26.09.2008

Judith von Halle – ein zugespitztes Urteil?

In der „Gegenwart“ Nr. 3/2008 erschien eine Rezension des Buches „Stigmata oder Geist-Erkenntnis. Judith von Halle versus Rudolf Steiner“ von Mieke Mosmuller, nachdem meine Buchbesprechung zumindest als Erstbeitrag zu dem Thema abgelehnt worden war. Der Herausgeber Herr Aregger schrieb mir, Frau Mosmuller äußere zugespitzte Urteile und deutete an, das Denken sollte in einem gesunden Verhältnis zum Wahrnehmen stehen (der Rezensent war Frau von Halle zweimal direkt begegnet). Ich schrieb Herrn Aregger folgende längere Ausführungen.


Lieber Herr Aregger,

[...] Zunächst hat es mich irritiert, wie Sie das „auf den Punkt bringen“ als Gefahr erleben. Offenbar weil es um einen Menschen (Judith von Halle) bzw. dessen Bücher geht. Und weil die Frage (u.a. in Ihrer Bekanntschaft) sehr kontrovers diskutiert wird und Sie sich ein Urteil über die Wahrheit nicht zutrauen. Denn wenn die Wahrheit eindeutig wäre, könnte man sie ja auf den Punkt bringen, nicht wahr?

Ich kann es dann aber leider nicht verstehen, wie Sie schon im nächsten Satz Ihres Briefes sehr wohl ein deutliches Urteil fällen, nämlich da, wo Sie von einem gesunden Verhältnis zwischen Denken und Wahrnehmen sprechen. Darin liegt doch das Urteil, dass Frau Mosmuller in dieser Frage schon mal überhaupt nicht Recht haben kann, denn bei ihr ist dieses Verhältnis in dieser Frage nicht gesund – so Ihre implizite Aussage. Sie hätte also das ganze Buch gar nicht schreiben brauchen, da es ohnehin nicht zur Wahrheit führen kann – oder warum sonst sollten Denken und Wahrnehmen in einem gesunden Verhältnis stehen?

Welche Rolle spielt die direkte Begegnung?

Dann frage ich mich aber, warum Frau Mosmuller sich so viel Mühe gemacht hat – denn sie müsste es ja sicherlich auch wissen, dass ein Denken ohne Wahrnehmung (im gesunden Verhältnis) sogleich in Spekulationen und so weiter führen könnte? Aus Ihrem einen Satz lese ich aber eben das Urteil, dass Frau Mosmuller das offenbar entgangen ist. Das heißt, es ist nicht nur „gefährlich“, bei einem solchen Thema so klare, („zugespitzte“) Urteile zu fällen, es ist auch definitiv falsch, nicht wahrheits- und nicht wirklichkeitsgemäß. Verstehe ich Sie in dem Urteil dieses Satzes und weiterer impliziter Andeutungen richtig?

Was heißt das aber nun? Dass man die Bücher eines Menschen – sagen wir konkret: Judith von Halle – nicht beurteilen kann? Dass man die Gedanken nicht mitdenken kann und hinterher zu einem Urteil kommen, was diese Gedanken sind und was sie nicht sind? Meinen Sie also, dass sich ein ganz anderes Bild ergibt, wenn man dem Menschen konkret, d.h. physisch, begegnet? Welches andere Bild würde sich denn dann ergeben? Was ergänzt der physische Eindruck? Oder meinen Sie noch etwas anderes?

Natürlich äußert man sich einem Menschen gegenüber in direkter Begegnung oft anders und umgekehrt – und so lernt man Menschen noch anders kennen, als wenn man nur schriftlich miteinander umgehen würde. Im direkten Umgang hat man zum Beispiel das Bedürfnis, nicht in Streit zu geraten, weil man in direktem Umgang meist nicht in der Lage ist, seine Emotionen zu beherrschen und zudem meist ein großes Harmoniebedürfnis hat. Umgekehrt kann man in direktem Umgang gewisse Missverständnisse ausräumen: Dies und jenes hat man gar nicht so gemeint, sondern ganz anders...

Doch davon abgesehen macht es in Bezug auf Wahrheitsfragen keinen Unterschied, ob ich die Gedanken eines Menschen mitdenke, wenn ich ihm physisch begegne oder nicht physisch begegne. Vielmehr kann die physische Begegnung aufgrund der ganzen undurchschauten Imponderabilien eher hinderlich sein, um die Gedanken des anderen wirklich wahrheitsgemäß klar und bewusst zu verstehen und mitzudenken.

Man mag in der direkten Begegnung mit einem Menschen auch entdecken, dass er sympathischer „ist“ (d.h. dass man ihn sympathischer findet, denn diese emotionale Ebene ist immer subjektiv) als man gedacht hat – oder eben unsympathischer, als man gedacht hat, wenn man ihn bisher nur aus schriftlichen Äußerungen oder vielleicht sogar am Telefon kannte. Aber diese ganze Frage von Sympathie und Antipathie und dem damit zusammenhängenden sich wandelnden „Eindruck von jemandem“ hat eben mit persönlichen Empfindungen und nichts mit Wahrheitsfragen zu tun, wie Frau Mosmuller sie behandelt.

Also stellt sich mir nochmals die Frage: Was sollte sich ändern, wenn Frau Mosmuller die Gedanken und Schilderungen von Frau von Halle nicht aus ihren Büchern entnimmt, sondern aus ihrem eigenen Munde – z.B. in einem Vortrag – hört? Warum sollte sich in ihrem Urteil etwas ändern, wenn es doch die gleichen Gedanken wären?

Wesentliches nicht berücksichtigt – oder Angst vor Zuspitzung?

Ich komme nur immer wieder zu der Feststellung, dass Sie das Urteil fällen, Frau Mosmuller hätte etwas Wesentliches nicht berücksichtigt – aber was wäre das dann? Es liegt in Ihrem Urteil doch die Aussage, dass Frau Mosmuller zu einem anderen Urteil hätte kommen müssen, wenn sie Frau von Halle etwa in einem Vortrag „unmittelbar“ begegnet wäre. Was aber macht diesen Unterschied genau aus? Das würde doch entweder heißen, Frau von Halle wäre es nicht gelungen, etwas in ihre Bücher einfließen zu lassen, was in ihrer Persönlichkeit liegt und mit den berührten Fragen wesentlich zu tun hat – oder Frau Mosmuller wäre es nicht gelungen, ein richtiges Urteil über das zu fällen, was sehr wohl in den Büchern von Frau von Halle liegt (aber hier nicht so leicht bemerkt wird, wie in der direkten Begegnung).

Die erste Möglichkeit ist eigentlich eine Geringschätzung von Frau von Halle, die zweite von Frau Mosmuller. Ich möchte sehr wohl von der berechtigten Annahme ausgehen, dass Frau von Halle in ihren Büchern das ausdrückt und formuliert, was sie ausdrücken und sagen möchte – zumindest übernimmt sie mit der Veröffentlichung die volle Verantwortung dafür. – Dann bleibt aber nur die zweite mögliche Aussage, dass Frau Mosmuller trotz gründlicher Arbeit mit den Büchern Frau von Halles nicht das eigentlich Wesentliche erfasst habe, sondern ein einseitiges Urteil fällt. Die unmittelbare Begegnung mit Frau von Halle („gesundes Verhältnis von Denken und Wahrnehmung“) hätte sie davor bewahrt – während zugleich andere Leser von Frau von Halles Büchern auch ohne die direkte Begegnung zu einem ausgewogeneren Urteil kommen. Wollen Sie das sagen?

Was heißt dann aber ausgewogen? Einfach nur weniger „zugespitzt“ und scharf? Und was heißt zugespitzt? Geht es einfach nur darum, dass man einen Menschen unter keinen Umständen so scharf beurteilen darf? Oder höchstens, wenn die Sache völlig eindeutig liegt, das heißt, die „öffentliche Meinung“ selbst ein eindeutiges Urteil über die Sache hat? Davon kann die Wahrheit doch wohl nicht abhängig sein. Ich verstehe ja Ihre Rücksichtnahme auf den Menschen Judith von Halle, aber die Sache selbst erfordert doch wohl ein Urteil, ob man es hier mit Anthroposophie zu tun hat oder nicht. Es kann ja auch jeder sein „Privaturteil“ dazu haben, aber man sollte doch nicht schon a priori Furcht vor einem Urteil haben, dass besagt, dies habe mit Anthroposophie nichts zu tun? Ich weiß nicht einmal genau, was Sie mit „zugespitzt“ meinen – einseitig und damit unwahr? Woher nehmen Sie wiederum ein solches Urteil? Und welche Rolle spielt die „Rücksichtnahme“ dabei?

Nun hat ja Herr Schär auch ein ganz bestimmtes Urteil. Und mir scheint, dies ist die Quelle für Ihr Urteil bzw. Ihre Aussage, das Denken sollte in einem gesunden Verhältnis zum Wahrnehmen stehen. Sie nehmen die Tatsache, dass Herr Schär Frau von Halle zweimal erlebt hat (einmal ohne Kenntnis ihrer Identität, einmal 2007 auf einer Tagung) und dass er also eine reale Wahrnehmung ihrer Person hat und Frau Mosmuller nicht. Die Tatsache, dass beide nun zu einer unterschiedlichen Bewertung ihrer Person kommen, wird ihnen zur Grundlage für die Schlussfolgerung, dass Herr Schär mit seinem Eindruck näher an der Wahrheit ist, weil er einfach mehr Eindrücke hatte – eben im Gegensatz zu Frau Mosmuller überhaupt einen unmittelbaren Eindruck hatte. Oder irre ich mich? Herr Schär ist Frau von Halle mindestens zweimal wirklich begegnet, Frau Mosmuller nicht, beide unterscheiden sich in ihrem Urteil, das ist ein schwer belastendes Indiz für die Einseitigkeit von Frau Mosmullers Urteil – so ist doch Ihr Schluss?

Dazu ist nun zweierlei zu sagen.

Von Harmonie und „Exkommunikation“

Zum einen enthält der Aufsatz von Herrn Schär eigentlich nicht sehr viel mehr als Zitate aus Frau Mosmullers Buch, die Beschreibung des eigenen Eindrucks von Frau von Halle und die Feststellung, dass die große Diskrepanz zwischen beidem ihn erschüttert. Was noch dazu kommt, ist der zarte Hinweis, Frau Mosmuller könnte durch die Untersuchung einzelner Stellen aus Frau von Halles Büchern möglicherweise das gleiche tun, was sie der niederländischen Anthroposophischen Gesellschaft vorwirft, nämlich einzelne angeblich rassistische Äußerungen Rudolf Steiners untersucht und „zugegeben“ zu haben, wodurch sie ihm eben überhaupt nicht gerecht werden konnte. Und dann abschließend („über die eigene – wessen? – Begrenztheit der Geistes-Erkenntnis hinaustragend“) „der Wunsch und die leise Gewissheit“, es werde der Christus beide „Menschen-Schwestern in wahrer Würdigung einen“.

Nun haben Christen natürlich seit jeher gehofft, dass der Streit unter den Menschen irgendwann ein Ende haben wird und jeder das wahre Wesen des anderen erkennen und alle ihr wahres Wesen verwirklichen werden... Dies gehört natürlich auch zu dem hohen Ziel der Menschheits- und Erdenentwicklung. Solange aber dieses zweite Paradies, das in der Apokalypse Neues Jerusalem genannt wird, noch so fern ist, wird man über Wahrheitsfragen streiten müssen – wenn man die Wahrheit liebt. Es geht nicht um einen Streit um Geld, Macht, Ehre, Stolz oder was auch immer menschliche niedere Begierden sind, sondern um die Frage nach der Wahrheit. Es geht auch nicht darum, dass einer den anderen tötet, auf den Scheiterhaufen bringt oder ähnliches, sondern es geht um einen reinen Geisteskampf mit Worten und im reinen Denken.

Wenn Herr Schär diese Ebenen durcheinanderwirft und von einem anklingenden „Verdikt der Exkommunikation“ spricht, empfinde ich das als unredlich. Der Begriff „Exkommunikation“ hat von vornherein zu tun mit einer Gemeinschaft, aus der jemand ausgeschlossen wird – und zwar mit irdischen Machtmitteln. Mieke Mosmuller hat weder eine entscheidende Stellung in einer solchen Gemeinschaft inne, aus der heraus sie jemanden ausschließen könnte oder ihr Urteil überhaupt im äußerlichen Sinne relevant wäre, noch hat sie überhaupt irgendeine Stellung inne, denn sie selbst ist ja gerade aus der Anthroposophischen Gesellschaft ausgetreten. Wenn man ihr den Vorwurf machen wollte, sie würde andere „exkommunizieren“, dann müsste man diesen Vorwurf soweit ausdehnen, dass man sagt, sie habe die ganze Anthroposophische Gesellschaft exkommuniziert. Ist das irgendwie sinnig...?

Frau Mosmuller macht in ihren Urteilen keinen Unterschied zwischen Judith von Halle, irgendeinem anderen Menschen, der Gedanken äußert, oder der Anthroposophischen Gesellschaft und ihren heutigen Erscheinungsformen insgesamt. Sie urteilt in dieser Hinsicht ohne Ansehen der Person nur auf der Grundlage dessen, was die jeweils in Frage stehenden Äußerungen sind. Und das ist eben das Kennzeichen der Wahrheitsfrage und Wahrheitssuche. Die Wahrheit findet man eben nur dann, wenn man sie mehr liebt als alles andere. Und das ist doch, was Rudolf Steiner als Weg geschildert hat, das Geistige zu finden. Es ist auch das, was von jeher Philo-Sophia bedeutete. Und es ist ins Christliche übersetzt das, was der Christus selbst sagte, als er in Gleichnissen und auch ganz direkt Menschen dazu aufrief, ihm zu folgen und alles andere zu verlassen. Der Christus, das Logos-Wesen – und die Anthroposophie als „Sprache des Christus“ und als Weg zu Ihm. Da ist es doch überhaupt die alles entscheidende Frage: was Anthroposophie ist und was nicht? Wenn es eine Frage gibt, wo man mit vollem Ernst urteilen und auch scharf urteilen muss, dann doch diese!? Und nehmen Sie dazu noch die Imaginationen des Schwertes, das aus dem Munde des weißen Reiters hervorgeht, nehmen Sie alles, was Rudolf Steiner über Michael gesagt hat, nehmen Sie seine Worte über die Wahrhaftigkeit – und überall werden Sie doch finden, dass man urteilsfähig werden soll und dann auch urteilen soll, wenn man sich überhaupt auf den Weg zum Geiste begeben will!?

Wahrhaftigkeit erleben

Nur muss man sich eben auf diesem Weg auch von allen niederen Impulsen, von Sympathie und Antipathie, von Machtstreben, von Vorurteilen und so weiter reinigen. Dass dies so wenig geschieht, führt dazu, dass überhaupt das scharfe Urteilen oder die (heilig-)leidenschaftliche Wahrheitssuche so misstrauisch angesehen, ja sogar abgewehrt wird. Man wirft hier beides durcheinander – das niedere Streiten und das echte Wahrheitsstreben – und oft genug deshalb, weil man es eben von vornherein gar nicht mehr unterscheidet. Das aber wäre wirklich der Tod der Anthroposophie. Wenn man aber diesen Unterschied machen will, dann muss man auch sehen, dass in den Büchern von Frau Mosmuller von allem zu Anfang dieses Absatzes Genannten nichts zu finden ist. Das heißt, man muss ihre tiefe Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit zur Kenntnis nehmen!

Das muss man erst einmal mit Erstaunen empfinden. Und viele Leser tun dies auch, gerade deshalb tritt ihnen ja die Diskrepanz, die Schwere ihres Urteils so nachdrücklich vor Augen. Wenn man Judith von Halles Bücher bisher geschätzt haben sollte, entsteht nach dem Lesen von Mieke Mosmullers Buch eine Erschütterung und ein Schmerz (auch Herr Schär spricht davon). Diese treten doch nur dadurch auf, dass man die Wahrhaftigkeit von Frau Mosmuller empfindet und nun aber noch nicht selbst beurteilen kann, wo die Wahrheit liegt... Man empfand die Bücher von Frau von Halle als etwas Wertvolles, man empfindet nun die Wahrhaftigkeit und die klare Argumentation von Frau Mosmuller – und man fühlt sich innerlich zerrissen, weil man das eine erkennt und sich von dem anderen doch (noch) nicht trennen kann oder will. Und vielleicht auch, weil man erkennt, dass die Menschheit noch lange nicht allgemein im „Reich der Wahrheit“ angekommen ist und der Kampf um die Wahrheit daher nun einmal noch immer notwendig ist. (Oder sollte nur Judith von Halle ihre Wahrheiten in die Welt setzen dürfen? Sie könnte ja übrigens einfach einmal versuchen, Frau Mosmuller zu widerlegen...).

Die Frage, ob das, was Judith von Halle schildert, und der Weg, wie sie zu ihren „Erkenntnissen“ kommt, etwas mit Anthroposophie zu tun hat, ist also eine ganz zentrale. Es geht zugleich um die Frage nach der Anthroposophie und nach dem Wesen des Christus überhaupt. Zu Recht sind viele Menschen erschüttert, wenn Frau von Halle zum Beispiel schildert, Christus selbst habe ein Passahlamm geschächtet! Vielleicht wird manchen Menschen eher – oder überhaupt erst – an solchen Stellen klar, dass es hier nicht um akademische Streitfragen geht, sondern um den Kern des Verständnisses und der Erkenntnis des Christus-Wesens und des Wesens der Anthroposophie. Muss ich solchen Schilderungen glauben oder kann ich selbst Urteilsgrundlagen gewinnen, um den Wahrheitsgehalt solcher Aussagen empfinden, erkennen und beurteilen zu können...? Das ist die Frage.

In Herrn Schärs Rezension konnte ich leider in keiner Weise erkennen, dass er sich inhaltlich mit den Ausführungen von Frau Mosmuller auseinandergesetzt, dass er sie konkret innerlich mit-gedacht hat. Wie kann es sonst sein, dass ihm die von ihm angeführte Stelle gleichsam als „Spitzfindigkeit“ vorkommt und ihm nicht etwa das geschächtete Passahlamm oder die vielen anderen Dinge, die Frau Mosmuller schildert, zur Frage wird? Und sind ihm etwa auch die Stellen entgangen, wo Frau Mosmuller sagt, dass sie endlos weitere Beispiele anführen könnte, wenn ihre Zeit und der Umfang des Buches nicht begrenzt wären? Wie kann man angesichts dessen überhaupt zu dem Verdacht der Spitzfindigkeit kommen!? Sollte Mieke Mosmuller etwa aufgrund ganz irrelevanter Stellen zu dem Urteil gekommen sein, Judith von Halles Schilderungen und Weg hätten mit Anthroposophie nichts zu tun? Nein, sondern weil aus ihren Schilderungen ganz klar hervorgeht, dass die Dinge viel zu sinnlich erlebt und geschildert werden (etwa, die Elohim hätten das Ätherische von Hautfetzen, Blut und Schweiß des Christus „aufgesammelt“ und damit die Folterwunden wieder „aufgefüllt“!). Frau Mosmuller weist nach, dass dies mit Anthroposophie und wirklicher Geist-Erkenntnis nichts zu tun hat. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Das andere ist folgendes.

Welche Wahrnehmung werden ernst genommen?

Ich muss an diesem Punkt zu der Frage des „gesunden Verhältnisses“ von Wahrnehmung und Denken zurückkehren. Dieses Verhältnis ist ja für die Anthroposophie auch ein ganz zentrales! Anthroposophie ist Geistesforschung, was also ist das? Das Denken muss zu einem vollkommenen Instrument der Erkenntnis geworden sein, erst dann kann man vollgültig von Geistesforschung sprechen. Aber was soll das Denken untersuchen und dann auch beurteilen? Es muss eine Wahrnehmung geben! Nun kann das Denken sich selbst beobachten und auf diese Weise erkennt und verwirklicht der Mensch sein Wesen als Erkennender. Das ist die wunderbare Großtat Rudolf Steiners und die Grundlegung der Anthroposophie. Das Denken hat aber überall auch andere Wahrnehmungen, seien sie sinnlich, seien sie innerseelisch (Gefühle, Vorstellungen, Gedanken), seien sie außerseelisch (Gefühle und Gedanken anderer). „Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode“ sind eben auch nur aufgrund von Wahrnehmungen möglich! Es gehört alles in den Bereich der Wahrnehmungen, was in der Folge mit Hilfe des Denkens gegliedert, erkannt und verstanden werden kann. Sonst würde ich mich doch ständig nur im Bereich der reinen Phantasterei bewegen und überhaupt keinen Zugang zu der Welt außer mir haben.

Wie können Sie daher sagen, Frau Mosmuller hätte kein gesundes Verhältnis zwischen Denken und Wahrnehmen? Bloß weil sie Frau von Halle nicht zweimal physisch begegnet ist, wie Herr Schär? Dass sie sich intensiv mit ihren Gedanken und Schilderungen auseinandergesetzt hat, dass sie intensive Wahrnehmungen daran hatte und die Ergebnisse dieser Wahrnehmungen dann ein ganzes Buch füllen – zählt das nicht? Meinen Sie wirklich, dass Frau Mosmuller keine Wahrnehmungen gemacht, sondern nur solipsistisch in ihrem eigenen Denken drauflos spekuliert hat? Was rechnen Sie zu Wahrnehmungen und was nicht? Könnte es sein, dass Herr Schär nur gewisse Wahrnehmungen machen konnte und ihm andere Wahrnehmungen völlig entgangen sind?

Und ich muss nicht nur darauf hinweisen, dass Frau Mosmullers Buch ganz auf Wahrnehmungen beruht, die sie am Mitvollziehen der Gedanken Judith von Halles gehabt hat (wie sie im Schlusswort klar schildert), sondern auch, dass die Wahrnehmungen in direkter Begegnung mit einem Menschen im Kern nichts anderes sind (wenn sie für die Wahrheitsfrage genauso wesentlich sein sollen) – und schließlich auch, dass solche Wahrnehmungen in direkter Begegnung ebenfalls immer von Gedanken durchdrungen bzw. durchmischt sind. Was ich damit sagen will, ist, dass Herr Schär natürlich alle möglichen Gedankenurteile in seine Wahrnehmungen hineinträgt, die die letztliche „Wahrnehmung“, d.h. das Wahrnehmungsurteil prägen – erst Recht im Rückblick. (Von anderen Menschen, die Judith von Halle wie Herr Schär in direkt-physischer Begegnung in Vorträgen wahrgenommen haben und aufgrund dieser Wahrnehmung zu ganz ähnlichen Urteilen wie Frau Mosmuller kommen, will ich jetzt gar nicht sprechen).

Herr Schär hat nun das Buch von Frau Mosmuller gelesen und weist darauf hin, dass Frau von Halle doch in ihrem Vortrag sehr sachlich war, auch auseinanderhielt, was von ihr und was von Rudolf Steiner stamme und so weiter – also „ganz anders“ als Frau Mosmuller es angeblich schildert. Auf diese Weise entsteht aus einem zweimaligen Eindruck der Person Judith von Halles das Urteil, dass Frau Mosmuller sich offenbar gar nicht mit der realen Judith von Halle auseinandersetzt, sondern mit einem Vorstellungsbild... Dabei ist das gar nicht der Punkt. Ein Vorwurf von Mieke Mosmuller war, dass Judith von Halle Rudolf Steiner zur Unterstützung von etwas heranzieht, was mit Anthroposophie nichts zu tun hat. Dabei weist Frau Mosmuller nach, dass Frau von Halle diese Zitate mehrfach verkürzt und sinnentstellt verwendet, teilweise auch schlichtweg falsch.

Worum es eigentlich geht

Natürlich stellt Judith von Halle auch in ihren Büchern nicht grob Erkenntnisse Rudolf Steiners als ihre eigenen dar – darum geht es gar nicht. Es geht um die Tatsache, dass Frau von Halle überhaupt einen Zusammenhang herstellt zwischen der Geistesforschung und ihren eigenen viel zu sinnlichen Schauungen und Schilderungen, zu denen neben vielem anderem wie erwähnt das Ätherische von Hautfetzen und das angebliche Schächten eines Lammes durch Christus gehört. Mieke Mosmuller beschreibt, wie diese Schilderungen nicht nur nichts mit Geistesforschung zu tun haben, sondern wie sie die Meditation geradezu zerstören und jedes wahrhaft geistige Erlebnis des Christuswesens verhindern. Wer diese Dinge nicht ernst nimmt und statt dessen Einzelheiten herausgreift und Mieke Mosmuller vorwirft, sie halte sich an solchen Einzelheiten auf, der verdreht die Sache vollkommen und erkennt das Wesentliche einfach nicht!

Daher kann ich am Ende nur den prägnanten Absatz wiederholen, der sich im Buch von Frau Mosmuller findet:

„All diesen sinnlichen Wahrnehmungen von Judith von Halle entspricht ein völlig sinnlichkeits-beladenes Denken  bzw. ein Denken, das dort, wo es sich um ‚anthroposophische Interpretationen‘ dieser viel zu sinnlichen Wahrnehmungen bemüht, stets wieder in die Irre geht und zu falschen Behauptungen kommt. Deshalb haben die Wahrnehmungen für jedwede geistige oder sonstwie christliche Entwicklung keinerlei Wert und verhindern diese Entwicklung aus den immer wieder beschriebenen Gründen geradezu, indem sie sowohl die wahren geistigen Tatsachen verdrehen, als auch verhindern, sich dem geistigen Wesen des Christus wirklich zu nähern und darüber hinaus verhindern, den Christus überhaupt dort zu suchen und zu finden, wo er heute von jedem gesucht werden will und zu finden ist.“