14.12.2007

Schlafen die Waldorfschulen oder nicht?

Aspekte zur Selbstprüfung

Entgegnung auf den Aufsatz „Zeitgemäße Selbstbestimmung“ von Christoph Wiechert, Leiter der Pädagogischen Sektion in Dornach, im „Goetheanum“ vom 14.12.2007, den er als Antwort auf meine Buchbesprechung „Die neue Waldorfschule“ schrieb, nachdem er dazu offenbar einige Reaktionen erhalten hatte. Ich fand Wiecherts Text sehr problematisch, siehe hierzu meine >> Gedanken zu Wiecherts Text.


In der letzten Ausgabe des „Goetheanum“ schrieb Christoph Wiechert in seinem Aufsatz „Zeitgemäße Selbstbestimmung“, der Rezensent des Buches „Die neue Waldorfschule“ von Rüdiger Iwan „versteigt sich zum Satz: ‚Die Waldorfschulen haben das 20. Jahrhundert verschlafen.‘“

Der Waldorfimpuls ist etwas derart Wesentliches, dass ich (der Rezensent) auf Christoph Wiecherts Beitrag noch einmal antworten möchte. In der Tat ist der zitierte Satz so pauschal, dass das Gemeinte tiefer verborgen ist als bei anderen Sätzen. Ich habe beim Schreiben der Rezension lange überlegt, ob ich mir diesen Satz, der aus Iwans Buch stammt, zueigen machen soll. Wenn er aus dem Munde eines Gegners käme, wäre er absolut fruchtlos. Aus dem Munde eines engagierten Waldorflehrers kann und soll er zu denken geben. Genau das ist die Absicht von Iwan: Schonungslose Aufdeckung dessen, was aus seiner Sicht heute der ungeheure Abstand, ja die Entfernung der Waldorfschulen von dem Ideal ist, das Rudolf Steiner klar vor Augen hatte. Iwan will aufwecken, und deshalb kann man diesen pauschalisierenden Satz sogar sagen, wenn man im Einzelnen viele fruchtbare Bemühungen und Beispiele sieht.

Iwan selbst entschuldigt sich gleich zu Beginn seines Buches bei allen engagierten Lehrern, denen er Unrecht tut – die Tag für Tag innerlich auf dem Weg sind und Neues entwickeln, um dem Ideal nahe zu bleiben. Ich sehe die vielen positiven Beispiele ebenfalls und habe zur Unterstützung alles dessen auf der Homepage der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners auf bereits über 60 Unterseiten Texte zum Wesen des Waldorfimpulses und zu zukunftsweisenden Entwicklungen zusammengestellt (www.freunde-waldorf.de/info/waldorf/herausforderungen).

Die Institution als ständige Herausforderung

Klar ist, dass es Iwan in jenem Pauschalurteil um die Schulen als Institution geht. Natürlich können nicht Schulen schlafen und verschlafen, sondern immer nur konkrete Menschen. Doch Institutionen haben eben eigene Gesetze, in ihnen wirken immer die Widersachermächte und drängen zu kollektivem Handeln. Dem kann man sich kaum jemals völlig entziehen. Die hier wirksam werdenden Kräfte gehen dabei immer mit einem Einschlafen einher, wenn man sie nicht in vollem Umfang erkennt und bekämpft.

Hier stehen wir vor der ersten, riesigen Herausforderung für die Waldorfschulen: Wie kann ein Kollektivismus (aber auch ein Dilettantismus usw.) der Konferenzen immer wieder überwunden werden? Nur durch Erkenntnis der wirksamen Kräfte und ihrer Wirkungsweise. Und dann durch energische Selbsterziehung und bewusstes gemeinsames Üben. All dies muss zusammenkommen!

Vor diesen Herausforderungen steht im Grunde unsere ganze Zeit, dennoch ist ihre Überwindung kaum irgendwo existentieller notwendig als im Bereich der Erziehung und vor dem Hintergrund des Ideals der Waldorfpädagogik.

Dazu kommt nun die Tatsache, dass die Lehrer an Waldorfschulen ganz unterschiedlich mit diesem Impuls und erst recht mit der Anthroposophie verbunden sind. Wenn es stimmt, dass mittlerweile jeder zweite neu anfangende Klassenlehrer keinerlei Waldorf-Ausbildung hat (Johannes Kiersch in der „Erziehungskunst“ 4/2001), dann ist der Druck in Richtung eines fern vom Ideal gelegenen Mittelmaßes noch viel höher, als ich bisher annahm. Aber auch viele Lehrer mit Ausbildung engagieren sich innerlich und äußerlich nur begrenzt, es fehlt die Begeisterung – oder sie geht im Schulalltag verloren. Und nun stelle man sich eine Konferenz all dieser Kollegen vor, die doch das Herz einer Schule sein soll.

Damit wiederum eng verbunden ist nun der eigentliche pädagogische Bereich (im Sinne des pädagogischen Handelns). Auch hier gilt: Es gibt alle Abstufungen, sowohl im Engagement als auch in der Befähigung. Und wenn die Konferenz nicht als wahrhaftiges Herz der Schule arbeitet, dann ist jeder hier außerdem noch „Einzelkämpfer“.

Sicher, es gab in den letzten Jahrzehnten „Innovationen“. Doch was Christoph Wiechert in der von ihm erwähnten „Erziehungskunst“ 11/2003 aufzählt, ist nicht viel bzw. sind nur Glanzlichter einzelner Schulen: Kontakte mit der Arbeitswelt (Praktika etc.), Werkunterricht mit fast professioneller handwerklich-künstlerischer Tätigkeit, abendfüllende Eurythmieabschlüsse, Spitzenleistungen im Technikunterricht, Suche nach neuen Modellen für die Mittel- und Oberstufe. Jede Schule mag sich selbst befragen, wo sie damit steht. Und welcher Aspekt ist wirklich eine Neuerung gegenüber der Pionierschule von 1919 und dem schon damals real Angestrebten?

Herzfragen der Pädagogik – oft missverstanden

Alle diese Dinge sind wunderbar, wo sie umgesetzt werden. Worauf es vor allem ankommt, sind die Fragen, die das Kind, der Jugendliche stellt – unausgesprochen, durch seine Existenz. Werde ich gesehen? Lerne ich durch den Lehrer die Welt kennen? Und lieben? Liebt der Lehrer die Welt? Und mich? Das Wesentlichste ist also die Gesinnung des Lehrers. Kann diese auch in und aus der Gemeinschaft immer wieder befruchtet, genährt, begeistert werden?

Aber selbst wenn der Lehrer im besten Glauben und Enthusiasmus handelt: Handelt er richtig?

Es besteht eine allgemeine Tendenz zu der Meinung, die Kinder und das, was sie brauchen, erkennen und verstehen zu können (mit Kinderbesprechungen und im Alltag sehr oft auch ohne) – und dann die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen. Wo aber sind Lehrer, die sich energisch im Zurückhalten ihres Urteils schulen – es auch vermeiden, Bilder, Gleichnisse und Erklärungen zu finden –, und sich bemühen, „nur“ mit den Kindern und Jugendlichen zu leben, in der Fragestimmung zu bleiben? Erst dieser innere Schulungsweg führt zu einer wirklichen Erkenntnis, die nicht über das Urteil geht, die aber gerade dadurch die richtigen Intuitionen nicht verhindert.

Steiner sagte nicht: Wenn Sie die Kinder anschauen, werden Sie (verstandesmäßig) erkennen, was zu tun ist. Sondern: Wenn man sich meditativ die Menschenkunde erarbeitet, wird man ein anderer Mensch – erst dann kommen die Intuitionen. Hier liegt eine ungeheure Gefahr für die Waldorfbewegung: Die entscheidende Frage, wie man sich dem Wesen des Kindes allein nähern soll und kann, wird allzuoft missverstanden und übergangen. Und dann tritt ein, dass man in bestem Glauben handelt, in der Meinung, das Kind erkannt zu haben und selbstlos das Beste für das Kind zu tun – und bei alledem nicht erkennt, wie sehr man einem subtilen „pädagogischen Hochmut“ erlegen und im Verstandesdenken, im „Persönlichkeitsgeist“ verblieben ist. Die „exoterische Spitze des Eisberges“ spiegelt sich sogar in zwei kürzlich erschienen sozialwissenschaftlichen Studien zur Waldorfschule wieder („Autorität und Schule“ und „Waldorfschule und Schülerbiographie“, Zusammenfassungen unter www.waldorfschule-hessen.de).

Das Wesentliche ist der innere Kontakt, das innere Band zu den Schülern – Rudolf Steiner klagte schon 1922 in einem Brief an Edith Maryon, die Lehrer hätten diesen Kontakt mit der Schülerschaft der höheren Klassen ganz verloren. Mir scheint, dieser Verlust droht heute aus den genannten Gründen immer früher. Vermeiden kann man ihn nur durch innere Schulung, Liebe, Interesse, Begeisterung, Humor und Intuition. Das ist ungeheuer viel – aber darum geht es.

Und ein wesentlicher Faktor dabei ist schließlich auch die Methodik. Ich meine hier nicht einmal die Erziehungskunst überhaupt, den künstlerischen Zug in allem Unterricht, das Rhythmisieren in jeder Hinsicht, das Berücksichtigen aller vier Temperamente und so weiter (doch wiederum: wer ringt hier Tag für Tag?). Sondern ich meine Unterrichtsmethoden, die den Frontalunterricht entschieden ergänzen müssen, wenn die Waldorfpädagogik den Kindern und Jugendlichen gerecht werden will: Bewegliches Klassenzimmer, Projektunterricht, Gruppenarbeit, Portfolioansatz... Erziehungskunst muss heute diese Elemente mit einbegreifen – und zunächst will diese Tatsache erkannt werden, denn sonst ist es wiederum nicht das Eigene.

Die Frage ist immer: Was brauchen die Schüler? Man kommt also am Ende immer wieder zur Notwendigkeit der Fragestimmung. Hierfür muss Raum da sein, eigentlich mehr Raum als für alles andere. Wenn die Waldorfschulen wirklich wahrhaftig in einer solchen Fragestimmung leben – die einzelnen Lehrerinnen und Lehrer, die jeweiligen Kollegien – und den Enthusiasmus für ständige Entwicklung („nicht versauern“) mitbringen, dann schlafen sie nicht.

Sicherlich geben täglich Hunderte von Lehrern ihr Bestes, wie Herr Wiechert sagt. Auf der anderen Seite wird sich gerade der wahre Waldorflehrer in der Rückschau immer sagen können: Mein Bestes habe ich eigentlich auch heute wieder nicht erreicht. Das wahre Beste ist nämlich die wahre Vereinigung mit dem höheren Ich – also auch mit den Kräften von Erkenntnis- und Tatenmut. Man kann dies immer nur anstreben – aber nur wenn man es in seiner ganzen Willensrichtung Tag für Tag wirklich tut, tut man „sein Bestes“. Dann kann man auch vorbehaltlos (an)erkennen, wo überall man bisher schlafend war.

Ob oder in welchem Ausmaß „die Waldorfschulen“ (d.h. jede individuell verschieden) das 20. Jahrhundert verschlafen haben, entscheidet sich nicht an dem unmaßgeblichen Urteil eines Einzelnen, sondern im Lichte der geistigen Welt – im Blick des höheren Ich (des Lehrers und des Schülers) und im noch umfassenderen Blick Michaels und des Christuswesens.