende Kritik an der Qualität des Schulwesens ein. Immer mehr Untersuchungen ließen vermuten, dass die seit langem dominierenden Multiple-Choice-Tests und ein damit verbundenes „Learning to the test“ ein echtes Lernen offenbar geradezu verhinderten. Nachdem 1983 der Bericht „A Nation at Risk“ einer Regierungskommission auch die fehlende Qualität der Lehrer beklagte, setzten verstärkte Reformbemühungen ein. In den 90er Jahren wurde das Portfolio innerhalb kürzester Zeit zur wichtigsten alternativen Assessment‑Methode.

Deutschsprachige Veröffentlichungen setzten erst Ende der 90er Jahre und verstärkt bis 2003 ein. Auch hier stand vor allem die Frage der alternativen Leistungsbewertung im Vordergrund, weil sich an vielen Schulen offene, schüleraktive Lernmethoden etabliert hatten.

Im Mai 2003 organisierten Rüdiger Iwan (Waldorflehrer in Schwäbisch Hall und Gründer von perpetuum novile, einer gemeinnützigen Schulprojektgesellschaft) und Felix Winter (Universität Zürich, damals Bielefeld) die erste Portfoliotagung im Bildungszentrum Kloster Obermarch­tal. Mit dem Handbuch Portfolioarbeit (2006), aus dem diese Darstellung eine konzentrierte Zusammenfassung wesentlicher Aspekte ist, liegt erstmals eine breit angelegte deutschsprachige Darstellung zum Konzept und seinen Einsatzgebieten vor.

Ziele

Die Ziele des Portfolio-Konzeptes lassen sich im Grunde aller mit dem Begriff des „selbstbestimmten Lernens“ umschreiben. Oft handeln Lehrer nach zwei gegensätzlichen Prinzipien. Einerseits wollen sie ihre Schüler zu unabhängigen, kreativen und kritischen Denkern erziehen, andererseits verlangen sie, dass vor­gegebene Arbeiten zur gleichen Zeit gemacht werden.

Vielen Lehrern fällt es schwer, sich vorzustellen, wie der Unterricht so differenziert werden kann, dass jedes Kind wirklich seine eigenen Talente einbringen und auch persönlich schwierige Anforderungen meistern kann. Sie sind so in der „Einteilung“ ihrer Schüler in gute und schlechte, faule und fleißige etc. gefangen, dass sie gar nicht merken, wie sie mit ihren Katego­rien diese Realität erzeugen.

Eigenverantwortliches Lernen braucht Wahlmöglichkeiten – und dies wiederum wirkt befreiend und motivierend! Und gerade dann können Lernprodukte sowohl Ausdruck der persönlichen Talente und Lernwege sein und den Lernzielen und Qualitätserwartungen der Schule entsprechen.

Im differenzierten Unterricht können bei gleichen Lernzielen die Inhalte, Prozesse, Produkte, ja selbst die Umgebung des Lernens völlig individualisiert werden. Die Lernqualität wird auf fünf Ebenen gesichert: Das Kind übt in Bezug auf den gewählten Wissensbereich wesentliche Fakten herauszufinden, Muster und Grundprinzipien zu entdecken, ein entsprechendes Voka­bular zu entwickeln, sich der persönlichen Bedeutung bewusst zu werden und Wege zu finden, das neue Wissen anzuwenden.

Die meisten Lehrer heben in ihrem Unterricht die Fehler hervor. Besprochen wird meist, was verbessert werden muss, Fehler, Defizite und Korrekturen binden viel von der verfügbaren Zeit und Energie. Portfolioarbeit dagegen setzt bei den Kompeten­zen an und lädt die Schüler dazu ein zu zeigen, was sie können. Ein guter Lehrer ermutigt die Schüler, macht Mut zu einer neuen Fehlerkultur und signalisiert, dass Fehler die wesentlichen Anknüpfungspunkte für mögliches (Weiter‑)Lernen sind.

Durch die Betonung des Positiven und die motivierende Wirkung des selbstständigen Arbeitens entsteht geradezu ein „Sog nach oben“: Jeder Schüler möchte sein Bestes zeigen und hat am Ende etwas in der Hand, auf das er mit Recht stolz sein kann. Sogar die Lernergebnisse der Mitschüler regen und spornen an – statt wie früher Strebertum zu vermuten, kann nun jedes Werk als das ureigenste des Schülers gesehen und anerkannt werden. (Der Vorwurf des Strebertums ist nämlich sowohl das Bemühen der „fauleren“ Schüler, die „Messlatte niedrig“ zu halten, als auch die Verachtung für jenen, der dem Lehrer zu viel Eifer entgegenbringt. Ursache ist in beiden Fällen die Tatsache, dass der Schulalltag als fremdbestimmt erlebt wird. Eine weitere wichtige Rolle spielt die Eifersucht auf den „Besseren“, wenn alle das Gleiche in gleicher Weise machen müssen, anstatt ihren individuellen Fragen und Stärken nachgehen zu dürfen).

Mit dem Portfolioansatz wird das Ideal des 19. Jahrhunderts, dass sich der Mensch selbsttätig bilde, mit den Schülern tatsächlich erübt. Es ist eine „Erziehung zur Freiheit“! Der noch heute oftmals vorherrschende Frontalunterricht, bei dem die Schüler stets vorgegebene Lernziele erreichen müssen und weder den Weg dorthin bestimmen, noch überhaupt weitergehende Zusammenhänge innerhalb des Lehrplans erkennen (dürfen), führt spätestens (!) in der Pubertät zu einer allgemeinen Lernmüdigkeit, um nicht zu sagen Verweigerung. Diese jedoch ist nur ein Ausdruck der Tatsache, dass selbstverständlich schon im Schüler die sich selbst bestimmen wollende Individualität heranreift und nach herausfordernden Freiräumen verlangt.

Wenn ein Lehrer mit seinen Schülern Unterrichtsziele bespricht, mit ihnen gemeinsam individuelle Lernziele erarbeitet und verschiedene Wege dorthin zulässt, erwachen durch die Transparenz und den nun möglichen persönlichen Zugang Interesse und Motivation. Das Portfoliokonzept stellt dann die Methode bereit, um die Lernwege der Schüler kontinuierlich zu begleiten. Während punktuelle „Präsentationen“ oft keineswegs die tatsächlich geleistete Arbeit widerspiegeln, gewinnt der Lehrer durch die Portfolioarbeit schon im Prozess tiefe Einblicke in die Lernwege der einzelnen Schüler und kann diese dadurch effektiv und hilfreich unterstützen.

Beispiele

Eine „Schatzkiste“ in der ersten Klasse

Die Lehrerin sammelt das Schuljahr hindurch zunächst alle Arbeiten der Kinder im Klassenzimmer in Ordnern, Kisten und so weiter. Am Ende des Schuljahres richtet sich jedes Kind eine eigene Sammelkiste mit all seinen Arbeiten ein. Bereits hier zeigen sich die Kinder erstaunt, beeindruckt und stolz darauf, was sie im vergangenen Schuljahr alles erarbeitet und hergestellt haben. Am nächsten Tag beginnt die eigentliche Arbeit: Jedes Kind soll seine zehn wertvollsten Arbeiten für die Schatzkiste auswählen – und je zwei Kinder sollen einander dann ihre Schatzkisten zeigen und die Auswahl begründen und sich aufschreiben. Auch jetzt wieder zeigen alle Kinder engagiert ihre eigene Auswahl, betrachten aber auch mit gro­ßem Interesse die des Partners, fragen nach oder diskutieren über die eine oder andere Arbeit. Am dritten Tag schließlich werden die Schatzkisten fertig gestellt und mit einem Vorwort und einer individuell beson­deren Gestaltung versehen. All diese Schätze können dann in einer feierlichen Präsentation den Eltern und anderen Klassen vorgestellt werden.

Das Talentportfolio

Ein Talentportfolio ist die konsequente Weiterentwicklung eines normalen Projekt‑Portfolios, da es noch stärker die individuelle Entwicklung der Schüler und ihre Interessen in den Mittelpunkt stellt. Es ist eine systematisch geführte Mappe zum Sammeln, Darstellen und Reflektieren von Dokumenten, die über die eigenen Stärken und Fähigkeiten etwas aussagen. Dabei sammeln die Schüler (z.B. mit Hilfe von Fragebögen) auch Informationen über ihre bevorzugten Unterrichts­-, Denk‑, Lern‑ und Ausdrucksstile. Gerade das Reflektieren über sich und das eigene Lernen macht den großen Unterschied zu einer gewöhnlichen Sammelmappe aus. Regelmäßig können die Schüler auf dieser Grundlage planen, in welchen Themen, Lerntechniken usw. sie sich in Zukunft weiterentwickeln möchten.

Das Konzept kann um so sinnvoller angewendet werden, wenn durch „curriculum compacting“ Freiräume für die je besonderen Interessen und Talente geschaffen werden. Es gibt dann einen Basislehrplan und erweiternde „Enrichment‑Aktivitäten“,

- die zu vertieftem Lernen einladen (Exkursionen, Berufserkundungen, Lesungen, Hobbypräsentationen, Interessentage usw.).
- die wichtige Fertigkeiten vermitteln (Methoden zur Recherche, Präsentation usw.),
- wo Schüler ihre individuellen Fragestellungen erforschen.

Das Talentportfolio gibt allen Beteiligten einen Überblick über die individuellen Fördermaßnahmen und die Entwicklung der Inte­ressen und Fähigkeiten jedes Schülers. Wenn Schüler sich ge­genseitig ihre Talentportfolios präsentieren oder der ganzen Klasse von einer Leistung erzählen können, auf die sie stolz sind, dann wirkt sich das positiv auf ihre Motivation, ihr Selbstwertgefühl und natürlich den sozialen Zusammenhalt aus.

Überblick: Was können Portfolios

Die wesentliche Idee des Portfolioansatzes dürfte durch die bisherigen Schilderungen deutlich geworden sein. Um ein umfassendes Bild des Ansatzes zu geben, seien alle wichtigen Aspekte hier noch einmal aufgelistet:

  • Förderung selbstbestimmten und wechselseitigen, jeweils persönlich bedeutsamen Lernens.
  • Ermutigung und Ansporn, „Sog nach oben“ – statt „Lernen für den Lehrer“ und leistungsbezogenes Versagensrisiko.
  • Erlebnis des „eigenen Projekts“ motiviert zur ständigen Verbesserung, die Qualität der Produkte steigt sprunghaft.
  • Grundlage für nachhaltige Lernerfolge und Kompetenzentwicklung.
  • Sichtbarmachung, Betonung und tiefes Verständnis der Lernprozesse > Motivation, Eigenverantwortung.
  • Stärkung des Selbstbewusstseins und des Gefühls „Ich kann es schaffen“.
  • Erkenntnis der eigenen Stärken und Schwächen.
  • Einblick in die Lernprozesse > Grundlage für jede Weiterentwicklung, auch die des Lehrers und seines Unterrichts.
  • Orientierung an Kompetenzen statt Defiziten, an persönlichem Lernzuwachs statt kollektiven Standards.
  • Katalysator einer fruchtbaren, vertrauensvollen Gesprächskultur zwischen Lehrern und Schülern.
  • Grundlage für sachliche Kommunikation über Leistungen statt Rechtfertigungsdruck angesichts von Endprodukten und einseitiger Beurteilung durch den Lehrer.
  • Transparenz des Lernprozesses für alle (Schüler, Eltern, Lehrer, Beamte, Ausbildungsstellen, Öffentlichkeit...).
  • Gemeinsame Beurteilung anhand gemeinsam erarbeiteter Lernziele, Qualitäts- und Bewertungskriterien.
  • Möglichkeit einer anderen Prüfungskultur (Rechenschaft über Lernprozesse, Ergebnisse und Kompetenzen).
  • Instrument auch zur eigenständigen Entwicklung der Lehrer-Kompetenz, des Schulprofils usw.

Umsetzung

Die Einführung der Portfolioarbeit muss gut geplant sein, damit es nicht zu einem „Strohfeuereffekt“ kommt, bei dem Lehrer und Schüler gleichermaßen überfordert werden. Einige Grundbedingungen:

  • Offener, differenzierender Unterricht als Grundlage für die Entwicklung eigener Interessen und Lernwege.
  • Der damit immer verbundene „Kontrollverlust“ des Lehrers muss gewollt sein und durch Herstellung geeigneter Rah­menbedingungen ersetzt werden. Dazu gehört die Übung der Reflexion als Fähigkeit.
  • Schrittweise Entwicklung differenzierter Lehrpläne mit definierten Methodenkompetenzen.
  • Sinn und Ziel des Portfoliokonzeptes müssen gemeinsam besprochen und verstanden werden. Die Schüler brauchen zum Beispiel eine Vorstellung von den Kompetenzen, um die es geht.
  • Hilfreich für einen ersten Eindruck sind existierende Portfolio-Arbeiten aus anderen Klassen bzw. Schulen.
  • Die Schüler brauchen das Gefühl, Fehler machen zu dürfen – ein tiefes Vertrauen in den Lehrer und die Mitschüler.
  • Der Lehrer muss sich in der urteilsfreien Akzeptanz der einzigartigen Stärken und Schwächen jedes Schülers üben.
  • Die Fähigkeiten der eigenständigen und gemeinsamen Reflexion müssen erübt werden.
  • Lernziele, Qualitätskriterien, Beurteilungskriterien usw. müssen gemeinsam erarbeitet und ihre Funktion, ihr Gebrauch und die richtige Form (gerade für Feedback!) gemeinsam erübt werden.
  • Gerade am Anfang in jeder Hinsicht viel Hilfestellung, Beratung und systematische (positive) Rückmeldung.
  • Geeignete Lernorte und Lernmittel in und ggf. auch außerhalb der Schule (z.B. Mediothek, Handapparat, Internetzugang, Lesesofa und andere „ruhige Ecken“, Platz für Poster und Skizzen etc.).
  • Zeiten der gemeinsamen Besprechung und Wahrnehmung (Portfoliogespräche durch Mitschüler, Lehrer, Eltern). Ein Portfolio ist nur so gut wie die Gespräche darüber. Unterstützende Formblätter als Hilfe zur Selbsteinschätzung und zur Rück­meldung haben sich sehr bewährt.
  • Teambetreuung durch zwei Lehrer erleichtert die Portfolioarbeit vor allem in großen Klassen. Sehr förderlich sind auch fächerübergreifende Lehrer-Stundenpools und Präsenzzeitmodelle.
  • Ausführliche Würdigung des Entstandenen am Ende (bis hin zu Ideen wie „Lange Nacht der Präsentationen“).

Lernziele und offener Unterricht lassen sich durchaus in volle Übereinstimmung bringen. Schon von der dritten Klasse an kann der Lehre die Jahresplanung gemein­sam mit den Kindern entwickeln: Ge­meinsam werden die Themenbereiche und Lernziele festgelegt, und die Kinder überlegen, welche Lernprodukte sie dazu erstellen können. Wenn die Themenbereiche weit genug gefasst sind, können alle Kinder ihre Erfahrungen einbringen und ihre Interessen wiederfinden. In einem nächsten Schritt kann man dann mit den Schülern eine grobe Zeitstruktur und Kriterien für die (Selbst-)Be­wertung der Portfolioarbeiten erarbeiten.

Exkurs: Zur Vertrauensfrage

Die wichtigste (meist unbewusste) Frage des Schülers ist sehr oft: Geht es wirklich um mich? Schnell nämlich – bzw. früher oder später – gewinnen die Schüler nämlich den immer stärker werdenden Eindruck, dass es nicht wirklich um sie geht. Sie erleben im wahrsten Sinne die Schulpflicht. Dies ist natürlich am stärksten der Fall, wo es für Arbeiten der Schüler Noten gibt, ist aber auch bei anderen Schulformen die ständige Gefahr bzw. die häufige Realität.

Von einer ganz anfänglichen Freude am Lernen als solchem, egal in welcher Form (also auch vorgegeben durch den Lehrer), kommen die Schüler schnell in eine Phase, wo sie unbewusst den Impuls entwickeln, ihren Lernprozess selbst (mit) zu bestimmen. Sie merken dann (ebenfalls zunächst unbewusst), dass dies nicht möglich ist, sondern dass der Lehrer den Verlauf des einzelnen Tages und des Schuljahres, den Inhalt der Hausarbeiten usw. bestimmt. Das ursprünglich aus reiner Freude motivierte Lernen wird zu einem Lernen für den Lehrer. Auch dieses kann zunächst aus Liebe für den Lehrer vor allem freudig sein. Doch das innere Erlebnis, einem weitgehend fremdbestimmten Prozess zu folgen, wird schrittweise stärker, bis es sich irgendwann in der Pubertät in einer allgemeinen Schulmüdigkeit Bahn bricht...

Das erste Phänomen, an dem sich das „Lernen für den Lehrer“ zeigt, ist das Täuschen (Abschreiben, Spickzettel usw.). Dies ist jedoch immer auch eine Selbsttäuschung. Das Motiv, sich lernend mit der Welt zu verbinden, liegt nicht mehr im eigenen Subjekt – der anfänglich ganz aus dem eigenen Inneren kommende Impuls verliert den Subjektbezug, wird fremdbestimmt. Was in der Schule passiert, und damit auch die Welt (über die ich in der Schule etwas lerne, lernen soll!), ist immer weniger meine Sache, nicht ich bin gemeint, sondern ich bin Objekt, von dem etwas erwartet wird...

Man muss sich also sehr bewusst sein, dass das oft belächelte „Learning to the test“ nur die letzte Stufe dieser Entwicklung ist – und dass auch in Schulen, die sogar ganz ohne „Tests“ auskommen, der Subjektverlust, die Missachtung der sich entwickelnden Individualität, eigentlich eine durchgehend zu beobachtende Tatsache ist.

Unter dieser Perspektive verbietet sich jeder Vorrang des Lehrers in der Begründung von Lerngegenständen. Sinn und Bedeutung können diesen immer nur individuell zugesprochen werden, abhängig von den individuellen Interessen und Lebensthemen. Diesen genug Freiräume zu geben, ist die Kunst des Lehrers. Demgemäß muss auch der Lernprozess offen sein und sich an den individuell neu auftauchenden Fragen orientieren, ohne diese durch fixierte Lernziele zu verhindern. Wie die in den Schülern angeregten Frage- und Lernprozesse verlaufen und was sie hervorbringen, kann nicht vorhergesehen werden. Das Portfolio ist das geeignete Mittel, diese Prozesse zu verfolgen und sinnvoll zu begleiten.

Dieselbe Perspektive verdeutlicht, dass es in erster Linie nicht um fertige oder gar „schöne“ Ergebnisse geht, sondern um das Ergebnis der Bemühungen aus Sicht des Schülers. Selbst wenn ein Projekt aus herkömmlicher Sicht „gescheitert“ ist, weil kein Ergebnis „fassbar“ ist, kann der Schüler wichtige Erkenntnisse und Kompetenzen für sich gewonnen haben. Da es hier um intime Prozesse geht, muss es zugleich dem Schüler überlassen bleiben, welche Aspekte des Lernprozesses er im Rahmen der Selbstreflexion der „Öffentlichkeit“ anvertraut und welche nicht.

Eine in dieser Weise am Schüler orientierte Lernkultur erwartet vom Lehrer eine Haltung, in der er sein Handeln in den Initiativen des Lernenden begründet. Die entscheidende Fähigkeit wäre es dann, Resonanz geben zu können: Die Lernvorhaben der Schüler über authentische Anfragen und Stellungnahmen, eigene Erfahrungen und zusätzliche Informationen anregen und bereichern. Dazu kommt dann die Aufgabe des Lehrers, den Lernrahmen so zu gestalten, dass die Schüler ihre Lernvorhaben gemäß ihren Möglichkeiten umsetzen können.

Die „neue“ Haltung des Lehrers kann und muss geübt werden. Sie drückt sich unter anderem in Kompetenzen der Wahrnehmung, Beurteilung und Rückmeldung aus. Hilfreich sind zum Beispiel „Werkbetrachtungen“ (eine Entsprechung zu den „Schülerbetrachtungen“ der Waldorfschulen). Eine Gruppe von Kollegen nimmt eine Schülerarbeit zunächst still zur Kenntnis. Dann beantwortet jeder folgende Fragen: Was beeindruckt Sie an dieser Arbeit am meisten? Welche Fragen über die Arbeit und den Schüler steigen in Ihnen auf? Ist die Arbeit für den Schüler von Bedeutung ‑ welche Hinweise dafür fin­den Sie? Welche Schlüsse auf die Interessen, die Neugierde und die Stärken des Schülers können Sie ziehen? Fragen dieser Art fördern die Fähigkeit zum urteilsfreien Beobach­ten und Beschreiben. Abschließend diskutieren die Lehrer, welche nächsten Schritte für den Schüler anstehen könnten, welche Rückmeldung man ihm geben kann und in welcher Form das geschehen soll (auch hieraus lassen sich Kommentar-Übungen machen).

Reflektieren lernen

Um selbst Verantwortung für ihren Lern­prozess übernehmen zu können, müssen die Schüler klar definierte Lernziele und Qualitätskriterien kennen. Nur so können sie sich aktiv auf solche Ziele zubewegen. Ein wesentliches Element in diesem Prozess ist die Reflexion: durch Selbsteinschätzung und Partner-Feedback - zugleich eine Arbeitsersparnis für den Lehrer. Die wichtigsten Schlüssel zum Erfolg (und zur Motivation der Schüler) sind Fragen wie „Wo stehe ich zur Zeit?“, „Was kann ich schon gut?“, „Wo habe ich noch Schwierigkeiten?“ „Was ist mein nächster Schritt?“. Fast jeder Schüler kann lernen, hilfreiches, konstruktives Feedback zu geben. Zunächst braucht es allerdings Hilfestellungen und die Möglichkeit, diese Fähigkeiten an Mustertexten usw. gemeinsam zu üben. Welche Kommentare werden als hilfreich empfunden? Auch die Beurteilungs-Kriterien müssen gemeinsam erarbeitet werden – nur dann werden sie von den Schülern als solche (an)erkannt und auch einge­fordert.

Bereits Zehn­- oder Elfjährige können Feedback zu einzelnen, klar definierten Kriterien geben und erleben, wie hilfreich dies sein kann, um die Wahrnehmung zu schärfen und die eigene Arbeit noch besser zu machen, bevor der Lehrer sie beurteilt. Es gibt kaum eine andere Unterrichtsaktivität, die so gewinnbringend ist wie eine intensive „peer conference“ in einer Dreiergruppe (deren Ergebnisse und Konsequenzen dann auch schriftlich festgehalten werden).

Wenn eine Klasse ein Halbjahr lang in diesem Sinne am Erreichen kleiner, überschau­barer Lernziele gearbeitet hat, ist es zuletzt relativ einfach für die Schü­ler, ihr Portfolio zusammenzustellen. Noch einmal werden die wichtigsten Lernziele gesammelt und aufgeschrieben. Dann folgt die Auswahl ge­eigneter Belegstücke und das Schreiben von Reflexionen zu jedem Beitrag. Hier laufen alle Fä­den zusammen. Wie gut kann der Schüler die Qualitätsmerkmale erkennen und einschätzen? Auch hier helfen wieder leitende Fragen: Warum hast du dieses Beispiel ausgewählt? Was würdest du ändern, wenn du noch Zeit hättest? Welche Ziele hattest du und wie gut hast du sie erreicht? Wie bist du die Arbeit angegangen? Was war besonders schwierig? Was hat dir geholfen und was hast du verändert?

In einem Portfoliobrief an den Leser beschreiben die Schüler nun ihren Fort­schritt, ihren Einsatz und ihren Leistungsstand in verschiedenen Bereichen. Das fertige Portfolio wird selbstverständlich auch in einer „peer conference“ von Mitschü­lern beurteilt. Diese Feedback‑Stunde ist ein feierlicher Moment, in dem die Leistung jedes Schülers gewürdigt wird. Zugleich kann sich der einzelne Schüler auch Ideen holen, was er beim nächsten Mal noch besser machen könnte. Auch der Lehrer und der einzelne Schüler tauschen sich dann in einem beidseits gut vorbereiteten, etwa 15-minütigen Abschlussgespräch über ihre jeweilige Bewertung aus, die zu einem abschließenden Feedback und einer gemeinsamen Bewertung führt.

Portfolio und Leistungsbewertung

Portfolios verweisen auf das Grunddilemma: Wie können allgemeingültige Stan­dards zugleich auf die Einzigartigkeit des Individuums Bezug nehmen?

Dass das Schulnotensystem kein einziges Gütekriterium eines objektiven Beurteilungsinstruments erfüllt, haben empirische Untersuchungen längst eindeutig nachgewiesen. Ein und dieselbe Schülerarbeit wird nicht nur von verschiedenen Lehrern verschieden beurteilt, sondern oft sogar von demselben Lehrer zu verschieden Zeiten, und dies sind längst nicht alle Kritikpunkte. Daher kommt Ingenkamp in seinem Werk „Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung. Texte und Untersuchungsberichte“ 1995 zu der anklagenden Feststellung: „Unser gesamtes schulisches Be­rechtigungswesen beruht auf einer Fiktion!“

Der Portfolioansatz ermöglicht einen wesentlich umfassenderen Blick auf die Arbeiten des Schülers. Und selbst wenn am Ende eine Note stehen sollte, wird diese doch ganz anders erlebt – erst recht, wenn die Schüler die Beurteilungskriterien nicht nur kennen, sondern auch an ihrer Entwicklung beteiligt waren. In jedem Fall aber beinhaltet das Konzept eine wiederholte Selbstreflexion und Standort­bestimmung während des Lernprozesses. Am Ende deckt sich die Selbsteinschätzung der Schüler fast immer mit der Einschätzung des Lehrers, und in den seltenen Ausnahmefällen wird nochmals ausführlich über die einzelnen Lernziele gesprochen.

Auch in anderer Hinsicht geht der Portfolioansatz über das Notensystem weit hinaus: Wo im heutigen „Berechtigungswesen“ nur der Lehrer die eigentlichen Leistungen des Schülers zu Gesicht bekommt und zu einer Note werden lässt, ermöglicht das Portfolio dem Adressaten (Ausbildungsstelle etc.) einen direkten Eindruck der Leistungen und Fähigkeiten. Wie auch wir beim Bäcker nicht nach der Note im Meisterbrief fragen, sondern die Brötchen probieren! Das Portfoliokonzept beseitigt also die dubiose Vermittler- und Richterrolle des Lehrers bei der Beurteilung (eine fortwährende strukturelle „Brunnenvergiftung“!) – und stärkt die genuine Rolle des Lehrers als Berater und geistigen Geburtshelfer an der Seite des Schülers.

Einige Literatur

  • Brunner I, Schmidinger, E (2000): Gerecht beurteilen. Portfolio: die Alternative für die Grundschulpraxis. Veritas, Linz.
  • Ingenkamp K (1995): Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung. Texte und Untersuchungsberichte. Weinheim/Basel.
  • Koch Th (2005): Potsdam: Abitur mit Portfolio. In: Erziehungskunst 9/2005, 1023-1024.
  • Pagel K (2000): Jede/r lernt anders. VAK Verlags GmbH, Kirchzartem b. Freiburg.
  • Renzulli JS, Reis SM, Stedtnitz U (2001): Das Schulische Enrichment Modell SEM. Begabungsförderung ohne Elitebildung. Sauerländer Verlage AG, Aarau.
  • Tomlinson CA (1999): The Differentiated Classroom. Responding to the Needs of All Learners. ASCD, Alexandria.
  • Tomlinson CA (2004): Fulfilling the promise of the differentiated classroom: Tools and strategies for responsive teaching. ASCD, Alexandria.