07.10.2007

Portfolio – eine Schatzkammer

Bericht von einem Seminar auf der Fortbildungstagung für Waldorflehrer im Oktober 2007 in Greifswald.

Veröffentlicht in der „Erziehungskunst“, 2/2008 unter dem Titel „Portfolio-Revolution“.


„Kompetenz, Portfolio, Evaluation – wie passt das zur Waldorfpädagogik?“ – so war das Seminar betitelt, das Thilo Koch von der Waldorfschule Potsdam auf der Fortbildungstagung 2007 in Greifswald veranstaltete. Eindrücklich schilderte Koch die Kerngedanken von Portfolio: Den Schülern die Würde zurückgeben, individuelle Lernwege ermöglichen und unterstützen, Begegnung, Lernfreude und Lernkompetenz fördern. Darüber hinaus birgt die Portfolio-Idee die Möglichkeit, das gesamte Prüfungs- und Studien-/Berufs- Berechtigungswesen zu revolutionieren. Aber der Reihe nach …

Dem Begriff nach ist Portfolio eine schülerzentrierte Form der Dokumentation von Lern- und Leistungsschritten und -ergebnissen. Der Schüler kann „zeigen, was er kann“. Beispiel Betriebspraktikum: Der Schüler bewirbt sich um einen Praktikumsplatz, es gibt Erwartungen der Schule, des Betriebes, des Schülers, Tagesberichte, „Beweisstücke“, Bewertungen durch den Betrieb und den Schüler selbst, Rückblicke und so weiter. Aus all diesen Materialien entsteht ein Portfolio, das ein Bild dessen vermittelt, was ein Schüler geleistet, erfahren, gelernt, an Entwicklung durchgemacht hat. Einige Elemente gehören unbedingt hinein, andere Elemente fügt der Schüler nach eigener Wahl hinzu.

Der Schüler will lernen, er lernt individuell und er kann zeigen, was und wie er gelernt hat – und er kann mit Recht stolz darauf sein. Neben den Erfolgserlebnissen („Ich kann es ja doch“) macht der Schüler die Erfahrung, dass gerade Authentizität es ermöglicht, sich in die Welt hineinzustellen und der Welt zu begegnen.

Dialog, Feedback, Begegnung

Bei der Erarbeitung eines Portfolios wird der Schüler nicht alleingelassen, sondern vom Lehrer begleitet. Es geht um ein prozessorientiertes, dialogisches Arbeiten, um eine ganz neue Kultur von Begegnung und Feedback – auch unter Schülern! In der Umsetzung ist das einzige ernstzunehmende Hindernis die traditionelle Klassengröße. Potsdam allerdings arbeitet längst mit Klassen von 20-24 Schülern und ermöglicht teilweise das „Team- Teaching“. Das bedeutet keinen finanziellen Nachteil, da keine Teilung für Fachunterrichte mehr erforderlich ist.

Koch schilderte lebendig, wie die Schüler immer weniger den „Weg des geringsten Widerstands“ gehen und mit immer größerer Offenheit selbst über ihre Schwächen sprechen lernen. Unter anderem erarbeiten die Schüler am Schuljahresende in zehn Tagen Hauptunterricht ein Jahresrückblick-Portfolio, was den Nebeneffekt hat, dass sie die Übhefte seitdem viel besser pflegen und die Epochenhefte auch nach Fertigstellung tatsächlich benutzen. Und der Rückblick der Schüler auf sich selbst ist fast so gut wie ein Zeugnis!

In der 10. und 11. Klasse machen die Potsdamer Schüler jeweils ein fünfwöchiges Betriebs- bzw. Sozial-Praktikum. Durch die enge Zusammenarbeit und das Engagement der Schüler im Rahmen der Portfolioarbeit finden 90% der Schüler, die ohne Abi die Schule verlassen, in „ihrem“ Betrieb einen Ausbildungsplatz. Zunächst aber gibt es nach dem Praktikum und der eigentlichen Portfolioarbeit die Präsentationen – und gerade dieser umfassende Prozess ermöglicht es den Schülern, sich tief mit „ihrer Sache“ zu verbinden. Übrigens auch mit ihren Schwächen. Die Schüler ermuntern sich dabei gegenseitig durch eine fast liebevolle Offenheit („Du hast noch nicht gesagt, welche Schwierigkeiten du hattest“).

Das Interesse wächst, was die anderen gemacht und erlebt hatten. Auch klassenüber- greifend, indem man sich gegenseitig zu kleinen Ausstellungen einlädt oder die ganze Schule einbezieht. Natürlich erfordert auch dies die Pflege durch die Lehrer, z.B. durch Fragen und Anregung der gegenseitigen Reflexion.

… und in der Unterstufe?

Oft wird gegen die Portfolio-Idee geltend gemacht, dass in diesem Alter die Selbstreflexion weder zu erwarten, noch wünschenswert ist – und das ist richtig.

Das Kind ist noch ganz willensbetont, dennoch hat es inmitten aller Lernfreude auch ein intuitives Bewusstsein des Gelernten und ein entsprechendes Urteil: „Mama, schau mal!“ Kinder in diesem Alter sollte man selbstverständlich nicht in Urteile und Entscheidungen hineinzwingen, die sie von sich aus noch gar nicht treffen. „So jetzt leg‘ mal alle Bilder nebeneinander und suche das Schönste für die Portfolio-Mappe heraus!“ – so abstraktintentional wäre die Portfolio-Idee in dieser Altersstufe missverstanden. Doch man kann schon die Kinder der unteren Klassen ermuntern auszusprechen, was als intuitives Urteil bereits in ihnen lebt: „Was hat euch denn besonders viel Freude gemacht?“, „Wo habt ihr euch denn am meisten anstrengen müssen?“ Immer als offene Fragen und nie insistierend. In dieser freilassenden Weise zeigt man Interesse an den individuellen Lernprozessen der Kinder und fördert dasjenige, was später als Urteilsfähigkeit und Fähigkeit zur Selbstreflexion erwachen wird.

Schon die Kinder der ersten Klassen können ihr „Schatzkästlein“ haben: Zunächst wird alles gesammelt, was sie im Laufe des Jahres machen, finden und so weiter. Am Ende des Jahres oder einer Epoche nimmt man sich gemeinsam Zeit und sucht sorgfältig heraus, was ins Schatzkästlein kommen soll. Das hat noch nichts mit Selbstreflexion zu tun, wie sie in den oberen Klassen angeregt werden soll, sondern mit der Freude am Lernen, am Geleisteten – und auch mit der ständigen Aufgabe des Erziehers, in den Kindern das ästhetische Empfinden und den Schönheitssinn zu entwickeln und zu fördern.

In welchem Alter auch immer – die Portfolio-Idee fragt danach: Was bringen die Kinder mit? Wie können individuelle Lernwege ermöglicht werden? Wie kann die Freude am Lernen, das Interesse an der Welt erweckt, bewahrt und gefördert werden?

Revolution des Prüfungs- und Berechtigungswesens

Prüfungsordnungen mehrerer Bundesländer ermöglichen mittlerweile auch Portfolio-Prüfungen. Solche Kompetenzen könnten künftig immer konkreter (auch einzeln) bescheinigt werden. Der dahinter stehende Grundgedanke ist stets, dem Schüler den Weg ins weitere Bildungs- und Berufsleben zu erleichtern. Portfolio-Prüfungen zeigen, was für Kompetenzen sich der Schüler angeeignet hat.

Die Arbeitsgruppe „Zukunft der Abschlüsse“ des Bundes der Freien Waldorfschulen ist bereits dabei, in Zusammenarbeit mit allen Waldorfschulen Kompetenzen zu beschreiben, die die Waldorfpädagogik vermitteln will. Ein noch weitergehender Schritt ist das Unternehmen eines „europäischen Waldorfabschlusses „. Im Zuge des „Bologna- Prozesses“ wird ja europaweit eine Vereinheitlichung der Abschlüsse vorangetrieben, damit das Bildungs- und vor allem auch Berechtigungswesen der europäischen Länder vergleichbar wird. In der Waldorfbewegung haben sich nun Menschen zusammengetan, die an den Grundlagen eines eigenen, gemeinsamen Abschlusses arbeiten wollen. In einem weiteren Schritt könnte ein solcher zertifiziert und von den Hochschulen anerkannt werden – eine Vision, die Waldorfpädagogik bis in die Abschlüsse hinein zu ihrem Recht kommen zu lassen!

Europäisches Abschlussportfolio

Am 2. und 3. November 2007 fand die erste Internationale EAP-Konferenz in Potsdam statt. Ziel der Konferenz ist es, ein Europäisches Abschlussportfolio (EAP) bzw. European Portfolio Certificate (EPC) zu initiieren. Die über 70 Teilnehmer aus acht Ländern Europas (Norwegen, Dänemark, Großbritannien, Niederlande, Belgien, Deutschland, Schweiz, Tschechische Republik) diskutierten unter der Federführung von Thilo Koch die Bedingungen für ein Portfolio auf internationaler Ebene. Auf nationaler Ebene ist die Durchführung von Portfolioprüfungen nicht einheitlich bzw. hat sich unterschiedlich stark in den betreffenden Ländern durchgesetzt. In den Niederlanden gibt es bereits eine einheitliche Zertifizierung.

Jede Waldorfschule, die an der Entwicklung von internationalen Standards teilnehmen möchte, sollte einen Vertreter für diese Prüfungsform benennen und ein „Evaluationsteam“ bilden. Ziel ist u.a. die Vernetzung der Schulen, um den weiteren Austausch über unterschiedliche Ansätze und Ideen zu ermöglichen.