Wegweisendes von der großen Lehrertagung in Greifswald

Bericht von der großen Fortbildungstagung für Waldorflehrer im Oktober 2007 in Greifswald. Veröffentlicht in der Schulzeitung der Waldorfschule Berlin-Mitte „Mittenmang“ (Nr. 19) vom April 2008.


Bevor ich von drei sehr interessanten Veranstaltungen berichte, die ich (nicht als Lehrer, sondern für die „Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners“) besuchte, will ich kurz von der Tagung selbst erzählen. Auf 1.000 war die Zahl der Teilnehmer begrenzt, und aus ganz Deutschland strömten Waldorflehrer in das schöne Städtchen Greifswald, um hier zweieinhalb Tage lang zusammenzukommen, sich auszutauschen und durch viele wunderbare und wichtige Seminare oder Vorlesungen bereichern und anregen zu lassen. Greifswald mit seinen 55.000 Einwohnern empfing die Waldorfbewegung mit offenen Armen: Der Dom, die Universität, das Museum, das Theater, alle stellten ihre Räume zur Verfügung, Mietfahrräder ermöglichten die notwendige Mobilität, und auch in der Mensa bekam man nach halbstündigem Schlangestehen (eine weitere Austausch-Möglichkeit!) schließlich sein Mittagessen... 

Von unserer Schule waren Frau Schulz-Bakowski, Herr Jackson und Herr Kionke in Greifswald und nahmen an anderen interessanten Seminaren über die Lehrerkonferenz, über „gewaltfreie Kommunikation“ usw. teil. Ich möchte vom Seminar Portfolio berichten – einem Ansatz, der sein Potential immer mehr offenbart, je intensiver man sich mit ihm beschäftigt! Doch zuvor werde ich von zwei wunderbaren Vorträgen erzählen.

Oberstufe – was tun?

Florian Osswald (Ittigen/Schweiz) sprach „Über die Bedingungen, das Offensichtliche in der Begegnung mit Oberstufenschülern zuzulassen“. Sehr engagiert schilderte er, wie es die Hauptaufgabe jedes Oberstufenlehrers ist, an-wesend zu sein, wirklich anwesend. Die echte, innere Anwesenheit des Lehrers wirke wahrhaft erzieherisch, nichts anderes. Er zitierte Reiner Kunze: „Im Herzen barfuss gehen“ und fragte: Was könnte nicht alles geschehen, wenn wir es wagen würden?

Die Schüler suchen immer den authentischen, verletzbaren Menschen. Und der Lehrer kann den Schülern helfen, durch elementare Erlebnisse auch selbst immer wieder offen zu werden. Der Jugendliche zieht sich immer mehr in sich zurück, sucht sich selbst, erlebt immer mehr nur sich selbst – „junge Egoisten“, die aber zugleich unheimlich sensibel sind. Denn in diesem extremen Rückzug bis auf einen Punkt, wo rundum nur Leere zu herrschen scheint, liegt die Möglichkeit, auch diesen Punkt noch auszulöschen und für das umfassende „All“ um einen herum wieder empfänglich zu werden: Durch den Egoismus hindurchbrechen ins Nichts und zugleich in die umfassende Offenheit für das Alles. Der wahre Mensch lebt eigentlich zwischen diesen Polen.

Florian Osswald setzte rund fünfzig Elftklässler in Vierergruppen an abgelegenen Orten aus – ohne Essen, ohne Schlafsack, ohne alles. Im Herbst. Nur ein Nothandy in einem versiegelten Kuvert gab es. Die Schüler hatten drei Tage, um ein 150 km entferntes, ihnen unbekanntes Dörfchen zu erreichen... Ein Wagnis! Bis auf eine Ausnahme hatten alle Eltern zugestimmt. Und nun machten sich diese Jugendlichen auf den Weg. Sie mussten andere Menschen um Wasser und Brot bitten, um ein Nachtlager. Und sie machten unglaubliche Erfahrungen! In biederen Einfamilienhäusern, die so sauber waren, dass man selbst als Erwachsener kaum zu atmen wagen würde, öffneten sich ihnen die Türen; an manchen Orten erschien der Bürgermeister selbst, stellte Matratzenlager in der Schule zur Verfügung, früh um sechs Uhr stand schon ein Frühstück bereit... Die Schüler konnten es nicht glauben! Menschen, die sie für stinkbürgerlich hielten, mit denen sie nie und nimmer etwas zu tun haben wollten, von denen sie auch nie etwas erwartet hätten – sie erwiesen sich als Menschen.

In den wunderbaren Gesprächen nach diesem Abenteuer erklärte Osswald den Schülern, was eigentlich geschehen war: “Diese Erwachsenen waren eigentlich nicht anders als vorher. Ihr wart anders! Schutzlos, verletzbar – und dies rief die unglaublichen Kräfte wach, die ihr dann erlebt habt...“ Und man konnte beobachten, wie diese Elftklässler danach viel vorsichtiger mit ihren Urteilen waren.

In einer weiteren „Präsenz“-Übung versuchte Osswald, gemeinsam mit den Schülern das wohlbekannte „verschlafene Desinteresse“ überwinden. Er regte seine Schüler an, bei allem, was er sagte, immer wieder innerlich zu fragen: „Warum sagt er das? Warum sagt er das? Was soll das?“ Die sonst oft so furchtbar bequemen, lässigen Schüler taten dies – und Osswald erlebte plötzlich eine solche Präsenz, dass er selbst Mühe hatte, weiter zu sprechen! Und darum geht es: Wirklich an-wesend zu sein. Die Hauptaufgabe des Oberstufen-Lehrers! Nur so entsteht wirkliche Begegnung. Nur so kann der Lehrer die Schüler auf ihrem Weg wirklich beg-leiten...

Zukunftsfragen der Waldorfschule

Richard Landl (Witten) sprach über die großen Herausforderungen der Waldorfpädagogik. In einer Welt der Reizüberflutung, Verfrühung und Beschleunigung gilt es, den heutigen Kindern gerecht zu werden und gerade darum (aber darum teilweise anders) an den Grundlagen der Waldorfpädagogik festzuhalten.

Da ist zum einen die Erkenntnis der tiefen Unterschiede der einzelnen Entwicklungsphasen. Immer mehr Macht gewinnt die heutige Meinung, man könne alle Inhalte schon früh intellektuell an die Kinder heranbringen, wenn es nur „kindgerecht“ aufbereitet sei. Eine solche Meinung verkennt, wie die Kinder in den ersten Schuljahren bildhaft denken und wie der ganze Unterricht eigentlich bildhaft sein muss. Der Lehrer erzählt eine Legende, und hinterher wissen die Kinder, was ein Einsiedler ist: Sie können wunderbare Bilder zur Legende malen, ihr ganzer Mensch ist erlebnis-gesättigt – nur könnten sie auf die Frage, was denn nun ein Einsiedler sei, absolut noch keine intellektuelle Antwort geben!

Dann gibt es eine Übergangszeit, und mit der Pubertät, in der 8. Klasse, muss dann ganz entschieden das denkende Erkennen, das wirklich eigenständige Verstehen von Zusammenhängen wachgerufen und gefördert werden. Wo die gewöhnliche „Pädagogik“ in den ersten Schuljahren bereits viel zu weit geht, geht sie in diesen Lebensjahren nicht weit genug! Sie bringt Lernstoff, aber fördert nicht das selbständige erkennende Denken. Dies erfordert auch eine entsprechende Willenskraft. Gerade die Kunst, das Künstlerische aber stärkt – auch schon in allen vorangehenden Jahren – den Willen und pflegt damit eben zugleich in der richtigen Weise den Intellekt.

Im weiteren ging Landl auf die Bereiche ein, in der die Waldorfbewegung ganz entschieden lernen muss, um den heutigen Anforderungen und Kindern gerecht werden zu können. In der Schuleingangsphase werden die Entwicklungs-Unterschiede immer größer. Damit hier das Individuelle eine Antwort finden kann, muss künftig immer mehr differenziert werden: Es muss Inhalte geben, die für alle Kinder gültig sind, und daneben Kann-Angebote in allen Bereichen, wo die einen Kinder schon weiter sind als andere (Schreiben, Lesen usw.). Auch der ganze Vormittag in der Unterstufe müsse sich wandeln, die feste Trennung zwischen Epochen- und Fachunterricht durchlässiger werden. So kann etwa der Klassenlehrer auch den Fach-Unterricht mit begleiten. Überhaupt haben einige Schulen schon gute Erfahrungen mit „Team-Teaching“ gemacht.

Ein weiteres „Arbeitsfeld“ ist die Zusammenarbeit zwischen Klassen- und Oberstufenlehrern, um den Übergang am Ende der Mittelstufe besser zu greifen und zu gestalten. Hartmut von Hentig („Schule neu denken“) hält sogar um die 8. Klasse herum ein völlig entschultes Jahr für nötig: Lernen vom Leben! Das Erleben und die Frage der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns und Sollens ist in keinem Alter wieder so existentiell!

In der Oberstufe ist das Hauptproblem nicht die Stoff-Fülle, sondern die mangelnde Motivation. Auf Prüfungen hinlernen, dauert länger... Was kann man tun? Trennen zwischen engagiertem exemplarischem Lernen und Übstunden für den Prüfungsstoff! Die Schüler können das klar unterscheiden, und die Frage der Motivation kann ganz neu gegriffen werden. In diesem Zusammenhang wies Landl auf die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden hin, „PISA-Sieger“ und zugleich eine der wunderbarsten Schulen überhaupt. Ihre langjährige Leiterin Enja Riegel schrieb aus ihrer Erfahrung das wegweisende Buch „Schule kann gelingen!“

Portfolio – eine Schatzkammer 

Das Seminar „Kompetenz, Portfolio, Evaluation – wie passt das zur Waldorfpädagogik?“ veranstaltete Thilo Koch von der Waldorfschule Potsdam. Eindrücklich schilderte Koch die Kerngedanken von Portfolio: Den Schülern die Würde zurückgeben, individuelle Lernwege ermöglichen und unterstützen, Begegnung, Lernfreude und Lernkompetenz fördern. Darüber hinaus birgt die Portfolio-Idee die Möglichkeit, das gesamte Prüfungs- und Studien-/Berufs-Berechtigungswesen zu revolutionieren. Aber der Reihe nach...

Dem Begriff nach ist Portfolio eine schülerzentrierte Form der Dokumentation von Lern- und Leistungsschritten und -ergebnissen. Der Schüler kann „zeigen, was er kann“. Beispiel Betriebspraktikum: Der Schüler bewirbt sich um einen Praktikumsplatz, es gibt Erwartungen der Schule, des Betriebes, des Schülers, Tagesberichte, „Beweisstücke“, Bewertungen durch den Betrieb und den Schülers selbst, Rückblicke und so weiter... Aus all diesen Materialien entsteht ein Portfolio, das ein wunderbares Bild dessen vermittelt, was ein Schüler geleistet, erfahren, gelernt, an Entwicklung durchgemacht hat. Einige Elemente gehören unbedingt hinein, andere Elemente fügt der Schüler nach eigener Wahl hinzu.

Bildung und Kompetenz-Begriff sind oft mangelorientiert, zweckgerichtet, normiert... Mit Portfolio kann all dies aufgebrochen und das Positive gepflegt werden! Der Schüler will lernen, er lernt individuell und er kann zeigen, was und wie er gelernt hat – und mit Recht stolz darauf sein. Neben wunderbaren Erfolgserlebnissen („Ich kann es ja doch“) macht der Schüler die Erfahrung, dass gerade Authentizität es ermöglicht, sich in die Welt hineinzustellen und der Welt zu begegnen.

Die neue MSA-Prüfung (Mittlerer Schulabschluß) in Berlin am Ende der 10. Klasse beinhaltet auch eine Portfolio-Prüfung. Der beste Weg, dieses zukunftsweisende Instrument fruchtbar und freudig einsetzen zu können, ist, es durch Lehrer und Schüler schon in früheren Klassen zu ergreifen – als etwas, das den Grundanliegen der Waldorfpädagogik ganz direkt entgegenkommt!

Bei der Erarbeitung eines Portfolios wird der Schüler nicht alleingelassen, sondern vom Lehrer begleitet. Es geht um ein prozessorientiertes, dialogisches Arbeiten, um eine ganz neue Kultur von Begegnung und Feedback. Auch unter Schülern! In der Umsetzung ist das einzige ernstzunehmende Hindernis die traditionelle Klassengröße. Potsdam arbeitet längst mit Klassen von 20-24 Schülern und teilweise „Team-Teaching“, was keinen finanziellen Nachteil bedeutet, da andererseits keine Teilung für Fach-Unterrichte mehr erforderlich ist.

Koch schilderte lebendig, wie die Schüler immer weniger den „Weg des geringsten Widerstands“ gingen und mit immer größerer Offenheit selbst über ihre Schwächen sprachen! Unter anderem erarbeiten die Schüler am Schuljahresende in 10 Tagen Hauptunterricht ein Jahresrückblick-Portfolio, was zugleich zur Folge hat, dass sie die Übhefte seitdem viel besser pflegen und die Epochenhefte auch nach Fertigstellung tatsächlich benutzten. Und der Rückblick der Schüler auf sich selbst war fast so gut wie ein Zeugnis!

In der 10. und 11. Klasse machen die Potsdamer Schüler jeweils ein fünfwöchiges (!) Betriebs- bzw. Sozial-Praktikum. Durch die enge Zusammenarbeit und das Engagement der Schüler im Rahmen der Portfolioarbeit finden 90% der Schüler, die ohne Abi die Schule verlassen, in „ihrem“ Betrieb einen Ausbildungsplatz! Zunächst aber entstehen nach dem Praktikum und der eigentlichen Portfolioarbeit wunderbare Präsentationen – und gerade dieser umfassende Prozess ermöglicht es den Schülern, sich tief engagiert mit „ihrer Sache“ zu verbinden. Übrigens auch mit ihren Schwächen. Die Schüler ermuntern sich dabei gegenseitig durch eine fast liebevolle Offenheit („Du hast noch nicht gesagt, welche Schwierigkeiten du hattest“). Es wächst ein tiefes Interesse an dem, was die anderen gemacht und erlebt hatten. Auch klassenübergreifend, indem man sich gegenseitig zu kleinen Ausstellungen einlädt oder die ganze Schule einbezieht. Natürlich erfordert auch dies die Pflege durch die Lehrer, z.B. durch Fragen und Anregung der gegenseitigen Reflexion. Die unteren Klassen dürfen natürlich einfach ihr reines Staunen ausleben: „Können wir das später auch...?“.

Wo wir bei der Unterstufe sind: Oft wird gegen die Portfolio-Idee geltend gemacht, dass in diesem Alter die Selbstreflexion weder zu erwarten, noch wünschenswert ist – und das ist richtig. Das Kind ist noch ganz willensbetont, dennoch hat es inmitten aller Lernfreude auch ein intuitives Bewusstsein des Gelernten und ein entsprechendes Urteil: „Mama schau mal!“ (wie gut ich das jetzt schon kann). Kinder in diesem Alter sollte man selbstverständlich nicht in Urteile und Entscheidungen hineinzwingen, die sie von sich aus noch gar nicht treffen. „So jetzt leg‘ mal alle Bilder nebeneinander und suche das Schönste für die Portfolio-Mappe heraus!“ – so abstrakt-intentional wäre die Portfolio-Idee in dieser Altersstufe missverstanden. Doch man kann schon die Kinder der unteren Klassen ermuntern, auszusprechen, was als intuitive Urteile bereits in ihnen lebt: „Was hat euch denn besonders viel Freude gemacht?“ „Wo habt ihr euch denn am meisten anstrengen müssen?“ – als offene Fragen und nie insistierend. Auch nicht, weil es „zu Portfolio gehört“, sondern in herzlichem Mitleben mit den Schülern. In dieser freilassenden Weise zeigt man Interesse an den individuellen Lernprozessen der Kinder und fördert dasjenige, was später als Urteilsfähigkeit und Fähigkeit zur Selbstreflexion erwachen wird.

Schon die Kinder der ersten Klassen können ihr „Schatzkästlein“ haben: Zunächst wird alles gesammelt, was sie im Laufe des Jahres machen, finden und so weiter. Am Ende des Jahres oder einer Epoche nimmt man sich gemeinsam Zeit und sucht sorgfältig heraus, was ins Schatzkästlein kommen soll... Das hat noch nichts mit Selbstreflexion zu tun, wie sie in den oberen Klassen angeregt werden soll, sondern mit der Freude am Lernen, am Geleisteten – und auch mit der ständigen Aufgabe des Erziehers, in den Kindern das ästhetische Empfinden und den Schönheitssinn zu entwickeln und zu fördern.

In welchem Alter auch immer – die Portfolio-Idee fragt danach: Was bringen die Kinder mit? Wie können individuelle Lernwege ermöglicht werden (vor dem Hintergrund dieses Mitgebrachten und dessen, was der Lehrer aus verantwortungsvoller Überschau an die Kinder heranbringt)? Wie kann die Freude am Lernen, das Interesse an der Welt erweckt, bewahrt und gefördert werden?

Einen großen Dank nach Greifswald für eine großartige Tagung und wunderbare Anregungen!