07.10.2007

Greifswald und die Einsamkeit des Elftklässlers

Bericht von der großen Fortbildungstagung für Waldorflehrer im Oktober 2007 in Greifswald. >> Langfassung mit Berichten von weiteren Vorträgen.

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 26.10.2007 (Nr. 42).

Vom 3. bis 6. Oktober gab es wieder einmal eine große Fortbildungstagung für Waldorflehrer – diesmal in Greifswald. Auf 1.000 war die Zahl der Teilnehmer begrenzt, und aus ganz Deutschland strömten Waldorflehrer in das schöne Hansestädtchen, um hier zweieinhalb Tage lang zusammenzukommen, sich auszutauschen und durch viele wunderbare und wichtige Seminare oder Vorlesungen bereichern und anregen zu lassen. Greifswald mit seinen 55.000 Einwohnern empfing die Waldorfbewegung mit offenen Armen: Der Dom, die Universität, das Museum, das Theater, alle stellten ihre Räume zur Verfügung, Mietfahrräder ermöglichten die notwendige Mobilität, und auch in der Mensa bekam man nach halbstündigem Schlangestehen (eine weitere Austausch-Möglichkeit!) schließlich sein Mittagessen... 


Stellvertretend für alle anderen wunderbaren Veranstaltungen möchte ich hier von einem Vortrag berichten, an dem ich teilnehmen konnte: „Über die Bedingungen, das Offensichtliche in der Begegnung mit Oberstufenschülern zuzulassen“ von Florian Osswald (Schweiz).

Sehr engagiert schilderte Osswald, wie es die Hauptaufgabe jedes Oberstufenlehrers ist, an-wesend zu sein, wirklich anwesend. Die echte, innere Anwesenheit des Lehrers wirke wahrhaft erzieherisch, nichts anderes. Er zitierte Reiner Kunze: „Im Herzen barfuss gehen“ und fragte: Was könnte nicht alles geschehen, wenn wir es wagen würden?

Die Schüler suchen immer den authentischen, verletzbaren Menschen. Und der Lehrer kann den Schülern helfen, durch elementare Erlebnisse auch selbst immer wieder offen zu werden. Der Jugendliche zieht sich immer mehr in sich zurück, sucht sich selbst, erlebt immer mehr nur sich selbst – „junge Egoisten“, die aber zugleich unheimlich sensibel sind. Denn in diesem extremen Rückzug bis auf einen Punkt, wo rundum nur Leere zu herrschen scheint, liegt die Möglichkeit, auch diesen Punkt noch auszulöschen und für das umfassende „All“ um einen herum wieder empfänglich zu werden: Durch den Egoismus hindurchbrechen ins Nichts und zugleich in die umfassende Offenheit für das Alles. Der wahre Mensch lebt eigentlich zwischen diesen Polen.

Florian Osswald setzte rund fünfzig Elftklässler in Vierergruppen an abgelegenen Orten aus – ohne Essen, ohne Schlafsack, ohne alles. Im Herbst. Nur ein Nothandy in einem versiegelten Kuvert gab es. Die Schüler hatten drei Tage, um ein 150 km entferntes, ihnen unbekanntes Dörfchen zu erreichen... Ein Wagnis! Bis auf eine Ausnahme hatten alle Eltern zugestimmt. Und nun machten sich diese Jugendlichen auf den Weg. Sie mussten andere Menschen um Wasser und Brot bitten, um ein Nachtlager. Und sie machten unglaubliche Erfahrungen! In biederen Einfamilienhäusern, in denen man selbst als Erwachsener kaum zu atmen wagen würde, um „nichts schmutzig zu machen“, öffneten sich ihnen die Türen; an manchen Orten erschien der Bürgermeister selbst, stellte Matratzenlager in der Schule zur Verfügung, früh um sechs Uhr stand schon ein Frühstück bereit... Die Schüler konnten es nicht glauben! Menschen, die sie für stinkbürgerlich hielten, mit denen sie nie und nimmer etwas zu tun haben wollten, von denen sie auch nie etwas erwartet hätten – sie erwiesen sich als Menschen.

In den wunderbaren Gesprächen nach diesem Abenteuer erklärte Osswald den Schülern, was eigentlich geschehen war: „Diese Erwachsenen waren eigentlich nicht anders als vorher. Ihr wart anders! Schutzlos, verletzbar – und dies rief die unglaublichen Kräfte wach, die ihr dann erlebt habt...“ Und man konnte beobachten, wie diese Elftklässler danach viel vorsichtiger mit ihren Urteilen waren.

In einer weiteren „Präsenz“-Übung versuchte Osswald, gemeinsam mit den Schülern das wohlbekannte „verschlafene Desinteresse“ überwinden. Er regte seine Schüler an, bei allem, was er sagte, immer wieder innerlich zu fragen: „Warum sagt er das? Warum sagt er das? Was soll das?“ Die sonst oft so furchtbar bequemen, lässigen Schüler taten dies – und Osswald erlebte plötzlich eine solche Präsenz, dass er selbst Mühe hatte, weiter zu sprechen! Und darum geht es: Wirklich an-wesend zu sein. Die Hauptaufgabe des Oberstufen-Lehrers! Nur so entsteht wirkliche Begegnung. Nur so kann der Lehrer die Schüler auf ihrem Weg wirklich beg-leiten...

Einen großen Dank nach Greifswald und an alle Mitwirkenden für eine großartige Tagung und wunderbare Anregungen!