04.03.2008

Mission Irreführung

Buchkritik: Sebastian Gronbach: Missionen. Freies Geistesleben, 2008.

Veröffentlicht im „Europäer“, Juni 2008. [Hervorhebungen und Überschriften eingefügt]. >> Kurzfassung und Leserbrief an das „Goetheanum“. Siehe auch ausführlich >> Gronbach - ein Gegner der Anthroposophie.


„Missionen“ – ein Buch von Info3-Redakteur Sebastian Gronbach. Was erwartet man da als Leser, was darf man erwarten? Gronbach spielt in den ersten Absätzen selbst mit seinem Ruf: „Vielleicht ist es die Erwar­tung der Bestätigung, dass der Gronbach wirklich so flach, frisch, eingebildet oder unterhaltsam ist.“

Um es vorwegzunehmen: Gronbachs Buch erscheint an manchen Stellen auf den ersten Blick tatsächlich „mutig“ und „authentisch“, bei genauerem Lesen jedoch als hoch-mütig und narzistisch. Man spürt: Es macht ihm Spaß zu provozieren, es gibt ihm Selbstbestätigung. Entscheidend aber sind die vielen Stellen des Buches, die über das Persönliche hinausgehen: Gronbach vertritt geschickt die vom Info3-Kreis gepflegte und verbreitete Vorstellung, die Anthroposophie führe zum All-Eins-Erleben eines kosmischen Bewusstseins, und Michael, Christus und andere Wesen seien heute unbrauchbare Symbole, die Steiner seinerzeit benutzt hat, um Menschen zu diesem Erleben zu führen. Mit dem Anspruch eigener Authentizität (Gronbach schildert sein eigenes Erleuchtungserlebnis: „Gott ist im Menschen erwacht. Das ist es, wovon alle so lange geträumt haben. Aber jetzt wird alles wach. Und Gott sah, dass es gut war, und Sebastian weinte und weinte und weinte.“) wird ein dunkler Schleier vor die Anthroposophie gezogen.

Gronbach kennt nicht den Unterschied zwischen mythischen Bildern und Imaginationen, und seine Ausführungen verhöhnen und zerstören die Anthroposophie, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht (ich nehme stark an, dass er wirklich glaubt, was er schreibt).

"Authentischer Selbstgenuss"

Schon der Klappentext beginnt peinlich und voller Selbstbespiegelung: „Wir haben uns daran gewöhnt, dass Spiritualität sanft, ganzheitlich und tolerant ist. Sebastian Gronbach tritt anders auf. Direkt, manchmal auch einseitig und verletzend. Er hat gute Gründe für seine Provokationen und stellt sich als Anthroposoph mitten in die Zeit und verkündet fröhlich und authentisch ein anderes Verhältnis zur Spiritualität. [...] und erzählt von seinen Schatten, seinem Leuchten und: von seiner Mission – weil er will, dass auch die Leserinnen und Leser zu ihrer Misson finden. Weil er sich danach sehnt, dass sich Missionen vereinen.“

Zu Beginn gesteht Gronbach scheinbar demütig seine in bezug auf das entstehende Buch „existenzielle Unsicherheit, die damit zu tun hat, dass ich mich nicht sehen kann, wenn andere mich nicht spiegeln.“ Wenn er das ernst meint, hat er von der stetig zu übenden Selbsterkenntnis noch keine Ahnung. Dennoch entdeckt er in sich die „sehnsuchtsvolle Hoffnung auf Ruhm und Geld“ (und rühmt sich, dies als „einziger Anthroposoph“ zuzugeben) und die „Hoffnung, Ihnen etwas geben zu könen, was Sie nur von mir bekommen können“. Man kann diese Dinge so oder so schreiben. So wie Gronbach sie schreibt, atmen sie Zeile für Zeile einen furchtbaren Selbstgenuss, den man allerdings erst einmal durch die Lackschicht der Authentizität hindurch erleben lernen muss.

Gronbach kann zugeben, dass sein „Leben ohne Steiners Leben schlichtweg nicht denkbar ist“, und ihn gleichzeitig jovial Rudolf nennen – von innerer Anerkennung und berechtigter Ehrfurcht keine Spur: „Mir macht es Spaß, Anthroposoph zu sein, und ich bin ein Fan von Rudolf Steiner. Auch weil er Dinge gesagt hat, an denen man nicht mehr vorbeikommt. So wenig wie an den Beatles.“ Da hilft es auch nichts, wenn er (mit Recht) gegen andere „Anthroposophen“ schimpft, die „mit Jahrsiebten, Mondknoten und Temperamenten jeden Schmerz, jede Trennung und jede Hoch­zeit wegerklären - in aller Regel noch mit einem unterkühlten Mitgefühl, welches einem seelischen Schüttelfrost verursacht.“

Höhere Wesenheiten? Alles viel einfacher!

Bei Gronbachs Versuch, die übersinnlichen Wesenheiten und ihre Erfahrbarkeit in Imaginationen zu leugnen, geht einiges durcheinander. Bilder wie „blonde Göttin“ für eine irdische Schönheit setzt er gleich mit Bildern, die etwas rein Übersinnliches in ein Bild kleiden. Im einen wie im anderen Fall kommt er zu dem Urteil: „Nur Bild“. Steiner benutzte die tradierte Vorstellung des Erzengel Michael als Symbol, um auf die dahinterliegende wahre geistige Wirklichkeit hinzuweisen. „Er hat ihn erschaffen. Als Träger einer Idee, die noch nicht stark genug war, unabhängig von diesem mächtigen Ideenträger zu existieren.“ Das Problem ist, dass nun alle Anthroposophen an Michael und seine Lanze glauben. So ungefähr die verquere Logik Gronbachs, und es ist kein Widerspruch, sondern die konsequente Fortführung der Irreführung, wenn er in bezug auf Steiners Schilderung Michaels als „feurigen Gedankenfürsten des Weltalls“ schwärmt: „Das ist geistige Power-Poesie, ohne die Anthroposophie nie und nimmer das geworden wäre, was sie heute weltweit ist.“ Tatsächlich aber seien Michael, Luzifer, Ahriman und Christus „Steiners geniale und poetische Beschrei­bungen spezifischer Formen und Zustände der menschlichen Innenwelt. Es ist [...] ein Kunstgriff, um komplizierte menschliche Ideen in eine populäre Form zu gießen, mit denen wir über das Denken hinaus eine lebendige Beziehung eingehen können.“

Zitate Rudolf Steiners, in denen er darauf hinweist, dass die Michael-Imagination (deren Bildgehalt natürlich auch eine Tradition hat) nicht mit dem Wesen Michaels identisch ist, deutet Gronbach vollkommen um: „Zum x-ten Mal und bis zum letzten Atemzug sagte er, dass Michael ein Name für, ein Symbol für, ein Code für etwas ist. Dieses Etwas ist aber kein Wesen.“

Das Real-Ahrimanische dieser völligen Leugnung höherer Wesenheiten zeigt sich in jedem einzelnen Wort des folgenden Satzes: „Die ideelle Software hat sich in den Jahrzehnten immer wie­der upgedatet, ist von verschiedensten Menschen in ihren Syste­men verwendet worden, aber die Hardware kommt immer noch in einer Gestalt daher, die außerhalb einer anthroposophischen Hardcore-Szene keinerlei Marktchancen hat.“

Im Laufe des Buches wird Gronbach dann deutlicher in Bezug auf seine eigene Vorstellung dieser „wahren Wirklichkeit“: Im Menschen wird sich einfach Gott seiner selbst bewusst. Erleuchtung ist das All-Eins-Erleben mit dem göttlichen Bewusstsein, an dem wir alle Anteil haben und das wir durch unsere menschlichen Erfahrungen stets reicher und reicher machen. Hier wird nichts anderes skizziert, als die aus New-Age-Kreisen bekannte Vorstellung des Menschen als Ausstülpung aus einem Universal-Bewusstsein, zu dem man sich erheben kann und in das man nach dem Tode wieder eingeht. Das ist Arabismus pur: Das Geheimnis des Ich wird durch ein spirituelles SELBST ersetzt, geistige Wesenheiten, die an der unendlich erhabenen Schöpfung mitgewirkt haben und bis heute wirken, gibt es nicht, das Christus-Wesen ist wie Michael auch reines Symbol, um auf diese göttliche SELBST-Erfahrung hinzuführen... Und natürlich wirken diese „Bilder“ auch „zerstörend auf alle Versuche, sich in einen Dialog mit Geistesforschern aus anderen spirituellen Strömungen zu begeben.“ (das klingt gut, doch man sollte vielmehr erkennen, dass Gronbach bereits diesen anderen Strömungen angehört, obwohl er sich noch immer Anthroposoph nennt).

Schreibt er an einer Stelle, den Eindruck tiefer Einsichten erweckend: „Je tiefer ich mich in das Gebiet hineinbegebe, das man als geistige Welt oder spirituelle Dimension bezeichnen kann, desto schwieriger fällt es mir, Begriffe, Namen und Bilder zu finden, die den komplexen Dingen entsprechen, die dort vor mir in Er­scheinung treten.“, so heißt es nach der Schilderung seiner „Erleuchtung“ dann wieder: „‚In mir ist Gott - ich bin in Gott‘, hat Steiner als Meditation auf eine Tafel geschrieben, und Sebastian muss in die Tränen hinein lachen, weil alles immer schon genau vor ihm lag. Er musste nur erwachen. Wie einfach alles ist.“

Auf den Wellen von Geld, Bier und Sex zu den Göttern der Weisheit?

Schon viel früher doziert er: „Wer sich heute ernsthaft über die Dinge hinter den Dingen unterhalten will, der muss den Schritt in den Abgrund wagen. Hier kann er erleben, wie ‚die Herzen beginnen, Gedanken zu haben‘ [...] Im Herzen geht das Licht an und im Kopf wird das Denken erwärmt. Wer ein Anthroposoph sein will, der sollte das irgend­wann können, dieses klare Fühlen und warme Denken.“ Gronbach wettert dagegen, dass jeder heute „eine Meinung“ hat, aber merkt offenbar nicht, wie sehr er solche zentralen Gedanken vereinnahmt und meint, man habe dies auch nur ansatzweise verwirklicht, wenn man sich ein bisschen erleuchtet fühlt!

Gronbach schreibt über dunkle Seiten und Schatten, darüber, wie seine hilflose Wut, dass ein Klassenkamerad ihm alle Mädchen ausspannte, zur Selbsterkenntnis seiner eigenen Geltungssucht verhalf; darüber, wie er herausfand, „dass meine riesige Liebes­fähigkeit und meine Hilfsbereitschaft sowie mein Gefühl, alle Welt müsse mir, allein für meine unendliche Liebe, ewig dank­bar sein, sich als typologisches Merkmal des Enneagrammtyps ‚zwei‘ herausstellte“. Mehrfach betont er die Wichtigkeit der Authentizität und Glaubwürdigkeit und ist sogar überzeugt, „dass es für Sie nur ein Motiv gibt, dieses Buch weiterzulesen oder nicht, dass nur eine einzige Frage darüber entscheidet, ob Sie am Ende ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ zu diesem Buch sagen werden - trotz aller ‚Aber‘.“ – Es gibt jedoch noch ein anderes Motiv, aus dem heraus man Gronbachs Buch bis zuende lesen wollen kann: Miterlebenwollen, auf welche Weise Anthroposophie heute missverstanden, missdeutet und verschleiert wird. Authentizität hat nun einmal nichts mit Wahrheit zu tun. Man kann in sich vollkommen authentisch sein und trotzdem aus reinem Irrtum bestehen. Gronbach selbst schreibt: „Wir begehen nicht nur Irrtümer, wir erkennen im Moment der klarsten Selbsterkenntnis, dass unser Ego, dass wir der Irrtum sind.“

Wie definiert Gronbach nun die Überwindung des Ego? Offenbar nach einem längeren Prozess kommt er zu der Erkenntnis des wesentlichen Unterschieds zwischen Grundlegendem (die Ebene von Leib, Instinkten, Emotionen etc.) und Bedeutsamem (die spirituelle Ebene). Im Grunde setzt er die basal-leibgebundene Ebene gleich mit dem Ego. Dabei übersieht er völlig, wie sehr dieses Ego in die „bedeutsame“ Ebene der spirituellen Erfahrungen mitgenommen werden kann und von ihm durch das ganze Buch mitgenommen wird! Auch hier kann man vom ganzen Wesen her im Irrtum verbleiben! Gronbach überdeckt das mit schönen Floskeln wie: „Der Kompass der Wahrhaftigkeit zeigt immer in das Zentrum der Bewusstseinsseele.“ Dass man sich um die Wahrheit bemüht, macht einen authentisch und gerade heutzutage auch „sympathisch“, aber – es verbürgt die Wahrheit nun einmal in keinster Weise.

Das Grundproblem ist, dass der Egoismus in der Leiblichkeit wurzelt, und um die Verwandlung des Ego und dieser Ebene geht es Gronbach eben gar nicht! „Ich traue niemandem, um mit August Renoir zu sprechen, ‚den der Anblick einer schönen weiblichen Brust nicht außer Fassung bringt‘, und ich bin davon überzeugt, dass es niemals darum geht, einen Trieb zu kontrollieren, sondern immer darum, ihn zu transformieren. Transformation entsteht dadurch, dass ich mir bewusst mache, was in mir lebt. Anders ausgedrückt: Ich schaue meiner Geilheit ins Gesicht. Sie ist ein Teil meiner Per­sönlichkeit.“ Und an anderer Stelle: „Der Geistschüler hat kei­ne Angst vor animalischem Sex, er meidet ihn nicht furchtsam, er überhöht ihn nicht, sondern er hat ihn einfach - das war's.“ Es ist unvorstellbar, wie Gronbach sich da noch einig mit Rudolf Steiner oder der Anthroposophie wissen will, aber er sagt: „Weil ich Anthroposoph bin, will ich ‚Ja‘ zum puren Le­ben sagen, weil ich diesen Wellen des Lebens nicht entkommen kann, will ich auf den Wellen des Lebens surfen und Spaß mit diesen Wellen haben. Der Surfer bin ich, und die Wellen beste­hen u. a. aus Geld, Bier, Sex und Beziehung. Nichts davon will ich loswerden, nichts davon kann ich loswerden; wenn ich auf­höre, mit aller Kraft auf meinem Ego zu surfen, dann gehe ich im Ego unter. [...] Und dieser Spaß am Spiel des Lebens trägt mich sicherer zu den Göttern der Weisheit als manch anderen verbitterten und saftlosen Moralisten.“

Es wirkt dann wie Hohn auf die ernsthafte Geistesschülerschaft und wie eine klägliche Wunschvorstellung, wenn er nachträglich in absolutem Widerspruch zum vorher Gesagten schreibt: „[...] diese Triebe, Ins­tinkte, Begierden und egoistischen Wünsche können zu Verstri­ckungen im Sinnlich-Physischen werden und so zum größten Feind des Aufstiegs zu Weisheit, Erleuchtung und wahrem Menschentum“ und zugibt: „Natürlich bin ich nach wie vor verstrickt und werde es wohl noch eine Weile bleiben, aber die Grade der Verstrickung kann und will ich lösen. Das geht jedoch zunächst nicht durch das ‚Nein‘ zum Ego, sondern nur durch dessen Integration und Veredlung.“

Zwischendurch schimpft Gronbach über die Doppelmoral in „jedem von uns“ und auch ganze Abschnitte über das „grüne Bewusstsein“, das vor lauter Toleranz direkt in die Krummsäbel des muslimischen Gottesstaates hineinläuft. Wahres und Falsches fließt dann zusammen in die Behauptung, es sei Doppelmoral, wenn man Ritterkämpfe mit Holzschwertern mit „Ich-Kraft“ in Verbindung bringt, sich aber über Egoshooter-Spiele und eine zur Maschinenpistole verwandelte Wurzel aufregt. Solche Absätze zeigen einem ganz klar, dass Gronbach geistig wesenhafte Prozesse überhaupt nicht erleben kann. Recht hat er da, wo er darauf hinweist, dass die Kinder den realen Gehalt des Michael-Bildes heute offenbar viel zu wenig erfassen – und dass die Erwachsenen die wirklichen Drachen, die sozialen Konflikte, verleugnen und in die „Unterwelt“ abdrängen. Man müsste zwischen diesen beiden Tatsachen nur den wirklichen Zusammenhang herstellen – aber das tut Gronbach nicht. Für ihn bleibt Michael ein nicht mehr zeitgemäßer Bilderzirkus.

Dann kommt Gronbach auf die „wirkliche Spiritualität“ zu sprechen, und man wundert sich über den Gegensatz zu dem, was er vorher über Leben, Sex usw. gesagt hat: „Wer das EINE wirklich erfahren hat, wird sich niemals mehr mit dem Vielen identifizieren - auch nicht mit der Persönlichkeit, die seinen Namen trägt. [...] Wer Weisheit und Erkenntnis der höheren Welten erlangen will, wer Transzendenz und Erleuchtung in seiner ganzen Fülle erfahren will, wer zum GEIST kommen will, der muss sich um­drehen. Er muss für eine Weile [...] dem Leben entsagen und das LEBEN suchen. Das geht im Kloster und im Studierzimmer, und es gehören Einsamkeit und innere Versenkung dazu. Alles andere ist Smalltalk.“ Es gehe um das Ersterbenlassen des Ego. Da fragt man sich: Welcher Gronbach ist denn nun authentisch?

Erleuchtung am PC: Der Mensch als Ausstülpung des Mega-SELBST

An dieser Stelle folgt die Schilderung seiner „Erleuchtung“ beim Lesen eines Textes von Ken Wilber am Computer-Bildschirm. Es geht um das Erleben des EINEN, das Aufgehen seiner selbst im SELBST. Dort ist man miteinander verbunden: „In diesem MAN-BEWUSSTSEIN sehen wir uns als das EINE gegenseitig beim Schreiben und Lesen zu.“ Auch alles andere ist im Grunde eins: „Anthroposophische Traditionen und Mythen, die verschiedenen Religionen und unterschiedlichsten spirituellen Strömungen werden durch das Licht der Erleuchtung als verschiedene Ver­sionen der einen sich immer weiter entfaltenden Wirklichkeit durchschaut. Erleuchtung ist ein kosmisches Aha-Erlebnis, und es ist wie bei jedem Aha-Erlebnis: Man fragt sich danach, warum man nicht gleich darauf gekommen ist.“

Und nun schildert Gronbach, wie das angesammelte tote Holz der gelesenen anthroposophischen Texte in ihm verbrennt – die bisherigen „Begriffe“, als erstes der Größte: „‚Der Christus‘ verbrannte und es blieb: ‚Ich bin‘ [...], das einzige und ein­fachste Gefühl, was ich jemals gefühlt hatte.“ Auch Steiner habe mit dem „ätherischen Christus“ versucht, „ein biblisches Wesen aus seiner erstarrten äußerlichen Form zu befreien, um seine Auferstehung als übersinnliche Idee zu ermöglichen. [...] Er bediente sich bekannter religiöser Geschöpfe, um seine wirklichen, aber in Reinheit unaussprechbaren Er­fahrungen und Erkenntnisse, in einem bestimmten kulturell-geistig-religiösen Kontext besprechbar zu machen.“ In Wirklichkeit war Jesus einfach der erste Mensch, der „sein Ego zu 100 Prozent durch das ewige und authen­tische Selbst ausgetauscht“ hatte und „in dem und durch den die IDEE auf der Erde präsent wird.“. „Die Erfindung des ätherischen Christus ist der Versuch Stei­ners, uns bewusst werden zu lassen, dass wir tatsächlich [...] diese Idee verkörpern können. In diesem Bild suchen wir nicht Christus, sondern sind Christus, das sich entwickelnde Kind Gottes. [...] Der Name Christus ist das Symbol für etwas. Dieses Etwas ist das Ideal des MENSCHEN. Dieses Ideal in uns können wir kreuzigen oder auferstehen lassen. Wesen mit Namen brauchen wir dazu nicht. [...] Somit ist Christus eine Erfindung des Menschen, um sich selbst zu finden [...].“

„Das Wort, ‚der Christus‘, ist das goldene Kalb der Anthro­posophie. [...] Wir könnten all das sein, was wir dem Christus zuschreiben, wir könnten so überwältigend liebevoller und revolutionärer sein, wenn wir die notwendige Phase überwinden würden, in der wir auf dieses Bild starren und es umtanzen. [...] Damit das harte Gold wieder fließen kann, damit es wieder zur einen goldenen Sonne wird, die in uns allen gleichzeitig wundervoll aufgeht, die die Hirtenherzen und Königshäupter gleichzei­tig erwärmt und erleuchtet, damit wir selbst golden werden, müssen wir Christus um Christus willen aufgeben. Es ist wie mit Michael, seinen himmlischen Kollegen und wie mit den Elementarwesen. [...] Willkommen im Gefängnis der Bilder.“

Daraufhin bringt Gronbach wieder völlig missdeutete Äußerungen Steiners, die belegen sollen, dass Steiner diese „Bilder“ nur aus Barmherzigkeit mit den Menschen geschaffen habe, während er selbst schrieb: „Anstelle Gottes den freien Menschen!“ Natürlich besteht die Aufgabe des Anthroposophen, nicht auf Christus zu starren, sondern sich ihm durch Selbstverwandlung immer weiter zu nähern. Er kann diesen Weg – und deshalb ist es eben keine reine Selbsterlösung! – aber nur mit Hilfe des Christus beschreiten. Steiner betonte immer wieder den Anteil des Menschen, aber er betonte auch die Bedeutung der Christus-Taten in diesem Entwicklungsdrama. Gronbach aber schreibt simpel: „Größenwahnsinnig ist nicht der Mensch, der sich für Gott hält, größenwahnsinnig ist das Ego, welches be­hauptet, göttliche Größe sei unerreichbar.“ Gronbach wettert gegen das faule, kleinmütige Ego (das unter Anthroposophen natürlich auch verbreitet ist) und merkt nicht, dass sein Ego sich heimlich zum „SELBST“ vergöttert hat.

Am Ende steht dann der folgende Ausblick: „Das höhere Selbst der Menschen schafft an der goldenen Sonne, am Mega-SELBST der MENSCHHEIT und je mächtiger dieses Mega-SELBST wird, desto größer wird seine positiv-inspi­rierende Wirkung auf das Einzel-Selbst des Menschen.“ Reine Selbsterlösung und fortwährende Weiterentwicklung der „Menschheit“, die in Wirklichkeit eine Art Gruppenseele ist, aus der die Einzel-Selbste hervorgehen und in die sie wieder eingehen. Mit Anthroposophie hat dies nichts zu tun – es ist eine bizarre, suggestive Vorstellung, die man im Grunde als „ahrimanische Einweihung“ bezeichnen müsste.

Gronbach erklärt dies kurz und bündig mit der Feststellung, dass zu Steiners Zeiten zunächst nur die Selbstverantwortung und –entwicklung (im Kontext des persönlichen Schicksals) verstehbar waren. Heute gehe es um viel mehr: um ein weltzentrisches Bewusstsein, das die bisherige Vorstellung von Reinkarnation und Karma als „Kindergarten-Version von Schicksal erscheinen“ lasse. Gronbach verhöhnt die Vorstellung von „Tante Lieschen“, die Persönlichkeit würde sich reinkarnieren, und leugnet mit dieser Hilfe zugleich die Verkörperung ewiger Individualität, um pauschal von Reinkarnationen des MENSCHEN zu sprechen. Individualität verschwindet hinter dem All-Eins-Schleier... Das Ganze wird dann mit dem Hinweis verteidigt, allein diese Idee sei „mit Steiners Monismus tatsächlich kompatibel“. Und schließlich formuliert Gronbach ganz deutlich: „Es ist der eine GEIST, der sich im Menschen in milliardenfacher Form individuell inkarniert, und dieser GEIST hat die Erfahrungen, Errungenschaften und Erkenntnissen aller vorhe­rigen inkarnierten Individuen in sein Bewusstsein integriert. Es ist darum keinesfalls seltsam, wenn sich Menschen an andere und an viele andere Leben erinnern, denn sie alle sind Ausstül­pungen des einen integralen Bewusstsein und haben so als Teil­system den Zugriff auf den Hauptrechner.“

Deutlicher kann man die dem individuell Geistigen feindliche, ahrimanische Vorstellung, die sich im heutigen New-Age-Arabismus rasant ausbreitet, nicht formulieren. Trotz aller großgeschriebenen „Geist“-Worte, wird hier Geist nicht (individuell) erlebt, er wird geleugnet. Der Schreiber erlebt sich selbst als Ausstülpung einer Gruppenseele! Und er führt sogar Steiners „Definition“ von Anthroposophie für seine Zwecke an: Auf dem ‚Erkenntnis­weg, der das Geistige im Menschen zum Geistigen im Weltenall führen will‘ erwache die göttliche Natur des Menschen, und gleichzeitig werde sich Gott seiner selbst bewusst.

So einfach ist das. Nur dass Rudolf Steiner das Geistige im Laufe von über 25 Jahren und über 6.000 Vorträgen eben doch etwas anders und etwas umfassender beschrieben hat. Anthroposophie ist etwas grundlegend anderes als eine All-Eins-Super-Maximal-Bewusstseins-Erleuchtung vor dem Bildschirm. Dass das wahre Wesen der Anthroposophie heute immer weniger verstanden wird, macht die wirkliche Tragik aus und lässt um die wahre Entwicklung des Menschen bangen.