12.04.2008

„Ist Europa noch zu retten?“

Buchbesprechung: Wilhelm Neurohr: Ist Europa noch zu retten? Pforte-Verlag, 2007.

„Ist Europa noch zu retten?“ – Unter diesem leicht doppeldeutigen Titel erschien im Pforte-Verlag soeben ein Buch des vielfältig engagierten Anthroposophen Wilhelm Neurohr. Entstanden ist es im wesentlichen 2007, als die EU ihr 50-jähriges Jubiläum feierte und zum Jahresende den zwei Jahre zuvor (nach Referenden in Frankreich und den Niederlanden) gescheiterten EU-Verfassungsentwurf mit unwesentlichen Änderungen unter neuem Namen wieder auf den Weg brachte...


Die EU mit ihrer Zentrale Brüssel ist für viele Menschen bewusstseinsmäßig weit weg, ein unbekanntes Wesen. Man weiß, dass die Bürokratie alles bis hin zur Bananenkrümmung bestimmt, dass allenthalben für „Europa“ geworben wird – aber viel mehr weiß man oft auch nicht. Neurohrs Buch kann dazu beitragen, dies zu ändern. Engagiert und mit deutlichen Worten zeigt er auf, wie „Europa“ in Gestalt der EU immer mehr ein zutiefst undemokratisches Projekt wird, in dem die überall spürbare Dominanz des Profitdenkens immer weiter vorangetrieben wird. 

Gegen das Desinteresse setzt Neurohr persönliches Engagement: „Unsere Kinder und Enkel werden uns später einmal die kritische Frage stellen, was wir seinerzeit an Widerstand geleistet haben gegen die aufkommende Wirtschaftsdiktatur und die militärische Aufrüstung in Europa zugunsten einer demokratischen Europäischen Union mit menschlichem Antlitz.“

Der Hauptteil des Buches besteht zunächst in der Schilderung von Fakten, die diese sehr kritische Einschätzung deutlich und ausführlich belegen:

Der Verfassungsentwurf soll als „Lissabon-Vertrag“ noch vor dem Europawahljahr 2009 in Kraft treten, auch in Frankreich und Großbritannien wird es diesmal keine Referenden mehr geben. Kritikanfällige Punkte wie der Primat des „freien Wettbewerbs“ werden einfach unauffällig in Zusatzprotokollen festgeschrieben. Bis 2010 soll die EU zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt“ werden. Zu diesem Ziel sollen nach und nach alle Bereiche des öffentlichen Lebens privatisiert werden. Parallel dazu wird die Militarisierung der EU vorangetrieben: Alle Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, „ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“, auch eine eigene, zentrale Eingreiftruppe ist geplant, die auch präventive Auslandseinsätze zur Rohstoffsicherung durchführen soll! Von Abrüstung keine Spur – statt dessen Kriege als Fortsetzung des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes mit anderen Mitteln?

Schon hier steht die EU-Verfassung in eindeutigem Widerspruch etwa zum deutschen Grundgesetz, das militärische Einsätze nur zur Verteidigung bei Angriffen erlaubt. Die Verfassungen der Mitgliedsstaaten werden durch die „höher stehende“ EU-Verfassung einfach ausgehebelt. Wie Neurohr betont, üben auch hochrangige Verfassungsrechtler wie der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog massive Kritik an dieser fragwürdigen Entdemokratisierung.

Über 80% aller gültigen Gesetze und Rechtsvorschriften werden mittlerweile auf EU-Ebene vorgegeben! Daher tummeln sich schon seit Jahren Lobbyisten in Brüssel – und zahllose Fälle der Einflussnahme großer Konzerne und Verbände auf die Gesetzgebung sind inzwischen nachgewiesen. Dabei sind die EU-Beamten gegen Korruption überhaupt nicht zu belangen: Sie genießen auch nach ihrer Amtszeit lebenslange Immunität... Leider konnte Neurohr noch nicht die neuesten Erkenntnisse aufgreifen: Lobbyisten haben sogar längst eigene Schreibtische in den Behörden bezogen und machen quasi ihre Gesetze selbst! (sowohl in der EU, als auch in Deutschland, siehe Adamek/Kim: „Der gekaufte Staat“). Undemokratisch war die EU schon immer: Während die Gesetzgebung normalerweise die Kernkompetenz eines jeden Parlamentes ist, darf das EU-Parlament selbst gar keine Gesetzesinitiativen einbringen, an vielen Rechtssetzungen ist es nicht einmal beteiligt und auf die Besetzung der allmächtigen EU-Kommission hat es ebenfalls keinen wirklichen Einfluss!

Während eine zeitlang der Subsidiaritäts-Gedanke in vieler Munde war, zeigt sich nun ganz klar, dass die Regionen und Kommunen im Grunde keinerlei Selbstbestimmungsrecht haben: Die heftig umstrittene Dienstleistungsrichtlinie hebelt die Selbstverwaltung der Kommunen kurzerhand aus und zwingt zu europaweiten Ausschreibungen und zur Öffnung bisher öffentlicher Dienstleistungen zugunsten privater Anbieter.

Wie schamlos dies alles geleugnet wird, zeigte im Sommer 2007 die „Berliner Erklärung“ zu den 50-Jahres-Feierlichkeiten der EU, formuliert von den Staatschefs: „Wir Bürgerinnen und Bürger der EU sind zu unserem Glück vereint. (...) Wir verwirklichen in der Europäischen Union unsere gemeinsamen Ideale: Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt.“ Dem hält Neurohr ein Zitat von Ernst Bloch entgegen: „Die listigste Rache an besseren Zielen ist die, dass man sie als erreicht angibt.“

Alternativen

Im zweiten und dritten Teil („Auf der Suche nach Identität“ / „Perspektiven, Alternativen und Initiativen“) zeichnet Neurohr dann Aspekte eines „anderen Europa“. Er skizziert die Entwicklung zur heutigen EU und macht deutlich, dass der heutigen Geistlosigkeit und dem Primat von Militär- und Wirtschaftsmacht durchaus Alternativen gegenüberstehen: Europa war einmal Vorkämpferin von Humanismus, Idealismus und individuel­len Menschenrechten... Diesen Teil des Buches hätte ich mir ausführlicher gewünscht. Angesichts der geradezu „schwarzen“ Realität wäre es wichtig, den Geist der Alternative, der eigentlichen Idee Europas so konkret und erlebnisgesättigt wie möglich zu fassen und zu schildern.

Worauf es ankommt, sagt Neurohr durchaus deutlich: „Aber solange Europa seine Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht konsequent zur Grundlage seiner eigenen sozialen Ordnung und seines Handelns in der Welt macht, verfehlt es seine eigene I­dentität (...) Europa hat keine „Mission“ außer der, den sozialen Raum zu schaffen, in dem jeder Einzelne seine Mission finden kann.“ „Die Welt erwartet von Europa vor allem kulturelle Erneuerungsimpulse – neben einer Politik, die Grenzen überwindet.“ – Doch nach den kritischen Schilderungen wirken diese Abschnitte im Buch oft wie fromme Hoffnungen – sie hätten ihre Kraft besser entfalten können, wenn Neurohr ausführlicher darauf eingegangen wäre, was für ein radikales geistiges und gesellschaftliches Umdenken dafür notwendig wäre: Beginnend bei einem wahrhaft spirituellen Menschen- und Weltbild bis zu den konkreten Folgen und Elementen einer völlig veränderten Gesellschaftsordnung.

Mutmachend sind jedoch Neurohrs Hinweise auf Initiativen und Aktivitäten gegen das heutige und für ein anderes Europa. Er ruft die Menschen, aber auch die Kommunen auf, ihre wahren Interessen mutig zu vertreten: „Es kommt im Namen der Demokratie auf eine Machtprobe der vielen dezentralen Einheiten mit der allmächtigen Zentrale an, wie sie in der Geschichte ... schon öfter erfolgreich erprobt wurde.“ Und er nennt Beispiele und Akteure – etwa das Europäische Sozialforum, Attac, „Mehr Demokratie“, Initiativen für ein EU-Bürgerbegehren (hier wäre der Hinweis auf ELIANT wichtig gewesen), LobbyControl und andere. – Wichtig wäre hier gewesen, konkreter aufzuzeigen, welche Wirkungen diese Initiativen auf eine Veränderung der EU-Politik punktuell vielleicht schon hatten. Aber wahrscheinlich ist dies kaum fassbar. Die Wirkungen dürften erst noch kommen (wie jüngst die geplante bessere Erfassung der Lobbyisten und ihrer Aktivitäten) – und sie hängen natürlich vom Engagement von immer mehr Menschen ab, die die wahre „Idee Europas“ mitgestalten wollen. Dafür hat Wilhelm Neurohr das Buch geschrieben.