23.02.2008

Anthroposophie und journalistische Standards?

Kürzlich erschien das Buch einer niederländischen Anthroposophin, die sich mit den Werken von Judith von Halle auseinandersetzte. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, schrieb ich einen längeren >> Aufsatz, der von der Redaktion aufgrund seines Stils >> abgelehnt wurde. Aus der Beschäftigung mit der dahinter stehenden Frage entstand der folgende Aufsatz.


Sollte man auch als Anthroposoph – etwa in einem Aufsatz – sachlich über seine Ansichten und Überzeugungen schreiben, um niemanden anzugreifen und jedem ein eigenes Urteil zu ermöglichen, wie es ja auch die „journalistische Sorgfaltspflicht“ nahelegt? Viele würden eine solche Frage sicher zunächst bejahen, und doch liegen in dieser einen Frage selbst so viele Gedanken, Überzeugungen, Urteile und nicht mehr hinterfragte Vorstellungen, dass man alledem viel genauer auf den Grund gehen muss. 

Ich glaube, die entscheidende Frage lässt sich etwa so formulieren:

Wie kommt ein Anthroposoph zu Erkenntnissen und in welchem Stil formuliert er sie? Dahinter steht dann die Frage: Was ist überhaupt Anthroposophie?

Vom Erleben der Wahrheit

Geistige Erkenntnisse können nicht durch intellektuelles Nachdenken gefunden werden. Wahrheiten müssen erlebt werden, und das ist nur mit einem reinen Denken, Fühlen und Wollen möglich – das heißt unter Einbezug aller drei Seelenfähigkeiten, insofern sie auf dem Schulungsweg zu neuen Organen des geistigen Erlebens werden und geworden sind.

Der Intellekt – intellektuelles Denken und sachliche Darstellung – lässt frei, aber führt gerade deshalb nicht zur Wahrheit. Die Wahrheit will errungen werden, und deshalb muss der Intellekt als menschheitlich notwendiges Durchgangsstadium erkannt werden, der auf der Suche nach Wahrheit überwunden werden muss. Das ist keine Absage an das klare Denken, sondern an ein Denken, das kalt und leblos bleibt, das gerade in seiner „Objekt-ivität“ die wirkliche geistige Realität nie erreicht, sondern verdeckt.

Der sachliche Journalismus[1] entlastet sich selbst von der Verantwortung für die Wahrheit, weil er sich auf die möglichst wertungsfreie Darstellung von „Tatsachen“ und die möglichst gleichberechtigte Wiedergabe sachlicher Diskussionsbeiträge beschränkt. Aber auch die Diskutanten entlasten sich von ihrer Verantwortung: Die „Beiträge“ bleiben sachlich, das heißt ohne Einbezug von Fühlen und Wollen. Man steigt in den Ring der Argumente; wer am Ende „siegreich“ ist, kann sich auf die besseren Argumente etwas einbilden, wer „unterliegt“, gibt sich sportlich geschlagen und wartet auf die nächste Chance mit anderen Kräfteverhältnissen. Wirkliche Folgen hat das alles nicht, und das Wesen der Wahrheit bleibt bei allen „Diskursen“ dieser Art unbeachtet.

Ansichten gehen hin und her, und intellektuell kann man wunderbar alles beweisen. Am Ende hat jeder ganz wie im Parlament etwas gesagt, doch wo die Wahrheit liegt, weiß man dann immer noch nicht. Und selbst wenn man es ahnt – sie ist ja erfolgreich abgetötet worden. Oder hatten Sie an einem intellektuellen (d.h. sachlichen) Text schon einmal ein ganz-menschliches Erleben? Wenn ich schön sachlich geführte Dispute lese, kann ich mir nur sagen: Von der Wahrheit hat keine Seite eine Ahnung! Man glaubt, um die Wahrheit zu ringen – in „politisch korrekter“ Weise – und Ahriman triumphiert. Die Wahrheit kann nicht nach Plausibilitätsgefühl – wer hat die besten Argumente? – bewiesen werden, sondern sie muss in vollem Erkennen erlebt werden. Etwas Sachliches aber kann nicht erlebt werden, höchstens sein totes Wesen. Wer wirklich um die Anthroposophie ringt, weiß das – und wendet sich ab.

Über die Stil-Frage

Wie man nun erst durch Überwindung des Intellekts zur Wahrheit kommen kann, so darf man in der Darstellung nicht wieder in den Intellekt zurückfallen. In der anthroposophischen Darstellung kommt es darauf an, dass diese selbst den Stil des Erkennens noch immer in sich trägt. Die Darstellung muss immer noch Hinweis auf die Erkenntnisart und –quelle sein, sonst ist sie im besten Falle sinnlos, im schlimmeren Falle irreführend. Intellektuelle Beiträge können nur das intellektuelle Denken bestärken – und die Ansicht, das „(schein)geistreich-intellektuell“ Gesagte sei bereits Anthroposophie. Rudolf Steiner sagte nicht nur einmal, ihm sei ein wirklich geistreich schreibender Materialist lieber als ein geistlos schreibender Anthroposoph. Und hier darf man sich keinen Täuschungen darüber hingeben, wie geistlos der Intellekt heute geworden ist, auch bei „Anthroposophen“. Und während der Intellekt immerhin den Geist aufnehmen könnte, wenn er sich verwandeln würde – auf seinen wesentlichen Stil trifft dies nicht zu: Sachlichkeit kann niemals geistreich sein.

Den Geist findet man nur durch Begeisterung, durch Enthusiasmus – der Geist ist eben gerade keine Sache! Und warum findet man den Geist nicht durch Sachlichkeit? Weil diese aus einer stark antipathischen Gebärde besteht. Gerade deshalb lässt sie frei: Ich kann mich allem gegenüberstellen – und zwar unbeteiligt. Was ich an inneren Erlebnissen haben könnte, wird gerade ausgeschaltet.

Will man wirklich den Wesens- und Wahrheitsgehalt von etwas erfassen, muss man mit seinen Denk-, Fühlens- und Willenskräften unvoreingenommen in dieses Etwas eintauchen, ohne dass das erlebende Sich-Gegenüberstellen verloren geht. Gerade in diesem „Ausnahmezustand“ besteht das Wesen anthroposophischer Erkenntnis, d.h. Geisteswissenschaft.

Was man so z.B. an einem Buch im unbefangenen intensiven Mitdenken erlebt, ist dann ganzmenschliche Erkenntnis. Wenn man dabei unmittelbar erlebt, wie das so Erfahrene in Widerspruch mit der – ebenfalls erlebten, durchlebten – Anthroposophie steht, wie schildert man dies? Man muss es in aller Schärfe und Deutlichkeit aussprechen.[2] Nicht nur intellektuell, es sei denn, die Anthroposophie selbst ist einem nicht mehr als intellektuelle Beschäftigung. Und eben dagegen hat sich Rudolf Steiner immer wieder scharf gewendet, weil die Anthroposophie auf diese Weise gerade vernichtet wird!

Wenn man aus der Anthroposophie heraus zu erkennen und zu schreiben versucht, muss man sein ganz-menschliches Erleben einbeziehen. Anders kann man sich der Anthroposophie gegenüber nicht verantworten.

Anthroposophie oder Diskurs?

Jeder muss aus seinem Wahrheitserleben heraus schreiben dürfen – und sich nicht verleugnen müssen, um „sachlich“ zu bleiben. Die „Gegenseite“ darf jederzeit in ebensolcher Weise antworten. Dann hätte man einen wirklichen Geisteskampf, in dem die Wahrheit vielleicht aufscheinen könnte. Merkt man nicht, wie „journalistische“ Sachlichkeit gerade dazu beiträgt, dass das Geistesleben überhaupt nicht frei, ja nicht einmal vorhanden ist? Denn was ist heute der Fall? Man will niemandem zu nahe treten, und unter „Anthroposophen“ wird dann sogar ein gewisses „Immer nett und tolerant sein“ als Urteilsmaßstab missbraucht, ob jemand das innere Seelengleichgewicht hat oder nicht. Schnell ist dann sogar die Frage nach der Wahrheit (und der Verantwortung ihr gegenüber) weniger wichtig...

Die „journalistische Vorschrift“, sachlich, abwägend und konjunktivisch zu bleiben, ist im Grunde ein Eingeständnis, dass die Wahrheit nicht zu finden ist. Es bleibt der Diskurs, wo vielleicht gewisse Argumentationsführungen mehr Plausibilität haben als andere – aber vielleicht liegt das nur daran, dass der eine besser schreiben kann...? Oder soll der Leser anhand der einzelnen „Argumente“ wirklich zu einem Erleben der Wahrheit kommen? Wenn das der Anspruch wäre, warum darf dann nicht aus dem Wahrheitserleben heraus geschrieben werden? Durch sachlichen Stil kommt man niemals zur Wahrheit – allenfalls zu einem abstrakten Plausibilitäts-Erlebnis.

Mit Anthroposophie hat das nichts zu tun. „Anthroposophische“ Journalistik in diesem Sinne wäre wenn überhaupt nur noch Anthroposopho-logie. Auch der Theologe mag innerlich vielleicht noch etwas religiös sein, sein Beruf hat mit Religion nichts zu tun, nur mit ihrer Abtötung. Auch da kann man wunderbar über Religion sprechen, diskutieren, Fragen ergründen und meinen, man wäre mittendrin – aber wer da meint, ist eben wiederum nur der Intellekt, der gar nicht merkt, dass der ganze Mensch völlig fehlt.

„Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.“ Das gilt auch für „journalistische Standards“ – wenn man nicht erleben kann, wie der wirkliche Mensch hier gar nicht vorhanden ist, lässt man sich von einem intellektuellen Dogma bestimmen und hat das Wesen Anthroposophia verloren...

Fußnoten


[1] Natürlich ist diese „neue Sachlichkeit“ besser als jede durch Machtverhältnisse ermöglichte Meinungs-Steuerung. In der anthroposophischen Bewegung müssen aber ganz andere Voraussetzungen gelten.

 

[2] In einer solchen – im Einzelnen begründeten! –  Deutlichkeit und Schärfe (in Bezug auf die Darstellungen Judith von Halles) hat sich Mieke Mosmuller in Ihrem Buch „Stigmata“ und habe ich mich in meiner abgelehnten Rezension ausgesprochen.